Kertelhein, Arne, Alltag und Kriminalität. Die Brücheregister des Dithmarscher Mitteldrittels 1560-1581 (= Rostocker Studien zur Regionalgeschichte 7). Ingo Koch Verlag, Rostock 2003. 335 S. 11131

 

Der weite Obertitel hat seine Berechtigung: Da die Untersuchung über 16.000 Einzelfälle des Brücheregisters eines Dithmarscher Gebietes aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auswertet, ergibt sich ein heterogenes Bild: Neben Kriminalität und zivilrechtliche Streitigkeiten treten, wie wir modern sagen würden, Gebühren für bestimmte öffentliche Verfahren sowie Ordnungswidrigkeiten. Die untersuchten Quellen sind in erster Linie Landesrechnungen, in denen genannt werden die an den Rechtsstreitigkeiten beteiligten Personen, der Grund der Eintragung und die Höhe des zu entrichtenden Geldbetrages. In erster Linie geht es dem Verfasser um eine statistische Erfassung des Materials, wobei die Erforschung der Kriminalität im Vordergrund steht. Andere Quellen, in denen etwa die Verhängung von Leibes- oder Ehrenstrafen enthalten wären, werden nicht erfasst, wobei des Verfassers Schlußfolgerung, dass sie tatsächlich nicht vorkamen, nicht ganz sicher ist.

 

In einem kurzen ersten Teil wird das Territorium (das Dithmarscher „Mitteldrittel“) beschrieben, das etwa acht Kirchspiele in Holstein umfasste, von etwa 12.000 Menschen bewohnt wurde und traditionell ein wohlhabendes, bäuerlich geprägtes Land war; bis Mitte des 16. Jahrhunderts war es unabhängig, im Untersuchungszeitraum wurde es vom Erzherzog Johann beherrscht. Als Rechtsgrundlage der Rechtsprechung, die von den Mitgliedern der adligen Führungsschicht ausgeübt wurde, fungierte damals das Dithmarscher Landrecht von 1447, das 1559 reformiert wurde und subsidiär ausdrücklich das Sachsenrecht sowie das gemeine Recht für anwendbar erklärte. Für die Verfahren konstatiert der Verfasser in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits einen hohen Grad an Schriftlichkeit, so dass der Landschreiber zur zentralen Figur der Prozesse wurde. Die Verfahren hätten bereits ein relativ rationales Beweisverfahren gekannt, denn die Bestimmungen über die Eideshilfe seien bereits 1538 aufgehoben worden. Gerichtssitzungen hätten meist zwei oder drei Tage gedauert und an 16 Terminen im Jahr stattgefunden.

 

Von der Gesamtkriminalität machten im Dithmarschen die Körperverletzungen fast 60 % aus, wobei der überwiegende Teil auf „Schlagen, Stechen und Verletzen“ zurückzuführen ist. Auch 33 Totschläge finden sich (= 1 %), wobei aber die Register nicht alle erfasst haben dürften. Interessant ist, dass die zu zahlenden Bußen in diesem Bereich gewaltig differierten: Während ein mittelloser Täter für die Tötung seiner Ehefrau nur 124 Schillinge zu zahlen hatte, musste ein Vermögender das 500fache davon bezahlen, was etwa einer Herde von 300 Kühen entsprach. Diese Privilegierung der ärmeren Täter dürfte der zeitgenössischen Praxis in anderen Gebieten eindeutig widersprochen haben. Nur 10 % der Gewalttaten werden von weiblichen Opfern angezeigt, dies eine Tatsache, die den Ergebnissen von Untersuchungen anderer Territorien entspricht. Dass auch für Schäden von Tieren gehaftet wurde, ist ein Indiz dafür, dass Straf- und Zivilrecht noch nicht getrennt wurden – ganz dem mittelalterlichen Recht entsprechend. Die zweitgrößte Gruppe sind mit etwas über 20 % die Ehrverletzungen, meist Beschimpfungen und Beleidigungen, bei denen der Frauenanteil mit 15 % etwa doppelt so hoch wie bei den Gewalttaten ist. Nur knapp 10 % der Kriminalfälle entfallen auf die sogenannten Eigentumsdelikte, die häufig in Sachbeschädigungen und unbefugter Gebrauchsanmaßung bestanden und meist einen landwirtschaftlichen Bezug hatten, wenn z. B. fremdes Land widerrechtlich genutzt wurde. Der Frauenanteil war mit 6% sehr niedrig. Für Sittlichkeitsdelikte, an denen der außereheliche Geschlechtsverkehr den größten Anteil hatte, wurden im Durchschnitt die höchsten Strafsummen verhängt. In diesem Bereich sowie bei den Verfahrensverletzungen wurde häufig von Amts wegen eingeschritten, was der Verfasser als eine Tendenz zur frühen neuzeitlichen Disziplinierung der Bevölkerung deutet. Da die Strafgelder für den Landesherrn eine nicht unerhebliche Einkommensquelle gebildet hätten (etwa 1/3 der Einnahmen), sei die Intensivierung der Strafverfolgung auch aus finanziellen Erwägungen abzuleiten; das mag sein, in erster Linie dürfte aber der Versuch der Durchsetzung des staatlichen Strafmonopols im Vordergrund gestanden haben.

