Holenstein, André, >>Gute Policey<< und lokale Gesellschaft im Staat des ancien régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach). Bd. 1, Bd. 2 (= Frühneuzeit-Forschungen 9,1, 9,2). bibliotheca academica, Epfendorf/N. 2003. 533, 535-938 S.

 

Iseli, Andrea, >>Bonne police<<. Frühneuzeitliches Verständnis von der guten Ordnung eines Staates in Frankreich. (= Frühneuzeit-Forschungen 11). bibliotheca academica, Epfendorf/N. 2003. 400 S.

 

Vorzustellen ist zunächst eine der wichtigsten neueren Monographien zur „Policey“ im 18. Jahrhundert. Holenstein, der schon vor einem Jahrzehnt durch eine große Untersuchung zur „Huldigung der Untertanen“ hervorgetreten war, hat nun den in Geschichte und Rechtsgeschichte zu beobachtenden Aufschwung der Forschung zur frühneuzeitlichen „Policey“ genutzt, um mehrere Ansätze zu kombinieren und auf diese Weise produktiv weiterzuführen. Seine zweibändige Berner Habilitationsschrift beginnt schon wuchtig mit 140 Seiten zum Forschungsstand und zum eigenen Vorhaben. Die Einleitung ist ein Kompendium der bisherigen Untersuchungen und ein wissenschaftsgeschichtlicher Leitfaden, der gleichermaßen auf historische wie rechtshistorische Studien aufmerksam macht und sie einordnet. Zunächst resümiert er die älteren, punktuell und wenig systematisch angelegten Studien zur Policey, die inzwischen durch die Konjunktur der Alltags-, Kultur- und Kriminalitätsgeschichte überlagert worden sind. Hinzu kommt die flächendeckende Erschließung des normativen Materials durch das Frankfurter Repertorium der Policeyordnungen, das neue Möglichkeiten der Recherche eröffnet hat und künftig durch die Einbeziehung des Materials der Städte weiterhin eröffnen wird. Seit längerem richtet sich der Blick der Historiker und Rechtshistoriker auf die Implementation dieser Normen, auf die praktische Durchsetzung sowie auf die Wechselwirkungen zwischen befehlenden Obrigkeiten und einer aktiv oder passiv reagierenden Bevölkerung. Je tiefer dieser Komplex durchleuchtet wird, desto vielfältiger sind die Varianten, die ans Licht kommen: Der Bogen reicht von der puren Verweigerung des Gehorsams über partielle Vernachlässigung, listiges Unterlaufen und Uminterpretation bis zu enger Kooperation von Bevölkerung, Ständen und Amtleuten bei der Normsetzung und Normdurchsetzung. Geht man zu den lokalen Quellen, wie es Holenstein hier tut, dann erweist sich das Bild vom maschinenhaft funktionierenden „Absolutismus“ einmal mehr als irreführend. Dass der Staat der frühen Neuzeit nicht als Kopfgeburt der Theoretiker in die Wirklichkeit umgesetzt wurde, hat sich herumgesprochen. Aber wie die langsame Bündelung und Verschmelzung der einzelnen Hoheitsrechte zum staatlichen Gewaltmonopol sich in Kleinstaaten und in Großstaaten mit oder ohne ständische Ordnung, in geistlichen und weltlichen Territorien, in Stadt und Land wirklich vollzog, ist nach wie vor noch vielfach unbekannt, ebenso wie man bisher noch wenig über die unterste Ebene der Dörfer und Marktflecken und ihren Alltag weiß.

 

Holenstein nähert sich den Fragen so, dass er zunächst im Territorium Baden-Durlach die Normsetzung ins Auge fasst und beschreibt, welche Policeynormen zwischen 1690 und 1803 erlassen wurden[1], was sie enthielten, wie sie zustandekamen und publiziert wurden. Im zweiten Schritt schildert er die Anstrengungen der Obrigkeit, Informationen darüber zu erlangen, welche Probleme an der „Basis“ bestanden und wie die Policeynormen akzeptiert wurden. Dies geschah durch ein sich schrittweise verfeinerndes Berichtswesen, durch Lektüre von Bittschriften, durch Visitationen, Rügen und Anzeigen, so dass die Obrigkeit am Ende ein relativ dichtes Bild gewinnen konnte. Diese Informationen wurden tatsächlich genutzt, der Staat war insofern „lernendes System“ und er lernte vor allem aus Misserfolgen[2].

