Grau, Ulrich, Historische Entwicklung und Perspektiven des Rechts der öffentlichen Aufträge (= Europäische Hochschulschriften 2, 3842). Lang, Frankfurt am Main 2004. 389 S.

 

Das Vergaberecht hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewonnen, die sich allein schon darin zeigt, dass der Wert der öffentlichen Aufträge in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union etwa 10 bis 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Zusammen mit den Koordinierungs- und Überwachungsrichtlinien der EU bildet das deutsche Recht der Vergabe öffentlicher Aufträge ein „komplexes Regelungswerk barocken Detailreichtums“ (S. 215). Dieser Detailreichtum ist in der Geschichte des deutschen Verdingungsrechts begründet, über dessen Entwicklung, von einigen regional oder rechtspolitisch orientierten Darstellungen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert abgesehen, eine Gesamtdarstellung bisher nicht vorliegt. Unter Auswertung der genannten Monographien bringt Grau im wesentlichen zunächst eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte des deutschen Verdingungsrechts bis zur Entstehung der VOB (Teil A). Nach einem kurzen Abschnitt über die Auftragsvergabe an Private unter Ausnutzung einer Konkurrenzsituation durch Zuschlag an den Bieter im Rahmen einer Absteigerung im römischen Recht folgt ein Abschnitt über die ersten Regelungsansätze in Deutschland für die Zeit vom 16.-18. Jahrhundert (Instruktion über die Festung Ingolstadt 1542; Bauhofsordnung für Hamburg 1617; Submissionsplakate von Mannheim 1699 und preußisches Baureglement von 1724). Bei dem vermehrt im 18. Jahrhundert eingesetzten Verfahren der Lizitation unterbot der Unternehmer in einem Verhandlungstermin den Voranschlag der ausschreibenden Behörde. Den Zuschlag erhielt der Bieter mit dem höchsten Abschlag; ein Anspruch auf den Zuschlag bestand jedoch nicht. Die ersten umfassenden Vergaberichtlinien ergingen seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts (1833/64 für öffentliche Bauten in Bayern;1836 für Württemberg, 1885 für Preußen). Das mündliche Lizitationsverfahren wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitgehend durch das Submissionsverfahren ersetzt, welches das Einreichen schriftlicher Angebote bei der Behörde erforderte. Diese erteilte den Zuschlag grundsätzlich an den Mindestfordernden.

 

Dieses System der Auftragsvergabe, das nach Meinung insbesondere der Handwerker zu einer „schrankenlosen und ruinösen Konkurrenz“ führte (S. 96), geriet seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik. Außer der Preiswürdigkeit eines Angebots, die nach den Mittelpreisen festgestellt werden sollte, sollte auch die Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des Bieters berücksichtigt werden. Der Entwurf des Hansa-Bundes zu einem Reichsverdingungsgesetz wurde 1913/14 von einer Reichstagskommission beraten, jedoch bis Kriegsbeginn nicht mehr verabschiedet. Nach der Vorlage sollten die ortsansässigen Handwerkermeister angemessen an den Aufträgen beteiligt sein. Gebote, die unter dem von Sachverständigen festzulegenden angemessenen Preis lagen, waren auszuschließen. Erstmals waren Klagerechte für die Bieter vorgesehen, die sich an ein paritätisch besetztes Schiedsgericht wenden konnten. 1921 lehnte der Reichstag ein Reichsrahmengesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge ab; vielmehr verwies er die Beteiligten an einen von den Vertretern der an der Auftragsvergabe interessierten Kreisen gebildeten Ausschuss. Der noch 1921 konstituierte Reichsverdingungsausschuss arbeitete bis 1926 die VOB (Teile A und B) und bis 1936 die VOL (Teile A und B) aus, bei deren Verletzung für die Bieter keine einklagbaren Rechte entstanden. In der NS-Zeit wurde unter umfassenden Eingriffen in die Preisbildungsfreiheit das System der Auftragsvergabe beibehalten; jedoch wurde die öffentliche Ausschreibung zunehmend durch die beschränkte Ausschreibung verdrängt. – In der Nachkriegszeit, die im Zeichen des Wiederaufbaus stand (1954 etwa beschaffte der Bund Sachgüter und Leistungen für 5,5 Milliarden DM = 25 % des Gesamtetats), bewährten sich die VOB (1952 geringfügig geändert) und die VOL als ausgewogene Regelungen. Erst die Richtlinien der EU (1971 Liberalisierungs- sowie Koordinierungsrichtlinie für den Baubereich, 1976 Koordinierungsrichtlinie für die Lieferungsverträge) machten erhebliche Änderungen des Verdingungsrechts notwendig. Von grundlegender Bedeutung für das deutsche Vergaberecht, das subjektive Rechte der Bieter bei Verletzungen gegen Bestimmungen des Vergabeverfahrens nicht vorsah, war die Überwachungsrichtlinie von 1989, welche ein gerichtliches Nachprüfverfahren für Lieferungs- und Bauaufträge vorschrieb (S. 223ff.). Die Umsetzung der Richtlinie von 1989 gelang erst im zweiten Anlauf 1998 durch das Vergaberechtsänderungsgesetz und die Ergänzungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§§ 97 ff.). Da bisher ein Bundesverdingungsgesetz fehlt, bilden die erheblich unübersichtlicher gewordenen Verdingungsordnungen (VOB, VOL; seit 1997 auch die Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen [VOF]) weiterhin die materielle Grundlage des Verdingungsrechts.

 

Im zweiten Teil seines Werkes behandelt Grau die Änderungen, die sich durch das Vergaberechtsänderungsgesetz ergeben haben, und zeigt einige Perspektiven einer zukünftigen Rechtsentwicklung auf. Insgesamt hat sich Grau mit seiner Arbeit das Ziel gesetzt, „einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart des öffentlichen Auftragswesens“ zu spannen (S. 35). Dies schloss eine detaillierte Erschließung der Geschichte des deutschen Verdingungsrechts aus und erklärt auch, dass er – von der Weimarer Zeit abgesehen – keine archivalischen Quellen, insbesondere auch nicht für die Bundesrepublik (für die Zeit bis 1972) herangezogen hat. Auch die bisher noch nicht näher untersuchten Einflüsse des französischen Verdingungsrechts auf die Rechtsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert sind leider unberücksichtigt geblieben, wie überhaupt auch für das 20. Jahrhundert die historische Rechtsvergleichung etwas zu kurz gekommen ist. Für den mit den Einzelheiten des neueren Verdingungsrechts nicht vertrauten Leser wäre ein Quellen- und ein Abkürzungsverzeichnis nützlich gewesen (z.B. fehlt der Hinweis in Fn. 876, S. 252, wo der Diskussionsentwurf und der Referentenentwurf zum Vergaberechtsänderungsgesetz veröffentlicht sind). Mit seinem Überblick über die Entwicklung des deutschen Verdingungsrechts hat Grau dieses auch wirtschafts- und sozialpolitisch eminent bedeutsame Rechtsgebiet zuverlässig erschlossen, das in der neueren rechtshistorischen Forschung zu Unrecht bisher kaum beachtet worden ist.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert