Eibich, Stephan Michael, Polizei, „Gemeinwohl“ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident von 1848-1856 (= Berliner juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 28). Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004. 579 S.

 

Im Herzen des Berliner Stadtbezirks Prenzlauer Berg, da wo die Rykestraße in die Knaackstraße einmündet, trifft sich das Neue Berlin. Wenn die Sonne scheint, sitzt es vor einem der zahlreichen Cafés und blickt geradewegs auf einen 1877 errichteten mächtigen Wasserturm aus rotem Backstein. Dieses Gebäude, inzwischen auch zu einem Wahrzeichen des Bezirks geworden, war seinerzeit errichtet worden, um die – seit 1874 in der Verantwortung der Kommune liegende – Wasserversorgung des nördlichen Teils der expandierenden Metropole abzusichern. In gewisser Weise symbolisiert der imposante Wasserturm die mächtigen Impulse, die von städtischer Selbstverwaltung für Daseinsvorsorge und Infrastruktur ausgingen. Er scheint eindrucksvoll den Befund zu bestätigen, dass die Kommunen die treibende Kraft beim Aufbau einer „sozialstaatlichen“, den Bedürfnissen des Bürgers dienenden Verwaltung waren.

 

Was man von den Restaurantplätzen aus nicht sieht, weil es vom voluminösen Rundbau des Wasserturms verdeckt wird, ist ein anderes Gebäude – der alte Standrohrturm von 1856. Er sorgte für den Druckausgleich in den unter ihm befindlichen Wasserreservoirs der damals fertiggestellten Kanalisation, eines Gemeinschaftsprojekts der staatlichen Berliner Polizeidirektion und einer englischen Firma. Die Stadt war an diesem Vorhaben nicht beteiligt. Im Jahr 1856 starb auch der Initiator dieses Unternehmens, der Berliner Polizeipräsident Carl Ludwig Friedrich von Hickeldey. Und das Jahr 1856 markiert auch das Ende des Untersuchungszeitraums der hier zu besprechenden Arbeit Stephan E. Eibichs, einer Berliner Dissertation.

 

In der allgemeinen Erinnerung zurückgeblieben ist von Hinckeldey eigentlich nur folgendes: Einmal haben seine zeitgenössischen Kritiker dafür gesorgt, dass sein rücksichtsloses, rechtliche Bestimmungen oft ignorierendes Vorgehen gegen all jene, die man unter dem Sammelbegriff „Demokraten“ der umstürzlerischen Tätigkeit verdächtigte, nicht der Vergessenheit anheimfiel. Zur Denkwürdigkeit geriet aber auch sein Begräbnis, das so viele Menschen in Trauer vereinte, wie dies wohl noch nie in dieser Stadt der Fall war; man spricht von über 100.000 Menschen, die dem Sarg folgten. Das Volk trauerte um einen Beamten, der sich um das „Gemeinwohl“ verdient gemacht hatte.

 

Damit sind die Eckpunkte der Arbeit Eibichs angedeutet. Der Autor will staatliche, von Hinckeldey betriebene, Kommunalpolitik beschreiben, der bisher – im Schatten der städtischen, selbstverwaltenden Kommunalpolitik – noch zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei geht er in zwei Schritten vor. In einem ersten schildert er aus dem Aktenmaterial heraus die Tätigkeit Hinckeldeys, wie sie sich auf verschiedenen Verwaltungsgebieten entfaltet hatte, in einem zweiten Teil wertet er die im ersten gewonnenen Ergebnisse aus, indem er sie verschiedenen Fragestellungen unterwirft.

 

Den darstellenden Teil beginnt Eibich mit der Schilderung der Neustrukturierung der Berliner Polizei durch die Berliner Schutzmannschaft. Er zeigt, dass diese an die Stelle des Militärs trat, welches sich 1848 aus der Stadt hatte zurückziehen müssen und somit als Ordnungskraft ausfiel. Die Darstellung Eibichs bestätigt damit zumindest für Berlin eine These, die englische und amerikanische Historiker für die europäische Polizeigeschichte aufgestellt haben: Die Geburt der modernen Polizei aus dem Geist des Militärs mit der dominierenden Ausrichtung auf die Bekämpfung von Unterschichtprotesten.

 

Widmet sich der oben in Bezug genommene Abschnitt noch der Repressivpolizei, so sind die nächsten vor allem dem Engagement Hickeldeys auf dem Gebiet der Wohlfahrtspolizei gewidmet: Armen- und Gesundheitspflege, Wasser- und Lebensmittelversorgung, die Verbesserung der Lage des Gesindes und der Insassen von Korrektionsanstalten sind die Schwerpunkte. Die Liste der in diesen Bereichen von Hinckeldey in seiner achtjährigen Amtszeit angestoßenen und teilweise auch realisierten Projekte ist lang: Errichtung von Flussbadeanstalten für die ärmeren Bevölkerungsschichten, baupolizeiliche Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, Aufbau der städtischen Wasserversorgung, Förderung von Hebammenschulen, Einrichtung von Gesindefonds, Maßnahmen zur Senkung oder Stabilisierung von Lebensmittelpreisen usw. – Es ist schon beeindruckend, was der Autor aus dem Aktenmaterial mit viel Akribie herausarbeitet. Es gelingt ihm, Hinckeldey als rührigen Organisator von Gemeinwohlbelangen plausibel und auch seine Arbeitsweise plastisch zu machen: ideenreich, unkonventionell, oft den Dienstweg verachtend, dabei wohl auch von seinen engen Verbindungen zu Friedrich Wilhelm IV. profitierend.

