Kajtár, István, A 19. századi magyar állam- és jogrendszer alapjai. Európa – haladás – Magyarország (Die Grundlagen des modernen ungarischen Verfassungs- und Rechtssystems des 19. Jahrhunderts. Europa – Fortschritt – Ungarn) (= Institutiones Juris Dialog Campus Szakkönyvek). Dialog Campus Verlag, Pécs 2003, 294 S.

 

Der Dualismus von Tradition und bürgerlicher Umgestaltung ist der Leitgedanke des neuen Werkes von István Kajtár, in dem er die ungarischeVerfassungs- und Rechtsentwicklung im langen 19. Jahrhundert analysiert. Es handelt sich um ein neuartiges Werk der ungarischen rechtshistoriographischen Literatur, wobei die ungarischen Entwicklungstendenzen im europäischen Kontext aufgezeichnet und die Reflexion der Etappen der westeuropäischen gesellschaftlichen und politischen Modernisierung in den ungarischen Debatten des Vormärz dargestellt werden.

 

Kajtár hat dabei die bisher in der ungarischen Rechtsgeschichtsschreibung dominierende positivistisch-dogmatische Methodik überwunden – die Rechtsinstitute der ungarischen Verfassung werden hier in ihrem historischen Kontext geschildert. So bekommt der Leser zum Anfang ein adäquates Bild über das ständische Ungarn, dessen Verfassungssystem auf einer ungeschriebenen – also historischen – Verfassung beruhte. Dadurch wird deutlich, daß die Überwindung der taxativen Auflistung von Ämtern und Zuständigkeiten in der ungarischen Rechtshistoriographie neue Bahnen öffnen kann. Anstelle der Paraphrase von Gesetzestexten entsteht Raum für eine funktionsbezogene historische Analyse. Man erfährt dabei, daß die eigentlich meinungsbildenden Institutionen im ungarischen Vormärz die kleineren Kreisversammlungen der ungarischen Ständeversammlung waren und die Komitate der Komitate Pest sowie Zemplén dabei eine führende Rolle einnahmen. Das letztere war der Schauplatz, wo Lajos Kossuth, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte im 19. Jahrhundert, seine politische Tätigkeit begann (S. 31).

 

Der Autor verwendet bei seiner Rechtshistoriographie Methoden der interdisziplinären Forschung; beispielsweise werden die Bedeutung allgemein bekannter Begriffe wie „Konservativismus“, „Liberalismus“ oder „Gleichheit vor dem Gesetz“ mit Zitaten aus den oppositionellen Argumentationen der Landtagsdebatten auf das ungarische politische Leben des Vormärz zurückbezogen. Die Begriffe werden dabei historisch-etymologisch erklärt und ihre Bedeutung mit treffenden Beispielen erläutert (S. 41-45). Durch Zitate aus den Argumentationen führender liberaler Reformpolitiker zeigt der Autor die Diskussion um den Dualismus von Reform und Tradition: die nationale Sprache als Amtsprache, die Abschaffung des Kirchenzehnten, die Deklaration der Gleichheit vor dem Gesetz, insbesondere durch die Zuerkennung der Rechtsfähigkeit für Leibeigene, und die Meinungsfreiheit.

 

Kajtárs Methodik umfaßt sogar die Imagologie und den historischen Vergleich (S. 46). Er geht kurz auf die Verbindungen ein, die zwischen Ungarn und Westeuropa existierten, und zeigt die Wege des juristischen Wissenstransfers aus Westeuropa. Im Zusammenhang mit der politischen Kultur schildert er die Laufbahnen von Adeligen, der einerseits in der Komitatsverwaltung und bei den Landtagen sozialisiert wurden, andererseits durch die Kavalierstouren und durch ihre Lektüre geprägt wurden. Bei dem letzteren Punkt sollte man aber auch die Zensur miteinbeziehen, denn die meinungsbildende Literatur konnte Ungarn in der Epoche der Verwaltung unter Metternich nur zensiert erreichen. Beispielsweise ist zur Lektüre der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ anzumerken, daß diese Zeitung als einzige Tageszeitung nicht das Opfer von Blattsperren aus Deutschland geworden war. Daß die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ die Grenzen des Habsburgerreiches passieren konnte, ist auf den habsburgerfreundlichen Kurs der Redaktion und der bayerischen Presseaufsicht zurückzuführen.[1]

 

In einem eigenen Kapitel stellt der Autor die europäischen Modelle der bürgerlichen Umgestaltung anhand der einzelen Länder vor. Dabei wird einerseits die politische Entwicklung in Europa systematisch präsentiert, andererseits wird die Rechtsentwicklung unter dem Blickwinkel der Kodifikation aufgezeichnet. Kajtár liefert dabei eine kompakte Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte der europäischen privatrechtlichen Kodifikationen.

