Kittstein, Lothar, Politik im Zeitalter der Revolution. Untersuchungen zur preußischen Staatlichkeit 1792-1807. Steiner, Stuttgart 2003. 692 S.

 

Das Werk stellt die Grundlagen der neueren Forschung, Ziel der preußischen Reformen von 1806/07 sei die „partizipierende Staatsbürgergesellschaft“ gewesen (S. 610), in Frage. Die Dynamik des Reformdenkens sei mit dem Gegensatz „Liberalität/Absolutismus“ nicht fassbar, da „es ursprünglich die Aufhebung des darin liegenden Gegensatzes von Staat und Gesellschaft in einer perfekt handlungsfähigen Einheit wollte“ (S. 617). „Unabhängige Repräsentation“ sei dem Reformdenken „zutiefst fremd“ gewesen: „Der Unterschied zwischen vermeintlich ,liberalem’ Beginn der Reform – indem die Gestalt des Freiherrn vom Stein neuerdings fast nur als Relikt erscheint, das selbst seine Verteidiger irritiert – und ,konservative Wende’ ist falscher Schein“ (S. 619). „Die Reformbewegung“, so Kittstein zum Schluss seiner Monographie, „konnte keine fortschrittliche Dynamik entfalten, weil sie in ihrer antifranzösischen, romantischen Progressivität selbst reaktionär war“ (S. 621). Die primär diplomatiegeschichtlich orientierte Arbeit schildert die Aktivitäten des Kabinettsministeriums und des preußischen diplomatischen Personals. Dieser relativ geschlossene Personenkreis begriff sich als Teil einer „europaweiten, homogenen Elite“, welche die Veränderungstendenzen der Außenpolitik und weitere Lebensbereiche sensibel wahrnahm“ (S. 21). Kittstein sieht die preußische Politik zwischen 1792 und 1807 „als Ausdruck einer Krise des Staatsverständnisses der politischen Elite“ (S. 21), deren wenig kraftvolles Handeln vor allem von Revolutionsfurcht bestimmt worden sei. Die Reformer wandten sich gegen die zentrale Stellung des Kabinetts, auf deren Mitarbeiter sie die außenpolitische Schwäche Preußens projizierten. Antifranzösische und antibürgerliche Ressentiments sowie „politische Angst“ seien, so Kittstein, die Antriebskräfte der Reformer um Stein und Hardenberg gewesen. Der Verfasser deutet das Reformdenken als „Ausbruch“ eines „romantischen Irrationalismus“, dem Partizipation als bewusster oder unbewusster Zielpunkt fremd gewesen sei: „Nicht Öffnung in die Gesellschaft war das Ziel der reformerischen Kritik, sondern eine moralische Wesensveränderung in ihrem Inneren, ein Zustand, in dem Handlungen nicht mehr systematisch, von ihrem Ergebnis her, sondern dezisionistisch, nach dem Grad ihrer ,Kraft’ beurteilt wurden“ (S. 631). Insoweit kann man von einer „romantischen Radikalisierung des politischen Denkens“, von einer „militaristischen Romantisierung“ der Politik sprechen (S. 599), für die ein nationalistisches Freund-/Feind-Denken kennzeichnend war. Konsequent ist es nach Kittstein, angesichts der fehlenden Partizipationsteleologie, von einem „Scheitern“ der Reformen zu sprechen. Mit Recht weist der Verfasser darauf hin, dass sich romantisches Denken und Wirtschaftsliberalismus nicht ausschließen: „Die romantische Emphase mit ihrer paradoxen Kombination von Freiheitsbedürfnis und Sehnsucht nach Verschmelzung war für eine von ökonomischen Umbruchsprozessen, von der Sorge um staatliche Schwäche und von weithin ungeklärtem nationalen Identifikationsgefühl zugleich unter Druck gesetzte politische Elite geradezu ein ideologischer Maßanzug, in dem die konservative Revolution auf den Weg gebracht werden konnte, der Preußen ins ,bürgerliche’ 19. Jahrhundert führte“ (S. 620f.). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personenverzeichnis S. 685ff., bei dem leider die Vornamen und Lebensdaten der Akteure sowie Hinweise auf weiterführende biographische Daten fehlen. Im übrigen sei darauf hingewiesen, dass das Werk eine genaue Kenntnis der preußischen Geschichte zwischen 1792 und 1807 voraussetzt, was die Lektüre mitunter beeinträchtigt.

 

Es ist hier nicht der Ort für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den vornehmlich aus der Diplomatiegeschichte Preußens hergeleiteten Thesen des Verfassers. Für die preußische und deutsche Rechtsgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Ergebnisse, zu denen Kittstein gekommen ist, von größter Bedeutung, da – falls sie zutreffen – die bisherigen Deutungen der preußischen Reformpolitik von 1807-1820 neu durchdacht werden müssten. Hierzu gehört vor allem eine neuerliche Analyse des Verfassungsversprechens von 1815 (preuß. Gesetz-Sammlung 1815, S. 103) sowie der zahlreichen Briefe, Berichte und Denkschriften der Reformer von 1806/07, welch letztere Kittstein als „häufig banal“ kennzeichnet. Es spricht vieles dafür, dass sich die preußische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts gradliniger und schlüssiger darstellen ließe, wenn man auf eine kaum nachweisbare „Partizipationsteleologie“ verzichtet. Dies dürfte auch Rückwirkungen auf die bis heute umstrittene Deutung des Allgemeinen Landrechts von 1794 (hierzu S. 171ff.) haben. Kittstein begreift dieses Gesetzeswerk als „defensive Modernisierung“ der Juristen, „eine Modernisierung durch Systematisierung, die weniger aus ,Aufgeklärtheit’, denn aus dem Gefühl staatlicher Schwäche durch verbindliche Klassifizierung die gesellschaftliche Dynamik zu kanalisieren sucht und dabei auf die deklarative Kraft der imposant-vernünftigen Kodifizierung vertraut“ (S. 171f.). Alles in allem sollte das Werk von Kittstein Anlass sein, auch die bisherigen Grundannahmen der preußisch-deutschen Rechtsgeschichte für das 19. Jahrhundert zu überprüfen.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert