Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik, hg. v. Grunert, Frank/Seelmann, Kurt (= Frühe Neuzeit 68). Niemeyer, Tübingen 2001. X, 466 S.

 

Die Entdeckung Amerikas, der Fall der konfessionellen Einheit, die zunehmende Bedeutung neuer Handelsbeziehungen sowie die Zentralisierung staatlicher Macht sind Stichworte für eine komplexe Problemkonstellation, welche die vielfältigen theoretischen Bemühungen der spanischen Spätscholastik herausgefordert hat. Diese stand unter dem Leistungsdruck, christliche Tradition einerseits und frühneuzeitliche Modernität andererseits zu versöhnen. Die so genannte Spanische Spätscholastik oder Spanische Schule entstand gegen Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts.

 

Mit ihr begann der Aufbruch der spanischen Nation in ihre Klassik, die bis ins 17. Jahrhundert hinein reichte. Eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die 1998 in Basel stattfand, also dem Jahr, das durch die 500-Jahrfeier zur Entdeckung Amerikas auch in die wissenschaftlichen Disziplinen Einzug hielt, hat sich gerade mit den Problemen der Spanischen Spätscholastik vonseiten der Rechtsphilosophie, der politischen Theorie[1], der Strafrechtstheorie und der Wirkungsgeschichte auseinandergesetzt. Angeregt durch den DFG-Forschungsschwerpunkt „Die Entstehung des öffentlichen Strafens“ interessierten sich die Beiträge von Kurt Seelmann „Die gelehrte Strafrechtsliteratur in der Spanischen Spätscholastik. Skizze eines Forschungsprojektes“, von Frank Grunert, „Punienda ergo sunt maleficia. Zur Kompetenz des öffentlichen Strafens in der Spanischen Spätscholastik“ sowie von Daniela Müller, „Ketzerei und Ketzerbestrafung im Werk des Alfonso de Castro“ gerade für das gelehrte Strafrecht der Spanischen Spätscholastik[2].

 

Seelmann vertieft die Zurechnungsübertragung, die Proportionalität von Straftat und Strafe, die Klageformen und den theologischen Hintergrund. Grunert arbeitet heraus, dass die Selbsthilfekonzeption der spanischen Theologen als ein prägnantes Zeugnis dafür gelten kann, dass die Spanische Spätscholastik ein in allen Punkten strikt durchgeführtes Monopol der Staatsgewalt noch nicht vor Augen hatte. Trotz deren Votums zugunsten einer Selbsthilfe wurde noch kein Monopol der öffentlichen Strafgewalt angestrebt, sondern vielmehr eine „zivilrechtliche“ Verwirklichung von Ansprüchen, die ohne die Mitwirkung der positiven Rechtsordnung durchgesetzt werden darf. Müller arbeitet heraus, dass Alfonso de Castro (1495-1557) durch seine Lehre über verderbliche Bücher zur Verschärfung der Behandlung von in Spanien angeklagten Lutheranern führte, und dass ab 1558 der Bücherindex für ins Spanische übersetzte Bücher aus dem Ausland verschärft wurde. Die Drucker brauchten nun eine Lizenz des Rates von Kastilien. Neben Alfonso de Castro behandelt der Aufsatzsammelband der Tagung auch ausführlich die Stellungnahmen anderer Spätscholasten, so etwa des um dieselbe Zeit lebenden und lehrenden Domingo de Soto, dessen Lehrer Francisco de Vitoria, Francisco Suárez, Bartholomé de las Casas bis hin zu Diego de Covarrubias und Hugo Grotius.

 