 

Die gewonnenen Befunde veranlassen den Autor, über einen Tätigkeitsbericht hinauszugehen. Zunächst stellt er die Frage, ob Hinckeldeys weit ausgreifendes Argument noch in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fiel. Zu diesem Zweck wertet er einerseits die Gesetzgebung, andererseits das Schrifttum aus, wobei beim letzteren doch eine stärkere – wenn auch nicht immer mögliche – Trennung zwischen eher rechtspolitischen Erwägungen und Schilderungen des geltenden Rechtszustandes die Darstellung transparenter gemacht hätten. Auf jeden Fall kommt er zu dem wenig überraschenden, weil auch durch die moderne Forschung schon bestätigtem Ergebnis, dass bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts der weite Polizeibegriff von der Gesetzgebung gedeckt und von der Literatur größtenteils mitgetragen wurde. Auch die politische Kritik des „Polizeistaates“ richtete sich ja nicht gegen die Wohlfahrtspolizei sondern gegen die politische (Geheim-) Polizei.

 

Sodann liefert Eibich eine allgemeine Einschätzung des politischen Umgangs mit der „sozialen Frage“ und ordnet die Tätigkeit Hinckeldeys hierin ein. Dabei unterliegt er jedoch nicht der Versuchung, aus seinen Forschungsergebnissen heraus eine Sozialpolitik vor der (Bismarckschen) Sozialpolitik zu konstruieren, die letzterer nur den Rang einer Fortsetzerin einräumen würde. Bei aller Anerkennung sozialpolitischer Leistungen vor den 1880er Jahren wiesen diese doch nicht die prägende Kraft der späteren Reformen auf. Es waren einzelne Projekte, meist lokal angebunden und ohne eigenständiges Profil, weil sie – wie Eibich überzeugend herausarbeitet – durch die immer mitschwingende Revolutionsfurcht mitdiktiert und – institutionell ohne eigenen Unterbau – nicht selbsttragend waren, sondern immer des Einsatzes durchsetzungsstarker Führungspersönlichkeiten bedurften.

 

Und schließlich befasst sich der Autor mit dem kompetenzrechtlichen Verhältnis von Staat und Kommune. Hier verbieten sich aufgrund der Sonderstellung der Stadt Berlin und der direkten Anbindung des Berliner Polizeipräsidiums an das Innenministerium sicher Verallgemeinerungen. Aber auf zwei Faktoren weist Eibich hin, die generell für das Verhältnis zwischen – wenn vorhandener – staatlicher Polizeibehörde und städtischer Selbstverwaltung von Bedeutung waren. Das in den 1850er Jahren wieder erstarkende Verordnungsrecht der Polizeibehörden konnte das Gewicht zugunsten staatlicher Einflussrechte ebenso beeinflussen wie finanzielle Abhängigkeiten vom Staat die Kommune bewogen haben konnten, die Initiative auf dem Gebiet der örtlichen Wohlfahrtspflege dem Staat zu überlassen. Jedenfalls für Berlin kann Eibich nachweisen, dass kommunale Sozialpolitik über weite Strecken keine von der Selbstverwaltung ausgehende, sondern staatliche Sozialpolitik war.

 

Worin besteht nun der Ertrag dieser umfangreichen Untersuchung? In verwaltungsgeschichtlicher Hinsicht liegt mit Eibichs Buch ein gewichtiger Beitrag zur Geschichte staatlicher Kommunalverwaltung, deren Leistungsfähigkeit und Grenzen, vor und eine Art Werkbiographie zu einem bemerkenswerten Verwaltungspraktiker. Allerdings – auch dies muss gesagt werden – wird der lokalgeschichtliche Rahmen kaum überschritten – zum einen, weil auf Bezüge zur deutschen oder gar europäischen Entwicklung weitestgehend verzichtet wird, zum anderen weil Vergleiche auch schwer fallen dürften: personell wegen der Sonderstellung Hinckeldeys, insbesondere aufgrund seiner besonderen Beziehungen zum Monarchen, örtlich wegen der administrativen Sonderstellung Berlins. Und diese Besonderheiten müssen zudem noch in den Zusammenhang gestellt werden mit den Zeitumständen, die Hinckeldeys Amtszeit prägten und die er selbst prägte: Auf der einen Seite überzog politischer Rauhreif die Landschaft und Rechtsverachtung konnte sich breitmachen; andererseits trieb der wirtschaftliche „take off“ der 1850er Jahre den Biedermeier endgültig aus und die Verwaltung zeigte sich offen dafür, die soziale Frage auch praktisch anzugehen (Handwerkerkassen, Elberfelder System).

 

In rechtshistorischer Hinsicht verdeutlicht die Arbeit die Konsequenzen, die sich aus dem Zusammentreffen eines weiten Polizei- und eines engen Selbstverwaltungsverständnisses ergeben, wenn sich beides in der rechtlichen Kompetenzordnung niederschlägt – noch in den 1890er Jahren machte man es als den Geburtsfehler der preußischen Selbstverwaltung aus, dass staatliche Polizeiverwaltung neben kommunaler Selbstverwaltung letztere nicht zur Entfaltung kommen ließ; erst mit der Durchsetzung des engen Polizeibegriffs schien für die Selbstverwaltung zumindest in dieser Hinsicht mehr Raum gewonnen. Eibichs Untersuchung zeigt aber auch, dass der Gestaltungsspielraum der Kommune nicht allein durch Zuständigkeitsregeln determiniert war. Personelle, finanzielle und politische Faktoren trugen ihren Teil zur Aufgabenverteilung zwischen Kommune und Staat bei. Die Kommune, finanziell noch wenig leistungsstark und aufgrund ihrer Verhaftung an altständische Gestaltungsmuster eher zur Exklusion der neuen Armut neigend, war noch nicht bereit für die umfassende Übernahme von Aufgaben der Daseinsvorsorge. Ihre Stunde sollte erst später schlagen.

 

Greifswald                                                                                                                 Peter Collin