Kuller, Christiane, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949-1975 (= Studien zur Zeitgeschichte 67). Oldenbourg, München 2004. VI, 393 S.

 

Die Familienpolitik bildet zunehmend einen wichtigen gesellschafts- und sozialpolitischen Themenbereich, der aufgrund seiner dezentralen Organisation der sozialstaatlichen Unitarisierungstendenz entgegenwirkt (vgl. S. 346). Dies führt nicht unerheblich zu der Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit, welche die Familienpolitik bis heute kennzeichnen. Im Mittelpunkt der Untersuchungen Christiane Kullers steht die Entwicklung der westdeutschen Familienpolitik mit der Erweiterung des familienpolitischen Handlungsfeldes in den 60er und frühen 70er Jahren. Die Verfasserin geht dabei erstmals der Frage nach, wie unter besonderer Berücksichtigung Bayerns die föderativen Konfliktlinien verliefen und wie diese sich im Verlauf der 60er Jahre veränderten. Sie kann zeigen, dass die föderative Ordnung bestimmte Prämissen vorgab: Kompetenzverteilung, Finanzordnung und institutionelle Ordnung zwischen Bund und Ländern. Die Verfasserin hat sich mit Recht auf drei Problembereiche beschränkt, die „typische föderative Interaktionsformen im Bereich der Familienpolitik“ (S. 25) aufgreifen: die Entwicklung des Familienlastenausgleichs als Projekt der Bundespolitik, auf das die Länder über den Bundesrat Einfluss nehmen konnten, der Aufschwung der Familienbildungs- und –beratungsstätten, die als Bildungseinrichtungen der Kulturhoheit der Länder unterstanden, und die Entstehung des bayerischen Kindergartengesetzes von 1972 als Fallbeispiel für die familienpolitische Eigeninitiative eines Landes. Zunächst untersucht die Verfasserin detaillierter, als dies in vergleichbaren Arbeiten geschehen ist (vgl. u. a. D. Nelleßen-Strauch, Der Kampf um das Kindergeld. Grundanschauungen, Konzeption und Gesetzgebung 1959-1963, Düsseldorf 2003), die Veränderungen der Familienstruktur (insbesondere auch die Erwerbstätigkeit der Mütter). Anschließend behandelt die Verfasserin die familienpolitischen Regierungsstellen im Bund und in Bayern sowie die Arbeiten der (wissenschaftlichen) Beiräte des Familienministeriums sowie das Zustandekommen der Familienberichte von 1968 und 1974. Das 3. Kapitel befasst sich mit der Entwicklung des Familienlastenausgleichs (Kindergeld) als traditionellem Kernbereich staatlicher Familienpolitik. Die Verfasserin bezieht dabei auch den Zeitraum von 1964 bis 1974 mit ein und vermag auf diese Weise die Entwicklung schärfer zu erfassen als Nelleßen-Strauch. Die außerordentlich komplexe Entstehungsgeschichte des Kindergeldgesetzes von 1974 (Abschied vom schichtinternen, d. h. durch Steuerfreibeträge vermittelten Familienausgleich zugunsten eines staatlichen Kindergeldes) wird anhand der einschlägigen archivalischen Quellen detailliert beschrieben und in diesem Zusammenhang der Wandel vom christlich-transzendentalen Familienbild der katholischen Soziallehre zu einem partnerschaftlich-funktionalen Familienbild herausgearbeitet. Am bayerischen Kindergartengesetz von 1972 stellt die Verfasserin heraus, dass Bayern als einziges Bundesland die Kindergartenfrage nicht in einem Ausführungsgesetz zum Jugendwohlfahrtsgesetz, sondern als eigenständiges bildungspolitisches Landesgesetz regelte, das verfahrensrechtlich nur im schulischen, bildungspolitischen Bereich erlassen werden konnte: „Inhaltlich legte das Gesetz jedoch gerade Regelungen gegen eine Verschulung des Kindergartensektors fest. Durch den Schachzug eines Landesgesetzes erweiterte das bayerische Kindergartengesetz den Kompetenzbereich Bayerns um den wichtigen Sektor der vorschulischen Erziehung“ (S. 339). Das Gesetz bezweckte, die Verstaatlichungsbestrebungen der Bundesregierung und der familienpolitischen Bund-Länder-Kommission „quasi mit deren eigenen Mitteln auszumanövrieren“ (S. 339). Im dritten Untersuchungsbereich (Familienbildung und ‑beratung ging es weniger um rechtliche Entwicklungen als um neue politische Handlungsfelder, die das Bundesfamilienministerium nicht an sich binden konnte, sondern weitgehend den Ländern überlassen musste, die wie Bayern eigene Konzepte etwa in der Schwangerenkonfliktberatung entwickelten.

 

Das Werk Kullers ist umfassender angelegt als die bisherigen Arbeiten zur Familienpolitik der frühen Bundesrepublik, so dass es auch dem Rechtshistoriker neue Perspektiven für dieses Handlungsfeld eröffnet. Über die Entstehungsgeschichte der Kindergeldgesetze und des bayerischen Kindergartengesetzes hinaus ist das Werk auch wichtig für die Geschichte des Verhältnisses von Bund und Ländern in der frühen und mittleren Bundesrepublik sowie für die Entwicklung der Beiräte allgemein und für deren gesellschaftspolitisch relevanten „Berichte“. Für die Themenbereiche „Kindergarten“ und „Familienberatung“ vermisst der Leser detailliertere Hinweise auf die Entwicklung in den anderen Bundesländern. Ferner fehlt ein Blick auf die Zeit vor 1945. Wenn auch die bundesdeutsche Familienpolitik gegenüber der natalistischen und rassistischen Bevölkerungspolitik der NS-Zeit einen Neuanfang bedeutete, so lässt sich kaum verkennen, dass ungeachtet ihrer starken ideologischen Prägung unter dem Nationalsozialismus die Familienpolitik eine Epochen übergreifende Thematik darstellt, deren Anfänge für Deutschland sich bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs und für Frankreich bereits auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Insgesamt schließt das Werk Kullers ein – auch rechtsvergleichend gesehen – zunehmend wichtiger gewordenes Handlungsfeld des Gesetzgebers, das bisher kaum in das Blickfeld der neuesten Rechtsgeschichte gekommen ist.

 

Kiel

Werner Schubert