Kaiser, Reinhold, Die Burgunder (= Urban Taschenbuch 586). Kohlhammer, Stuttgart 2004. 284 S., 20 Kart. im Text.

 

Unter den Völkern der Wanderzeit sind die Burgunder das vielleicht merkwürdigste als historische Erscheinung. Vergleiche drängen sich auf: Franken, Alemannen, Bayern und Sachsen mögen hergekommen sein wo es auch mag, sie sind sesshaft geworden in den Räumen zwischen Alpen und Nordsee. Die Vandalen durchzogen Westeuropa, um in Nordafrika zu enden, die Westgoten sind vergleichbar in kleineren Dimensionen ihrer Bewegungen im heutigen Frankreich und auf der Iberischen Halbinsel, die Ostgoten ließen sich in Italien nieder. Von den Burgundern, die aus dem Osten kamen und römische foederati wurden, wurde schon bald, dann im Früh- und Hochmittelalter manches berichtet, doch wie sie als ethnische Einheit endeten, ist nicht deutlich zu erkennen. Mit ihnen als Stamm, Volk, Ethnos, die Versuche einer Begriffsfixierung lassen schon auf ihre Weise Schwierigkeiten erahnen, beschäftigt sich Reinhold Kaiser. Das ist für ihn als Mediaevist an der Universität Zürich naheliegend, gehört seine Wirkungsstätte doch zu den Gegenden, in denen wenigstens zeitweise Burgunder nachweisbar wurden. In die Forschung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt Kaiser ein und verbindet die Historiographie mit der ideengeschichtlichen Entwicklung, die in Deutschland zeitweise beeinflusst wurde durch eine gelegentlich hybride Germanophilie. Zusammenfassungen der Geschichte dieses Volkes gibt es viele, hier genannt seien im Handbuch der Schweizer Geschichte der Beitrag von Hans Conrad Peyer, im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte der von Karl Heinrich Allmendinger (knapp), schließlich von Reinhold Kaiser selbst im Lexikon des Mittelalters und von Gerhard Köbler in dessen Historischem Lexikon der deutschen Länder. Als wegweisende Autoren jüngerer Zeit seien genannt Reinhard Wenskus, Eugen Ewig, Heinrich Büttner, Dietrich Hoffmann und Herwig Wolfram. Das Forschungsumfeld in Deutschland und Frankreich deutet der differenzierte Schrifttumsnachweis im Anhang (S. 243-264) an. Man möchte also meinen, die Geschichte jenes Volkes sei hinreichend oft behandelt. Dennoch bringt dies Buch eigene Werte der Forschung ein, sei es in der Diskussion geschichtswissenschaftlicher Abläufe und Kontroversen, sei es als Beitrag zu einem der schwierigsten Arbeitsfelder über die Epoche unseres frühesten Mittelalters.

 

Der Übergang über den Rhein schien für die Burgunder das Ende ihrer Wanderzeit gebracht zu haben als Föderaten der Römer in und um die Stadt Worms angesiedelt zur Reichsverteidigung. Dies ist in Verbindung zu sehen mit der Überquerung des Stromes in der Neujahrsnacht 406. Kaiser referiert die Kontroversen, die sich ergaben, weil man zeitweise eine Ansiedlung am Niederrhein unterstellte. Er festigt die auf Worms bezügliche Kette der Forschung. Unterstützt wird er zudem durch Befunde der Archäologie, die Mechtild Schulze-Dörrlamm, jüngst Hermann Ament und Jürgen Oldenstein, letzterer insbesondere durch die Ausgrabungen des Kastells Alzey, veröffentlichten. Dazu zählen Erkenntnisse über den Mainzer Dukat zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Im Kampf des Aetius mit den Hunnen erlitten die Burgunder 436 eine Niederlage gemeinsam mit anderen Kontingenten der römischen Grenzverteidigung. Das wurde wohl eine der Voraussetzungen für die Umsiedlung der Burgunder in die Sapaudia im Jahre 443.