 

Um dem hiermit angedeuteten Prozess ein schärferes Profil zu geben, nutzt Holenstein die badischen Vogt- und Rügegerichte, gerichtlich-administrativ gemischte Institutionen – mit Parallelen in anderen Territorien –, die als Instrumente der lokalen Policey gut funktionierten. Anhand genauer Betrachtung der Frevelgerichte in den Oberämtern Rötteln und Hochberg kann er zeigen, wie Normdurchsetzung an Ort und Stelle wirkte und angenommen wurde[3]. Dazu bedurfte es der Schergen, Büttel, Gerichtsdiener, Hatschiere, Gendarmen oder der Stadtguardia[4]. Der Staat, wenn man ihn nun schon so nennen kann, kümmerte sich um die Durchsetzung der Schulpflicht, um die für das ausgehende 18. Jahrhundert so typischen Agrarreformen, die Bekämpfung der Armut, um Feuerpolizei, Aufsicht über die Gemeindefinanzen und vieles mehr. Holenstein behandelt alle diese Details, ohne darin zu versinken, weil er seine leitende Frage nicht aus dem Auge verliert: Der lokale Bezug von Herrschaft, nur scheinbar eine Trivialität, erschließt sich erst dann, wenn man die Informations- und Handlungsimpulse von oben nach unten und gleichzeitig von unten nach oben erfasst. Mit der Erforschung der Gesetzgebung ist es nicht getan, wenn die Funktionsweise von Recht in einer nur halbwegs durchorganisierten Gesellschaft verstanden sein will. Ebenso ist eine Mikroanalyse der lokalen Gesellschaft unvollständig, wenn nicht ihre Reaktionen und Impulse auf das Recht von unten beachtet werden. Ohne den Informationstransfer aus der lokalen Gesellschaft hätte die regierende Obrigkeit gewissermaßen blind gehandelt. Das tat sie wohl manchmal, nicht anders als heutige Parlamente, aber keinesfalls immer. Selbst wenn die einzelnen Akteure blind gewesen sein mögen, so erwies sich doch das „System“ insgesamt als lernfähig und perfektionierbar. Ein Staat, der seine Untertanen beherrschen wollte, musste sie dort aufsuchen, wo sie lebten, also an Ort und Stelle.

 

Holensteins Arbeit bringt auf diese Weise reichen Ertrag. Die Kapitel über die Rügegerichte in Baden stellen schon eine eigenständige Monographie dar. Welche Aufgaben sie in Rötteln und Hochkirch erfüllten, wissen wir nun so genau wie möglich. Aber der theoretische Gewinn der Arbeit geht darüber hinaus. Wir sehen die Entstehung des frühmodernen Territorialstaats durch das Fenster der Policey, so wie wir es auch durch die Fenster des Steuer- und Finanzwesens, des Heereswesens, der Außenpolitik oder der theoretischen Reflexionen über Policeynormen beobachten können. Holenstein verbindet, das ist seine eigentliche Leistung, die Makroebene mit der lokalen Mikroebene, er schreibt über Baden-Durlach, aber seine Ergebnisse sind auf der nächsthöheren Ebene der regionalen Struktur durchaus generalisierbar.