Francisco de Vitoria, der als der führende Kopf der aufwühlenden Spanischen Spätscholastik galt, reflektierte in der frühen Neuzeit die rechtlichen, ethischen und theologischen Probleme der europäischen Expansion und entwickelte mit der Idee einer naturrechtlich begründeten und völkerrechtlich geordneten Staatengemeinschaft regulative Prinzipien, nach denen kulturelle und religiöse Andersheit rechtsförmig anzuerkennen, Kriege durch Reduktion der iustae causae einzudämmen und symmetrische Beziehungen zwischen den Völkern durch Kommunikation, d. h. Freizügigkeit, Handel, Mission, zu fördern sind. Er hat damit die zentralen universalistischen Ideen des christlichen Naturrechts auf internationale und interkulturelle Beziehungen angewandt. Der Aufsatz Michael Sievernichs („Toleranz und Kommunikation. Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria“) rückt anhand der Vorlesungen de Vitorias dessen Positionen zur Mission ins rechte Licht. De Vitoria wollte klären, aufgrund welchen Rechts die Barbaren unter die Herrschaft der Spanier gekommen waren, welche Befugnisse in zeitlichen und zivilen Angelegenheiten die spanischen Fürsten den Indios bzw. die Bischöfe oder die Kirche hatten, was die geistlichen und die Religion betreffenden Dinge anging. Nach de Vitoria hängt das Recht auf Mission (ius praedicandi) eng mit dem Titel der naturrechtlich begründeten Kommunikation unter den Völkern zusammen. Dazu gehört insbesondere das Recht auf Freizügigkeit, für das er u. a. die Argumente anführt, dass die Freundschaft mit allen Menschen und die gastliche Aufnahme von Fremden dem Naturrecht entspreche. Die Begründung des Rechts auf Verbreitung der christlichen Religion entfaltete de Vitoria in vier Schritten: Zunächst führt er eine biblische, dann eine naturrechtliche Begründung für die Mission an, nämlich den Missionsbefehl nach Markus 16, 15, naturrechtlich das Recht, den Willigen die Wahrheit mitzuteilen, soweit diese sich auf Heil, Glück und Erziehung beziehe. Aufgrund des natürlichen Rechts auf brüderliche Zurechtweisung und Liebe im Sinne der dilectio ergebe sich die Aufgabe, die Nächsten zurechtzuweisen, anzuleiten und über die göttlichen Dinge aufzuklären. Sodann habe der Papst als für die Verbreitung des Evangeliums in der ganzen Welt Sorge Tragender das Recht, einen Fürsten mit dieser Aufgabe zu betrauen. Allerdings dürften weder Krieg noch Okkupation stattfinden, wenn die Indios den Spaniern gestatteten, das Evangelium frei und ungehindert zu predigen. Sein Hauptaugenmerk lenkt de Vitoria auf die Behinderung der freien Verkündigung des Evangeliums, sobald die Bekehrten getötet, bestraft oder bedroht würden. Bei solchem Unrecht dürfe interveniert werden. Allerdings sei der Krieg nur ultima ratio, so dass stets geprüft werden müsse, ob alle anderen Mittel vorher ausgeschöpft wurden. Interessanterweise hat sich der Eingriff nach de Vitoria mehr am Vorteil für die Indios auszurichten als am eigenen Gewinn. Menschenopfer und Anthropophagie sind nach ihm Gründe für eine kriegerische Intervention, jedoch nicht die kulturelle Andersheit oder bloße moralische Verfehlungen. Die Oberhoheitsansprüche des Papstes und des Kaisers auf die neue Welt sollten entkräftet und die Indios gegen Angriffe auf ihre Freiheit und ihr Recht auf Selbstbestimmung geschützt werden, so der Beitrag von Felix Hafner/Adrian Loretan und Christoph Spenlé („Naturrecht und Menschenrecht. Der Beitrag der Spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte“). Allerdings kommt man nicht umhin zu sagen, dass de Vitoria die Sklaverei für eine gerechtfertigte Einrichtung hält, wenn er schreibt, dass die Indios nicht fähig seien, eine rechtmäßige Republik nach den Regeln der Menschlichkeit und Politik zu errichten, woraus sich eine Ungleichbehandlung der Indios ergibt und de Vitoria doch einen Herrschaftsanspruch der europäischen Völker über diese Urvölker rechtfertigt. Ein Krieg gegen die Indios sei jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn diese gegen das allgemeine und für jeden geltende Völkerrecht verstoßen sollten; dies arbeitet Dieter Janssen in seinem Beitrag „Die Theorie des gerechten Krieges im Denken des Francisco de Vitoria“ heraus.