 

Unter den Wirtschaftsvergehen ist die größte Gruppe der Gebrauch falscher Maße, was deshalb eine eigene Deliktskategorie bildete, weil damals der Begriff des Betruges noch nicht existierte. Kirchendelikte gab es insgesamt 147 Fälle; bei ihnen ging der Vorwurf meist dahin, dass der Täter im Wirtshaus statt in der Kirche saß, was im Dithmarscher Landrecht nicht mit Strafe bedroht war, so dass diese Taten nach Kirchenrecht geahndet wurden.

 

Insgesamt ist auffallend, dass die Strafen häufig niedriger ausfallen als im Gesetzbuch vorgesehen. Dies stimmt mit der auch in anderen Gegenden gemachten Beobachtung überein, wonach in der frühen Neuzeit die Strafzumessung recht flexibel und nicht streng nach dem Maßstab des Gesetzes gehandhabt wurde. Neben der Rücksichtnahme auf eine geringere Schuld im Einzelfall spielte in Dithmarschen auch, wie gesagt, die Armut des Täters bei der Strafzumessung eine Rolle. Auffallend für das hier untersuchte Gebiet ist jedenfalls, dass auch relativ schwere Vergehen „nur“ mit Geldzahlungen geahndet wurden. Lediglich bei Wiederholungstätern kam es zu drastischen Strafen. Die größte Gruppe der Einträge betrifft nicht die Kriminalität, sondern Vermögensstreitigkeiten privatrechtlicher Art, die der Verfasser unter der Rubrik „Pfand- und Kreditsachen“ behandelt. Auch hier beträgt der Frauenanteil an den Klägern lediglich 6 %. Hinsicht der sozialen Schichtung fällt auf, dass auch die gesellschaftlich niedriger gestellten Mägde und Knechte häufig als Kläger agierten und dass auch die Oberschicht sich nicht selten vor Gericht verantworten musste. In seinem Resümee stellt der Verfasser fest, dass die Ergebnisse eher Gemeinsamkeiten aufweisen zu skandinavischen Städten als zu ländlichen Territorien in Deutschland, die unter fürstlicher Herrschaft standen. Erklärt wird dies mit der stärker genossenschaftlichen Sozialstruktur des von ihm untersuchten Gebiets.

 

In einem Anhang sind die Stichworte der Eintragungen alphabetisch aufgelistet und das statistisch erfaßte Material in insgesamt 84 Tabellen erfasst, die sowohl die verschiedenen Tatbestände als auch ihre Verteilung nach Zeit, Geschlecht der Täter und in bezug auf die einzelnen Kirchspiele dokumentieren, so dass der Leser in die Lage versetzt wird, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

 

Insgesamt wirft die Untersuchung ein interessantes Bild auf die Behandlung abweichenden Verhaltens in einer ländlichen Region während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und bietet überdies einen Beitrag zur Alltagsgeschichte dieser Zeit.

 

 

Mainz                                                                                                            Andreas Roth