Ham, Rüdiger, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/52 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 138). Selbstverlag der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen, Darmstadt 2004. LXVI, 488 S.

 

Von Ernst Rudolf Huber stammt die Bemerkung, die großen Interventionsfälle des Deutschen Bundes bedürften noch einer ausführlichen staatsrechtlichen Erörterung[1]. Einen Beitrag dazu leistet nun die Marburger juristische Dissertation Rüdiger Hams, die die kurhessische Verfassungskrise der Jahre 1850 bis 1852 thematisiert. Anfänglich ein Budgetkonflikt, gipfelte sie in der Aufhebung der Verfassung von 1831 durch Beschluß der Bundesversammlung vom 27. März 1852. Dieser Vorgang ist an sich bereits mehrfach Gegenstand historischer Arbeiten gewesen. Verfassungshistorisch hat er einige Berühmtheit erlangt, denn für die deutsche Entwicklung ist die Entscheidung des kurhessischen Oberappellationsgerichts, sich die letztinstanzliche Normenkontrolle vorzubehalten, bis dahin ebenso beispiellos wie der Beschluß des Offizierskorps unter Hinweis auf den Verfassungseid den Abschied zu nehmen. Ham unternimmt es nun, sich den spezifisch juristischen Fragen des Falles zuzuwenden und untersucht, ob das Institut der Bundesintervention das Recht beinhaltete, die Verfassung eines Bundesmitglieds aufzuheben und den Erlaß einer neuen, revidierten Verfassung zu verlangen.

 

Im Grunde ist damit bereits ein ganzes Bündel von Fragen aufgeworfen. Existierte der Deutsche Bund nach der Revolution von 1848 überhaupt noch? (dazu S. 65ff.). Stand die Souveränität des Bundesstaaten gemäß Art. 56 der Wiener Schlussakte (WSA) einer Verfassungsrevision als Mittel der Bundesintervention entgegen? Mußte sich die Verfassungsänderung nicht auf die bundesrechtswidrigen Normen beschränken?

 

Einleitend schildert Ham die in der WSA vorgesehenen Einwirkungsmöglichkeiten des Deutschen Bundes auf die Gliedstaaten (Art. 26, 53–61 WSA), die in erster Linie den Erhalt der landständischen Verfassungen garantieren sollten. Das ist deswegen von Bedeutung, weil die kurhessische Verfassung von 1831 gerade keine landständische Verfassung im Sinne von Art. 13 der Deutschen Bundesakte war, sondern eine Repräsentativverfassung, wie sie auch Bayern, Baden und Württemberg aufwiesen. Daher schließt sich eine Darstellung der kurhessischen Verfassungsgeschichte an, soweit sie für das Verständnis der Bundesmaßnahmen von Bedeutung ist. Dabei zeigt sich, dass der Budgetkonflikt von 1850 zunächst Auslöser für die Bundesintervention wurde, bald aber zum Vorwand gedieh, die kurhessische Verfassung von 1831 aufzuheben und eine landständische Verfassung zu oktroyieren.

 

Im Gegensatz zu der als „herrschend“ zu bezeichnenden und auf Ernst Rudolf Hubers Darstellung[2] gründenden Ansicht kommt Ham allerdings zu dem Ergebnis, die Bundesbeschlüsse vom 26. 10. 1850 und vom 27. 03. 1852 sowie die daraus resultierenden Maßnahmen der Bundesexekution seien als rechtmäßig zu bezeichnen. Das wird in dem Kernstück der Arbeit ausführlich und überzeugend begründet.

 

Zunächst weist Ham nach, dass der Interventionsbeschluß vom Oktober 1850 sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht rechtmäßig war. Der Deutsche Bund hatte sich zur Begründung seiner Maßnahmen auf Art. 26, 31f. WSA gestützt. Um zu zeigen, dass Art. 26 WSA im Tatbestand kein rechtmäßiges Regierungshandeln voraussetzte, zieht Ham das monarchische Prinzip als Auslegungskriterium heran (S. 189ff.). Für den Bundesbeschluß zur Intervention war ausreichend, dass ein Bundesfürst allein nicht in der Lage war, den Aufruhr durch eigene Kräfte zu unterdrücken und die Ruhe in seinem Land wiederherzustellen. Damit ist zugleich begründet, dass sowohl die Exekution des Bundesbeschlusses durch Österreich, Bayern und Preußen im Bundesauftrag als auch die Maßnahmen der Bundeskommissare Rechtmäßigkeit beanspruchen durften. Deren Tätigkeit wird anhand archivalischer Quellen erstmals dargestellt.