 

Domingo de Soto, Schüler und Nachfolger Francisco de Vitorias im Konvent von San Esteban in Salamanca, sieht Natur- und Völkerrecht nicht nur in der Art ihrer Entstehung, sondern auch in ihrer Geltung unterschiedlich. Nach de Soto umfasst Naturrecht alles, was die Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Gattung betrifft, während Völkerrecht sich Fragen nach Besitz und Herrschaft (dominium) widmet. Während Naturrecht schon unter den unschuldigen Menschen gegolten habe, sei das Völkerrecht erst nach dem Sündenfall eingeführt worden. Natur-, Völker-, und Zivilrecht bestünden nebeneinander und bestimmten die menschlichen Verhältnisse in drei inhaltlich getrennten Bereichen. Jeder dieser Bereiche habe eine eigene und exklusive Geltungsgrundlage und gehe auf unterschiedliche Gesetzgeber zurück: Gott, die Natur, die menschliche Vernunft und den politischen Herrscher. De Soto ist aber noch nicht im neuzeitlichen Naturrecht verhaftet, nach dem es ein Streben nach einem oben geschlossenen Staat gibt. Vielmehr wandelt de Soto noch auf den Spuren Thomas von Aquins und der Naturrechtslehre des Mittelalters, nach der ein offenes Gemeinwesen angestrebt wird, in der sich die Stimme Gottes neben den Befehlen des Herrschers hören lässt, eine Gemeinde, in der Religion, Natur und Ethik von der Politik nicht getrennt, sondern mit dieser und miteinander vollkommen vermischt sind (Merio Scattola „Naturrecht als Rechtstheorie: Die Systematisierung des ‚res scholastica‘ in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto“).

 

Gleich drei Beiträge des Bandes befassen sich mit dem spanischen Theologen und Juristen Francisco Suárez (1548-1617). Nach Suárez hat die Auslegung eines Gesetzes Vorschriftcharakter und Korrekturfunktion. Der Interpret optimiere das Gesetz, indem er es nicht nur im zeitlichen, sondern auch im aristothelischen Sinne des Wortes aktualisiere, d. h. es verbessere und ändere, wenn dies erforderlich sei, um zu verhindern, dass es widersprüchlich, unnütz oder ungerecht werde; dies arbeiten Ernesto Garzón Valdés im Beitrag „Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung. Einige Thesen von Francisco Suárez“ und Robert Schnepf („Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation“) deutlich heraus. Wie bei Thomas von Aquin sieht auch Suárez das Gesetz als Möglichkeit, bei Übertretung eines Verbotes zu Gott zurückzukehren. Gott stehe es alleine zu, die Menschen zu sich „heimzuholen“. In seinem Beitrag „Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez‘ Tractatus de legibus ac Deo Legislatore“ arbeitet Norbert Brieskorn heraus, dass die lex aeterna eine Außenwirkung Gottes mit Verpflichtungscharakter darstelle, wobei alle übrigen Gesetze dieser lex in keinem Fall widersprechen dürften. Was die Theorie des gerechten Krieges angeht, vertritt Suárez, ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen, die Theorie des politischen Augustinismus. Im Hinblick auf die Mission der Indios heißt das für Suárez, dass man die heidnischen Fürsten wiederholt und in vornehmer Weise bitten müsse, die Glaubensboten zuzulassen. Erst wenn alles nichts nütze, dürfe man Gewalt anwenden (vgl. hierzu den Beitrag von Mariano Delgado „Die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Francisco de Vitoria, Bartholomé de las Casas und Francisco Suárez“). Gerade Bartholomé de las Casas, der sich im Unterschied zu de Vitoria lange in der neuen Welt aufgehalten hatte, nahm hinsichtlich der Mission eine rigide Abwehrstellung ein. In seinen Augen war der Mord in den Kriegen und die Ausbeutung als Mittel zur Verkündigung des Evangeliums immer ein Skandal und ein Sakrileg. Nach seiner Auffassung mussten nicht nur die ungläubigen Indios, sondern auch die Spanier selbst erlöst werden. Dadurch kehrte er die Theorie um, das Seelenheil der Gläubigen sei in Gefahr und nicht das der Ungläubigen. De las Casas erreichte durch seinen Protest gegen die Unterdrückungsmaßnahmen der spanischen Conquista bereits im Jahre 1512 die Einberufung einer Kommission zur Klärung rechtlicher und ethischer Probleme der Kolonialpolitik durch König Ferdinand in Burgos. 1513 trat eine Verordnung in Kraft, wonach die verheirateten Indiofrauen nicht gezwungen werden konnten, mit ihren Männern zusammen in den Bergwerken zu arbeiten. Jungen und Mädchen unter 14 Jahren durften ferner nicht zur Zwangsarbeit verpflichtet werden. Die Arbeitszeit in den Kommenten, d. h. den Kronbewilligungen, welche Privatleuten Indios und deren Arbeitskraft zur Verfügung stellten, wurde überdies auf neun Monate beschränkt, damit die Eingeborenen in der verbleibenden Zeit ihre eigenen Felder bestellen konnten. Zu Recht kann man die bereits im 16. Jahrhundert eingeleitete Sozialgesetzgebung als beachtliches Ergebnis der spätscholastischen Völkerrechtsethik sehen, zumal im übrigen Europa noch im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der sich aus der Industrialisierung ergebenden Arbeiterproblematik weithin jedes Bewusstsein fehlte. Die „neuen Gesetze“ (leyes nuevas) Karls V. vom 20. November 1542 sollten den Schutz der Indios sicherstellen und deren Versklavung untersagen. Karl ordnete die sofortige Freilassung der bereits versklavten Indios an, wenn die Besitzer vor den königlichen Gerichten keinen rechtmäßigen Erwerbstitel nachweisen konnten. Seine Gesetze waren eindeutig: „Wer freie Indios gegen ihren Willen zur Perlenfischerei zwingt, wird mit dem Tode bestraft“; Allerdings wurden diese Vorschriften in der Praxis recht oft unterlaufen. Dass die Lehren von Suárez Hugo Grotius inspirierten, ist nicht neu und wird durch den Beitrag Alfred Dufours („Les ‚Magni Hispani‘ dans l’œuvre de Grotius“) anschaulich dokumentiert.