 

Dem rheinischen Aufenthalt der Burgunder, immerhin zwei bis drei Generationen lang, widmet der Verfasser nur einen kleineren Umfang der Untersuchungen in Anbetracht der besonderen Brüchigkeit der Quellenüberlieferung. Aufmerksam macht er auf die Namenserklärung, die wahrscheinlich auf Orosius zurückgeht, dass man das Volk in Verbindung brachte mit seiner Ansiedlung zuvor in den burgi des Limes (S. 22 und 29). Nicht von der Hand zu weisen ist auch, dass im rechtsrheinischen Vorfeld von Worms verbliebene Teile des Volkes in der Schlacht auf den katalaunischen Feldern 451 zu Attilas Truppen gehörten. Wie jenes große Geschehen und der letztlich doch nur vorübergehende Aufenthalt am Rhein zur Traditionsbildung anregten, die im Hochmittelalter verstärkt wurde in der Verbindung mit dem fränkischen Siegfried-Brunhilden-Stoff im Nibelungenlied, nach der Wiederentdeckung der Handschrift des Epos 1779 durch den Druck sein Inhalt bekannt wurde, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch hybrid mythologische Überhöhung erdulden musste, politischem Missbrauch dann unterworfen wurde, heutzutage in Worms im Zuge der Besinnung auf die Stadttradition zur Wiederaufnahme ins Theaterrepertoire gedieh, wird trefflich dargestellt (S. 200-205).

 

Breiteren Raum nehmen die Kapitel über das Schicksal der Burgunder in der Sapaudia von der Ansiedlung 443 bis zum Untergang um 532/534 ein. Die Dislozierung war im Kern eine Umschichtung aus dem Südteil des Mainzer Dukats um Worms in einen anderen, nunmehr gallischen, Dukat (S.45). Die Bedrängnisse und Phasen der Selbstbehauptung in der neuen Umwelt zwischen Römern und den im heutigen Mittelfrankreich und in Süddeutschland angelangten germanischen Völkerschaften werden souverän dargestellt. Auf seine Auseinandersetzungen mit Thesen in der französischen und deutschen Historiographie, die geballten Hinweise auf dynastische Konstellationen in ihrer Wandelbarkeit, die wechselnden Raumgliederungen zwischen Westalpen und Auvergne kann hier nur nachdrücklich hingewiesen werden. Für das Schicksal der Burgunder war wohl entscheidend, dass die Goten ihnen den Zugang zum Mittelmeer verstellten. Die Schwäche ihres Reiches zeigte sich in den Auseinandersetzungen mit den Franken. Burgunder mussten König Chlodwig in dessen Kämpfen mit den Alemannen und den Westgoten beistehen, ohne jedoch daraus Gewinn ziehen zu können. Die Möglichkeit einer Rückendeckung gegen die Franken bei den Ostgoten ging nach Theoderichs Tod verloren. Die zahlenmäßig unterlegenen Burgunder gingen wohl kampflos im Herrschaftsgefüge der Merowinger auf (dazu die demographischen Überlegungen in Anbetracht der vagen Angaben in den Quellen S. 75-82). Für friedlichen Übergang sprechen auch Übernahmen von Namen durch die Merowingersippe. Mit Befunden über die Kräfteverhältnisse gehen archäologische Erkenntnisse konform, die man in Jahrzehnten gesammelt hat, um zunächst den Weg der Burgunder aus dem Raum zwischen Elbe und Oder zum Mittelrhein nachzuweisen. Glücklicherweise wurde dabei die nordisch strapaziöse Bornholm-Mythologie ad absurdum geführt. Kaiser übernimmt aus der Abfolge der Ergebnisstufen die Befunde von Felix Teichner im Blick auf Mainfranken als dem Vorland der mittelrheinischen Zielregion und fährt unter Beachtung der in Rheinhessen jüngst erzielten Ergebnisse weiter fort: „Die archäologischen Zeugnisse für das burgundische Reich am Rhein sind äußerst dürftig, sie waren immerhin noch genug, um festzustellen, dass das Reich der Burgunder tatsächlich in der Landschaft um Worms gelegen hat“(S. 91). Mit dem gleichen Mangel an Funden sind Erörterungen hinsichtlich der Entwicklung nach der Dislozierung in die Sabaudia belastet. Hier kommt der Verfasser zur ernüchternden Aussage, dass auch dort vom Volk der Burgunder kaum mehr als die bloße Existenz nachzuweisen ist. Er fügt noch zutreffend an, es sei unsicher, wie lange das Burgundische eine lebendige Sprache war. Der Wortbestand in Rechtsdokumenten ist minimal.