 

Ob nun das Verfahren der Verfassungsrevision als Teil der Bundesintervention mit den Grundgesetzen des Deutschen Bundes übereinstimmte, war schon unter den Zeitgenossen  äußerst kontrovers entschieden worden (S. 347ff.). In einem ersten Schritt kommt Ham zu dem Schluß, das Bundesrecht hätte den Weg eröffnet, die als zu liberal empfundene kurhessische Verfassung einer Revision zu unterziehen (S. 365ff.). Die kurhessische Verfassung von 1831 hätte zum einen dem bundesrechtlichen Gebot einer landständischen Verfassung aus Art. 13 DBA widersprochen, zum anderen hätte die Verfassung dazu beigetragen, die Regierung im Budgetstreit zu lähmen und damit zu den Unruhen im Land beigetragen. Ziel der Bundesintervention hätte daher die Beseitigung der Konfliktursachen sein müssen.

 

In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob die Aufhebung der Verfassung von 1831 und das Verlangen auf Erlaß einer neuen, revidierten Verfassung durch Beschluß der Bundesversammlung vom 27. März 1852 rechtmäßig waren (S. 347ff.). Ham arbeitet zunächst heraus, dass eine Beschränkung der Verfassungsänderung auf die bundesrechtswidrigen Normen deswegen nicht in Frage kam, weil gerade die wesentlichen Bestimmungen der Verfassung als änderungsbedürftig erschienen (S. 370ff.). Auch eine allgemeine Geltung der Parömie utile per inutile non vitiatur ließ sich nicht erweisen. Dann widerlegt Ham die Ansicht, die Souveränität der Bundesstaaten hätte einer Verfassungsrevision als Mittel der Bundesintervention entgegengestanden (S. 382ff.). Durch sorgfältige Auslegung der in Art. 56 WSA enthaltenen Formel, eine Verfassungsänderung könne nur auf „verfassungsmäßigem Wege“ erfolgen, gelangt er zu dem Ergebnis, nach Sinn und Zweck der Norm habe der Bund das Recht, bundesrechtswidriges Landesverfassungsrecht durch Bundesintervention zu ändern, wenn der nach der Landesverfassung vorgesehene Weg durch die Verweigerung eines Beteiligten am innerstaatlichen Verfahren verschlossen war. Da hier die Änderung der Verfassung durch die erforderliche, aber nicht zu erwartende Mitwirkung der Stände des Kurstaates blockiert war, kam dem Bund gemäß Art. 56 WSA das Recht zu, die Verfassung aufzuheben und den Erlaß einer Verfassung zu verlangen, die in Übereinstimmung mit dem Bundesrecht landständischen Charakter trug. Daß der Bund die Verfassung nicht selbst gewähren konnte, war der Souveränität des Kurfürsten geschuldet.

 

Aufgrund der politischen Implikationen hing fast jede Stellungnahme zur Bundesintervention in Kurhessen häufig von den politischen Überzeugungen des jeweiligen Autors ab. Die vorliegende Arbeit besticht dagegen durch ihre sorgfältige juristische Argumentation, die klar und nachvollziehbar zu ihren Ergebnissen leitet, ohne dabei die Anschaulichkeit ihrer historischen Darstellung einzubüßen. So sind beispielsweise grundlegende archivalische Quellen im Anhang zum Abdruck gelangt. Ham zeigt vor allem auf, welche Handlungsspielräume dem Deutschen Bund offenstanden, sofern sich nur Österreich und Preußen einig waren. Die Entwicklung zum Bundesstaat schien zumindest aus österreichischer Sicht denkbar zu sein.

 

Würzburg                                                                                                       Steffen Schlinker



[1] E. R. Huber, Bundesintervention, in: AöR 79, 2.

[2] E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, 3. Aufl. Stuttgart u.a. 1988, 931 – 933; ders., Bundesintervention, in: AöR 79, 31 -40.