 

Als Pendant zu den europäischen Modellen zeigt der Autor dann die Etappen der ungarischen Entwicklung, beginnend mit den voluntaristischen Modernisationsversuchen Josephs II. Die Auswirkungen der französischen Revolution, die darauffolgende Restauration sowie der ungarische Vormärz sind weitere wichtige Stationen des ungarischen Weges der Modernisierung. Der wesentliche Durchbruch geschah aber, wie Kajtár konstatiert (S. 81), erst 1848/49 und begann im Frühjahr 1848 mit einem verfassungsmäßigen Rahmen: das ständische Verfassungs- und Rechtssystem wurde beseitigt und die Struktur eines bürgerlichen Staates aufgebaut. Die ständische Monarchie als Staatsform wurde durch die konstitutionelle Monarchie ersetzt, wobei Kajtár die politischen Errungenschaften der Märzrevolution bzw. der Aprilgesetze ausführlich analysiert. Er geht zudem auch auf die Lajos Kossuth ein, der nach der Entthronisierung des Hauses Habsburg in den letzten Monaten des Freiheitskampfes das Amt des Staatsoberhauptes innehatte.

 

Nach der Niederlage des ungarischen Freiheitskampfes erfolgte die bürgerliche Umgestaltung des ungarischen Rechtssystemes im System des Neoabsolutismus, als im Mai 1853 die österreichischen Normen – so auch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch – Geltungskraft erlangten. Die oktroyierte Rechtsordnung wurde dann bei der Annäherung der österreichischen und ungarischen Politik von der Judexcurialkonferenz wieder abgeschafft, doch konnte man nicht ohne weiteres das ständische Rechtssystem wieder einführen.

 

Sehr treffend ist die Ansicht Kajtárs über das Zeitalter des Dualismus, das anfangs den bürgerlichen Staat mit Gewaltentrennung, Strafgesetzbuch, Gerichtsverfassung und munizipaler Verwaltung verwirklichte, doch konnte die Modernisation bis zum Ende der Epoche nicht vollendet werden. Es fehlten die Träger der bürgerlichen Reformen, denn in Ungarn verfestigte sich eine nationalistische Richtung. Die traditionellen Gruppen der ungarischen Gesellschaft dominierten und beeinträchtigten die Modernisation. Selbst bürgerliche Unternehmer versuchten, in die Reihen des Hochadels aufgenommen zu werden; die historische Symbolik, Titel und Anreden bezeugen diesen anachronistischen Zug Ungarns (S. 105). Die zwiespältige Modernisation im Dualismus endete daher in der Kriegsvorbereitung, die Garantien eines liberalen Staates wurden eingeschränkt und die Befugnisse der Regierung auf die Kosten der munizipalen Selbstverwaltung erweitert. Kajtár wendet dabei seine Thesen von der ungarischen Variante des Modernisierungsprozesses auf konkrete Themen an und schildert die Reform der munizipalen Verwaltung in Zusammenhang mit den europäischen Modellen sowie den Ausbau der Staatsanwaltschaft im Zeitalter des Neoabsolutismus.

 

Die Rechtsentwicklung analysiert der Autor allerdings getrennt von der politischen Struktur und geht bei der Rolle des österreichischen Rechts sogar bis zum 17. Jahrhundert zurück. Kajtár beginnt daher bei der Geltung des österreichischen Strafgesetzbuches, der „Praxis Criminalis“, und kommt über Modernisierungsversuche Josephs II. zur oktroyierten Rechtsordnung nach 1849. Souverän ist die Schilderung des ungarischen Rechts anhand seiner traditionellen Elemente, wobei die traditionelle Gemeinschaft und das juristische kulturelle Erbe hervorgehoben werden.

 

Im letzten Teil beschäftigt sich Kajtár mit dem Aufbau der dualistischen Monarchie und nimmt die einzelnen Organe des Staates unter die Lupe. Einige interessante Aspekte erweitern die aus der Lehrbuchliteratur bekannte Institutionengeschichte – so z. B. die Vergleiche der Parlamentsarchitektur mit Gebäuden anderer europäischer Nationalversammlungen. Zusätzlich liefert Kajtár auch einen Kommentar der zeitgenössischen Gesetze, wie auch die Gerichtsverfassung auch durch Gesetzespassagen dargestellt wird. Abschließend werden die Garantien liberaler Freiheiten als Berechtigungen eines Staatsbürgers erläutert.

 

Die Arbeit Kajtárs ist mit einem reichen Fußnotenapparat zur aktuellen Literatur ausgestattet. Seine Recherchen beruhen auf Archivbeständen. Zusätzlich stützt er seine Thesen mit Zitaten aus der zeitgenössischen Literatur. Ein Personen- und Sachregister ermöglicht die Suche nach konkreten Fragen. Dieses Werk bedeutet einen wichtigen Schritt in der Historiographie der neuzeitlichen ungarischen Verfassung- und Rechtsgeschichte und kann auch als Handbuch sehr gut verwendet werden. Es ist zu wünschen, daß die Thesen Kajtárs auch für nicht-ungarischsprachige Leser zugänglich werden.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Katalin Gönczi



[1] Breil, Michaela, Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ und die Pressepolitik Bayerns. Ein Verlagsunternehmen zwischen 1815 und 1848, Tübingen 1996, S. 179 und 197.