 

Gerald Hartung geht der Frage nach, wie die spätscholastische Gesetzestheologie die Naturrechtsdebatte der frühen Neuzeit beeinflusst hatte. Peter Landau ergründet schließlich noch, in welchem Ausmaß sich die Spanische Spätscholastik auf die kanonistische Lehrbuchliteratur gestützt hat; dazu widmet er sich den opera omnia des Diego de Covarrubias, der erst Anfang des 18. Jahrhunderts allgemein rezipiert wurde. Landau hält fest, dass die Spätscholastik stärker das weltliche Zivilrecht als das festgefügte kanonische Recht beeinflussen konnte. Als Anhang enthält der Band eine sehr brauchbare Recherche Sven Knebels, die zusammenträgt, was die Jesuitenscholastik des 17. Jahrhunderts in Salamanca hervorgebracht hat.

 

Fazit: Der vorliegende Tagungsband schließt in der Tat eine klaffende Lücke in der Erforschung der so genannten Spanischen Schule, die zwischen Mittelalter einerseits und aufkeimender Neuzeit andererseits als mit eigenen Charakteristika bestückte Epoche eine wichtige Mittelstellung in der Rechtsentwicklung einnimmt; dies formuliert noch einmal der Beitrag Rainer Spechts „Die Spanische Scholastik im Kontext ihrer Zeit“. Die Spanischen Spätscholastiker haben es vor allem der katholischen Theologie erleichtert, in den nachfolgenden Jahrhunderten in den Dialog mit der modernen Rechtswissenschaft zu treten.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen



[1] Der Vollständigkeit halber seien folgende drei Beiträge aus der Abteilung „Politische Theorie“ des Tagungsbandes erwähnt: Annabel Brett („The Good Man and the good Citizen. Miguel de Palacios and an Aristotelian question in the Spanish second scholastic“); Ulrich Dierse („Widerstand gegen den ungerechten Herrscher bei Juan de Mariana und einigen anderen Autoren“) sowie Manfred Walther („Potestas multitudinis bei Suárez und potentia multitudinis bei Spinoza. Zur Transformation der Demokratietheorie zu Beginn der Neuzeit“).

[2] Vgl. hierzu den Beitrag von Elmar Wadle/Thomas Gergen, Die hochmittelalterlichen Gottes- und Landfrieden und das Strafrecht. Ein Forschungsbericht, Klaus Lüderssen/Klaus Schreiner/Rolf Sprandel/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen (im Druck) sowie Thomas Gergen, Pratique juridique de la paix et trêve de Dieu à partir du concile de Charroux (989-1250). Juristische Praxis der Pax und Treuga Dei ausgehend vom Konzil von Charroux (989-1250), Frankfurt/Main 2004 (Rechtshistorische Reihe 285) sowie Ders., Gottesfriede und Treuga Dei im Spiegel zeitgenössischer Rechtspraxis und Dichtung in Frankreich und Spanien, in: magazin Forschung 2/2003 der Universität des Saarlandes, S. 15-23.