 

Mit der gleichen Unverdrossenheit geht Kaiser Fragen der Binnenstruktur nach, stellt die mageren Aussagen über das Königtum, den Hof und die Verwaltung zusammen und vergleicht diese mit Entwicklungen in Westeuropa während des 5. bis 7. Jahrhunderts. Zu den Besonderheiten der burgundischen Geschichte gehört vor allem, dass die Vorstellung der Zugehörigkeit zum Imperium Romanum aufrecht erhalten wurde über den Untergang des weströmischen Reiches hinaus zum byzantinischen Reich (S. 121). Sorgfältige Analyse aufgrund der reichen Forschungslage im Bereich der Rechtsgeschichte erfahren der Liber Constitutionum und die Initiativen des Königs Sigismund, der über römisch-rechtlich geschulte Redaktoren verfügte bei der Abfassung des Textes im Jahre 517, sowie die Lex Romana Burgundionum. Von hier aus erfahren die Kapitel über die Sozialstruktur und das Agrarwesen mit dessen Schwerpunkt auf dem Weinbau ihre sichere Grundlage. So entsteht das Bild einer geregelten Landwirtschaft auf der Basis weitgehender Kontinuität des Siedlungswesens, in dem sich Burgunder und romanische Bevölkerung friedlich trafen. Aus schriftlicher Überlieferung sind Handwerke zu erschließen in der Salzgewinnung, Waffenherstellung, Leinenweberei und des Baugewerbes. Auf die entsprechende Kulturhöhe deuten Münzfunde als Zeugnisse für lebhaften Handel hin.

 

Sehr eingehend beschäftigt sich Kaiser mit der Kirchengeschichtsforschung, die lange durch Kontroversen mit oft konfessionellem Hintergrund in den älteren Gelehrtengenerationen mit der Frage belastet wurde, ob die Burgunder dem katholischen oder dem arianischen Bekenntnis angehörten. Er ist angesichts der gegenseitigen Durchdringungen, zu denen auch der Einfluß der Randgruppe der Bonosianer gehörte, frei von apologetisch bemühten Fronten und offen für die historischen Abläufe, soweit sie sich in den Quellen darbieten. Mit Schwankungen muß gerechnet werden, ehe sich König Sigismund zum Katholizismus bekannte, dies in Form einer eigenen Romreise, der ersten eines der germanischen Herrscher. Starke Wirkung als Vorbild im monastischen Leben und nachwirkender Symbolgehalt kommen der Gründung des Klosters Agaunum/Saint Maurice im Jahre 515 zu. Gründungen an anderen Orten, wie in Vienne, Lyon und Genf sowie lockere Beziehungen zum Juramönchtum anfänglich eremitischer Art seien genannt. Sigismund wurde zum Vorbild für Herrscher in Europa, Mauritius zum Reichsheiligen. Und von hier aus lässt sich ein Bogen schlagen zu Traditionselementen, die aus Burgund namengebend hinüberwirkten über die Epochen der Merowinger und Karolinger, des Herzogtums bis zum Schlachtentod Karls des Kühnen 1477 einerseits, des regnum Burgundiae im römischen Imperium seit Kaiser Konrad II. mit dem Erwerb der Heiligen Lanze, dem Weiterbestehen im Gefüge der habsburgischen Herrschaften, heute im Namen der großartigen Geschichtslandschaft Bourgogne in Frankreich. So schließt sich die Überschau über einen Strang europäischer Geschichte, der eingeleitet wurde von einem Volk in merkwürdiger Verhaltenheit seiner Überlieferung, der in so klarer Weise nachgegangen zu werden ein lang gehegter Wunsch war, der jetzt erfüllt wurde.

 

Wiesbaden                                                                                                     Alois Gerlich