 

Ganz auf Frankreich konzentriert ist die Arbeit von Andrea Iseli, eine bei Peter Blickle entstandene Berner Dissertation. Nachdem die Erforschung der französischen „policey“ lange Zeit eher ein Schattendasein führte, hat sich die Lage in den letzten Jahren spürbar gebessert. Jean-Louis Mestre hat über die Geschichte des Verwaltungsrechts gearbeitet (1985), Bernard Durand über „La notion de Police en France“ (1996), Albert Rigaudière über die „ordonnances de police“ (1996) und schließlich hat Paolo Napoli eine hier nicht mehr verwertete Studie „Naissance de la police moderne“ (2003) vorgelegt. Frau Iseli gibt nun eine sorgfältige Zwischenbilanz der französischen Ideen- und Institutionengeschichte der „police“. Sie stellt zunächst den Ertrag der Traktate und Handbücher zusammen, wobei natürlich Nicolas Delamare’s voluminöser Traité de la police, 1705-1738, im Zentrum steht. Dabei wird nebenbei noch einmal bekräftigt, was schon Hans Maier festgehalten hatte, dass nämlich das neue Wort „police“ auf die Aristoteles-Übersetzung von Nicolas Oresme (1371) zurückgeht, von da aus unmittelbar in die Ordonnances des französischen Königs gelangte, um dann, vielleicht über Burgund, im 15. Jahrhundert seine europäische Karriere zu beginnen[5]. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch nicht auf der Literaturgeschichte oder der Theoriegeschichte, sondern auf der institutionellen Seite. Beschrieben wird der komplexe Aufbau der französischen Verwaltung des Ancien Régime im Hinblick auf die Policey mit seinen Wandlungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Vom König angefangen geht es über die Parlamente, Gouverneure, Intendanten und Kommissare hinunter bis zu den Stadtpolizeien und den Ortspolizeien. Anhand der Großstädte Marseille und Lyon kann sie zeigen, dass hier – trotz des offiziell herrschenden Absolutismus - eine Art Selbstverwaltung praktiziert wurde, die dem direkten Zugriff der Zentrale widerstand. Was die Inhalte der Policey angeht, so weicht Frankreich vom europäischen Standard nicht wesentlich ab. Wie überall stehen konservierende, marktfeindliche Regelungen neben modernisierenden Maßnahmen, speziell im 18. Jahrhundert. Die Policey kümmert sich um die (in Frankreich stets problematische) Versorgung mit Getreide, um Straßenbau und Kanalbau, Gesundheitswesen und Armenfürsorge. Im Vergleich zu Deutschland scheint das im deutschen Luthertum so ausgeprägte Bedürfnis schwächer entwickelt zu sein, mit Hilfe des Instrumentariums der Policey die Sittenlosigkeit und den Alkoholkonsum einzudämmen. Aber im Kern gilt hier wie überall das aristotelische Leitbild des „guten Lebens“ in Gemeinschaft, also in einem wohlgeordneten, volkreichen und wohlhabenden Gemeinwesen, für dessen Gestaltung der Staat eingesetzt ist. Am Ende des 18. Jahrhunderts zeigen sich, wie in Deutschland[6], die Übergänge von „police“ zu „administration“ und ansatzweise auch zu einem entsprechenden Administrativrecht. Andrea Iseli hat das Thema mit großer Sorgfalt und in umsichtiger Interpretation bis an die Schwelle der Revolution geführt. Besonders wer europäisch vergleichend arbeitet, wird ihr für diese Gesamtdarstellung der franzosischen „bonne police“, die ihre besondere Vertiefung in Marseille und Lyon erfährt, dankbar sein.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Michael Stolleis



[1] Hierzu grundlegend Julia Maurer, in: A.Landwehr/Th.Simon (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd.4, Baden und Württemberg, Frankfurt 2001, 1ff., 37ff. zu Baden-Durlach.

[2] M.Stolleis, Was bedeutet „Normdurchsetzung“ bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit? In: Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn 2000, 739-757.

[3] So zuvor schon für Württemberg die Pilotstudie von Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt 2000.

[4] A.Holenstein, Zwischen Policey und Polizei. Die badischen Hatschiere und die Professionalisierung staatlicher Exekutivkräfte im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: A.Holenstein, F.Konersmann, J.Pauser, G.Sälter, Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt 2002, 289-316.

[5]  B.Kropf, Der Begriff aus der politischen Theorie – das Konzept aus der administrativen Praxis. Zum Entstehen der police im frühneuzeitlichen Frankreich, in: P.Blickle, P.Kissling, H.R.Schmidt (Hgg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt 2003, 491-514.

[6]  J. Chr.Pauly, Die Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin, Frankfurt 2000.