Die Rechtsquellen der Stadt Biel mit ihren „äußeren Zielen“ Bözingen, Vingelz und Leubringen, bearb. v. Bloesch, Paul mit einem Register von Weishaupt, Achilles, 2 Bände (= Sammlung schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Bern, erster Teil Stadtrechte, Bd. 13). Schwabe, Basel 2003. XLII, 1-424, 425-1101 S.

 

Das Recht der Stadt Thun und der Ämter Thun und Oberhofen, bearb. v. Dubler, Anne-Marie, 2 Halbbände (= Sammlung schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Bern, zweiter Teil Rechte der Landschaft, Bd. 11). Schwabe, Basel 2004. CVII, 1-466, 467-1198 S.

 

Wie lässt sich das Recht der vor 1798 aus einem „Fleckenteppich“ unterschiedlichster verfassungsrechtlicher Gebilde bestehenden Schweizerischen Eidgenossenschaft erfassen? Ein offenbar aussichtsloses Unterfangen, gäbe es nicht das seit über hundert Jahren bestehende, in Europa wohl singuläre Editionsprojekt der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Initiant und Träger dieses Projektes war und ist der Schweizerische Juristenverein, der sich seit seiner Gründung 1861 nicht nur für die nationale Rechtseinheit im Bundesstaat einsetzte, sondern, ganz im Sinne der Historischen Rechtsschule, auch die historischen Quellen des gegenwärtigen Rechtes aufdecken wollte. Zu diesem Zweck wurden zunächst in der vom Juristenverein herausgegebenen Zeitschrift für Schweizerisches Recht in etwas disparater Weise „vaterländische Rechtsquellen“ herausgegeben, also lokale Stadtrechte, Landrechte, Dorfrechte, Weistümer, Alprechte, Coutumes, geistliche Rechte etc., bis 1898 der erste separate Band mit Rechtsquellen erschien. Seither konnte die Rechtsquellenkommission des Juristenvereins rund hundert Bände der Öffentlichkeit übergeben, in den letzten Jahren erfreulicherweise in hoher Publikationsfrequenz. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass nicht alle Orte und Gebiete der heutigen Schweiz in gleicher Intensität aufgearbeitet werden konnten. Während zu einigen Orten wenige Rechtsquellen ediert werden konnten, ist namentlich das Gebiet des früheren Standes Bern – vor 1789 immerhin der größte Stadtstaat nördlich der Alpen – ausgezeichnet erschlossen. Dies geschah zunächst durch eine Reihe von Bänden zum Recht der Stadt Bern, die vom großen Berner Rechtshistoriker Hermann Rennefahrt (1878-1968) herausgegeben wurden, sodann aber auch durch weitere Editionen namentlich der ländlichen Herrschaftsgebiete des Standes Bern.

 

Die beiden vorliegend anzuzeigenden Bände erfassen die Rechtsquellen zweier Städte und ihres Umlandes im Einflussbereich Berns: die Stadt Biel im Norden von Bern und die Stadt Thun im Süden. Paul Bloesch legt die Rechtsquellen der Stadt Biel mit ihren „Äusseren Zielen“ Bözingen, Vingelz und Leubrigen vor, letzteres drei Dörfer, die von Biel rechtlich dominiert wurden. Biel wurde wahrscheinlich zwischen 1225 und 1230 vom Bischof von Basel, Heinrich II. von Thun gegründet und war in der Folgezeit ein Verwaltungszentrum im südlichen Teil des Fürstbistums Basel. Im Laufe des 13. Jahrhunderts emanzipierte sich die Stadt weitgehend, aber nicht völlig von der bischöflichen Herrschaft und schloss Burgrechtsverträge mit anderen Städten, so namentlich 1352 mit Bern. Als Verbündeter Berns war die Stadt ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft; völlige Souveränität erlangte sie nicht. Bis zum Ende des Ancien Régime lag Biel auf der Grenze zwischen zwei mächtigen Staaten, dem Fürstbistum und Bern, und konnte selber nur in beschränktem Masse ein eigenes Herrschaftsgebiet aufbauen. Die in den beiden Halbbänden in chronologischer Reihenfolge edierten 354 Rechtsquellen bestehen zunächst aus den für die Verfassungsentwicklung von 1230 bis 1792 maßgebenden Dokumenten, sodann aus anderen relevanten Texten zum Stadtrecht, angefangen vom ersten Stadtfrieden des Bischofs Peter von 1300 bis zur Müller-Ordnung von 1796. Wichtige Dokumente sind hier die Handfeste von 1352, die Erneuerten Stadtsatzungen von 1546 und 1553 und die Erneuerten Stadtsatzungen von 1614. Bezüglich der Letztgenannten bleibt noch zu klären, inwiefern die etwa zeitgleichen Berner Gerichtssatzungen aus den Jahren 1539 und 1614 von Einfluss gewesen sind und ob sich wie dort römisch-rechtliche Einflüsse zeigen. Die zahlreichen weiteren Ordnungen und Mandate befassen sich inhaltlich mit dem städtischen Leben in seiner ganzen Breite. Nachdem Biel 1528 zum evangelischen Glauben überging, musste die Stadt das Eherecht und das kirchliche Leben selber ordnen; 1537 wurde eine erste Ehe- und Kirchenordnung erlassen, welche 1560 umgearbeitet und erweitert wurde. Auch hier wäre es von Interesse zu wissen, ob und gegebenenfalls welche andere reformierte Ehegerichtssatzung Pate gestanden haben könnte. „Urtyp“ der Ehegerichtsordnung im reformierten Raum war bekanntlich die Ehegerichtsordnung Zwinglis von 1525.

