Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band 2 Verfassungsstaat, hg. v. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, 3. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2004. XXIX, 1079 S.

 

„Die Wahrscheinlichkeit war gering, dass die Menschheit eine so schöne, geistreiche und widernatürliche Sache erfinden würde. So ist es kein Wunder, dass nun diese selbe Menschheit entschlossen scheint, sie aufzugeben. Ihre Ausübung ist allzu schwierig und verwickelt, als dass sie auf dieser Erde Wurzel schlagen könnte“. Die beiden Herausgeber zitieren eingangs ihres Handbuches einen pessimistischen Ortega y Gasset, der diese Sätze im Kontext des Jahres 1930 verfasst hatte. Glücklicherweise behielt Ortega y Gasset nicht auf Dauer Recht. Vielmehr erlaubt es unser heutiger Kontext, dieses Werk in dritter Auflage vorzulegen. Der ursprüngliche Band I der ersten Auflage wurde in „Historische Grundlagen“ (Band I) und in „Verfassungsstaat“ (Band II) aufgeteilt. Der Stoff ist mit dem Siegeszug des liberalen Verfassungsstaates fast unermesslich angewachsen. Die Bände I und II bilden ein Ganzes, da sie Band I der Erstauflage inhaltlich und in den Kapitelnummerierungen fortsetzen.

 

Der Band II setzt also mit dem dritten Teil ein und dieser beschäftigt sich mit der Staatlichkeit und wird eröffnet von Josef Isensee mit „Staat und Verfassung“. Sodann folgen „Staatsvolk und Staatsangehörigkeit“ (Rolf Grawert), „Staatsgewalt und Souveränität“ (Albrecht Randelzhofer), „Staatsgebiet“ (Wolfgang G. Vitzthum), „Staatssymbole“ (Eckart Klein) sowie „Deutsche Sprache“ (Paul Kirchhof). Von den sorgfältig ausgearbeiteten Beiträgen sei nur beispielhaft auf jenen Kirchhofs über die deutsche Sprache verwiesen (S. 209ff.). Er ist in einem hervorragenden tragenden Schreibstil verfasst und regt in seinen Aussagen zum philosophischen Nachdenken an: „Sprache ist das Mittel, mit dem die Menschen ihre Welt [...] erfassen und sich bewusst machen. [...] Im Sprechen macht sich der Sprechende seine Lebenssicht und Lebenserfahrung bewusst, verständigt sich mit dem Angesprochenen, übernimmt Verantwortung für das Gesprochene“ (S. 211f.). Der Rezensent fühlt sich durch diese Aussagen an Ludwig Wittgenstein erinnert, der Philosophie als Sprachphilosophie begreift. Sein Ansatz lässt sich auf die Kernaussage zurückführen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Oder schon früh schrieb Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Kirchhof paraphrasiert dies wie folgt: „Unsägliches ist nicht regelbar“. Der Satz hat eine mehr als nur theoretische Seite. Es ist ferner klar, dass eine so umfassend verstandene Sprache bei Kirchhof unmittelbar auf die Menschenrechte und die Sprachenfreiheit führt. Diese ermöglicht nicht nur die individuelle Kommunikation, sondern beispielsweise auch den Parlamentarismus, der zentral auf die Debatte und die sprachliche Auseinandersetzung angewiesen ist.

 

Der Autor behandelt auch die Rechtschreibreform und gesteht den dafür zuständigen Ländern „maßvolle Regelungen der Rechtschreibung“ für den Bereich der Schulen zu. Dabei sei der Staat nicht gehalten, nur die historisch gewachsene, vom Staat unbeeinflusste Schreibentwicklung in der Schule allgemein verbindlich zu machen, sondern könne auch gestaltend Schreibreformen anstoßen (S. 246). Damit ist die Position klar. Der Autor stützt die umstrittene Rechtschreibreform und lässt sich in diesem Grundlagenwerk gar nicht erst auf Diskussionen ein. Das ist in der Sache konsequent und verschafft Orientierung. Der Rezensent ist indes von der Rechtschreibereform wenig überzeugt und bedauert die unnötigen Neuerungen.

 

Der vierte Teil, mit „Verfassungsordnung“ überschrieben, enthält die folgenden wichtigen Beiträge: „Identität der Verfassung“ (Paul Kirchhof), „Menschenwürde“ (Peter Häberle), „Republik“ (Rolf Gröschner), „Demokratie als Verfassungsprinzip“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde), „Parlamentarische Demokratie“ (Peter Badura), „Rechtsstaat“ (Eberhard Schmidt-Assmann), „Gewaltenteilung“ (Udo Di Fabio), „Soziales Staatsziel“ (Hans F. Zacher), „Bundesstaat als Verfassungsprinzip“ (Matthias Jestaedt), „Finanz- und Steuerstaat“ (Klaus Vogel), „Unterscheidung von Staat und Gesellschaft“ (Hans Heinrich Rupp), „Nationalstaat in übernationaler Verflechtung“ (Christian Hillgruber). Auch hier sei nur beispielhaft der bedeutende Beitrag Peter Häberles über die Menschenwürde herausgegriffen. Häberle verfährt mit einem vergleichenden und kulturwissenschaftlichen Ansatz kunstvoll. Er stellt damit Art. 1 Abs. 1 GG in den Kontext der internationalen Ordnung und der Gemeinschaft der Verfassungsstaaten. Häberle unternimmt auch einen historischen Rechtsvergleich und fördert die Regelung von Art. 151 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zu Tage. Danach muss die Ordnung des Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins entsprechen. Der Autor stellt die Vermutung auf, dass die Regelung der Weimarer Verfassung für die deutschen Landesverfassungen nach 1945 vorbildlich gewesen sei, zumal die Parteiprogramme der CDU, CSU und der SPD sich nach 1945 der Menschenwürde ebenfalls angenommen haben. Häberle betrachtet drei aktuelle Beispiele für die Menschenwürdeproblematik unter dem Grundgesetz, nämlich die künstliche Befruchtung, die Menschenwürde der Kinder beim Strafvollzug der Mutter sowie das Recht, in Würde zu sterben (S. 359ff.). Erstaunlicherweise behandelt Häberle das intensiv diskutierte Problem der Folter hier nicht. Darf der Staat einen Verbrecher oder Terroristen foltern, um das Leben von vielen Menschen vor dem sicheren Tod zu retten? Hier wäre eine Stellungnahme Häberles wertvoll gewesen. Das Thema ist freilich äußerst heikel und die Diskussion ist alles andere als abgeschlossen.

 

Auch der zweite Band steht in seiner Qualität dem ersten in keiner Weise nach: Es handelt sich um ein hervorragendes Grundlagenwerk, das in jede Bibliothek gehört. Angesichts seiner Unentbehrlichkeit wird sich Band II durchsetzen.

 

Bern                                                                                                              Andreas Kley