 

Anne-Marie Dubler legt nach dem Emmental, Burgdorf und dem Oberaargau mit dem Band Thun-Oberhofen bereits den vierten Rechtsquellenband vor. Thun, an der Grenze zwischen Berner Oberland und Unterland gelegen, war wie Burgdorf eine wichtige Berner Landstadt und fand seine Existenzberechtigung als Drehscheibe des Transitverkehrs und als Marktplatz, auf dem Wein und Korn gegen Butter und Vieh ausgetauscht wurden. Ab 1218 unter der Herrschaft der Kiburger, wurde die Stadt 1384 von Bern erworben und verblieb unter dessen Herrschaft bis zum Ende des Ancien Régime. Der Schultheiß von Thun verwaltete in Nachfolge der gräflichen Herrschaft nicht nur den Stadtbezirk mit seinem erweiterten Friedenskreis, sondern auch eine Reihe weiterer Herrschaften und Gerichtsbezirke, die Bern vom Ende des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts sukzessive erwarb. Neben diesem größerem existierte der vergleichsweise kleine, einem Vogt unterstellte Amtsbezirk Oberhofen am Thunersee. Die Rechtsquellenedition folgt dieser Territorialeinteilung des Berner Stadtstaates. Im ersten Teil werden die ältesten Thuner Handfesten von 1264 und 1316 ediert, welche zur Stadtrechtsfamilie von Freiburg im Uechtland gehören, die Thuner Handfesten vom 15. bis zum 18. Jahrhunderts, die Thuner Stadtsatzungen des 15. und 16. Jahrhunderts, welche Zusätze und Ergänzungen des Stadtrates zu den Handfesten enthielten, und sodann eine große Zahl weiterer städtischer Rechtsquellen. Die Thuner Stadtsatzung von 1535 steht im gleichen Reformkontext wie die Bieler Stadtsatzungen von 1546 und 1553 und wie die Berner Gerichtssatzung von 1539. Die in der Präambel der Stadtsatzung ausgewiesene Mitwirkung des Thuner Schultheißen zeigt eine gewisse Einflussnahme Berns auf die Rechtsentwicklung in Thun. Der zweite Teil der Edition enthält die Rechtsquellen des Amtes Thun, der dritte Teil jene des Amtes Oberhofen. Der letzte Teil gibt die Thun und Oberhofen beschlagenden Teile des Regionenbuches wieder, ein 1783 entstandenes Kompedium der Verfassungs- und Verwaltungsstrukturen des Berner Staates.

 

Die beiden Bände sind zunächst für die lokale Rechts- und Verfassungsgeschichte von eminenter Bedeutung. Hilfreich sind hier die Einleitungen der Autoren, welche den Leser über die politische Entwicklung, die zum Teil komplexen Verfassungsstrukturen und über die Gerichts- und Verwaltungsorganisation orientieren. Von großem Nutzen sind die Editionen jedoch auch zur Gewinnung weiterer Kenntnisse über die komplizierte Berner und Schweizer Rechtsgeschichte vor 1798, dies auch durch Ergänzung und Vergleich zu anderen Rechtsgebieten. Es ist zu wünschen, dass sich die rechtshistorische Forschung in der Schweiz wieder vermehrt dem Ancien Régime zuwenden wird. Mit Gewinn werden die Bände schließlich auch von Historikern konsultiert, die sich anderen Themen widmen, zumal sie reiches Quellenmaterial u. a. zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte enthalten.

 

Freiburg im Uechtland                                                             René Pahud de Mortanges