Der Europäische Konvent und sein Ergebnis – eine Europäische Verfassung. Ausgewählte Rechtsfragen samt Dokumentation, hg. v. Busek, Erhard/Hummer, Waldemar (= Europapolitische Reihe des DDr.-Herbert-Batliner-Europainstitutes 2). Böhlau, Wien 2004. 381 S.

 

Die Europäische Union bekommt eine Verfassung. Der Verfassungsvertrag wird auf dem Entwurf des Europäischen Konvents beruhen, den der Konventsvorsitzende Valéry Giscard d’Estaing dem Präsidenten des Europäischen Rates am 18. Juli 2003 überreichte. Der Analyse dieses Entwurfes ist der vorliegende Band gewidmet. Er enthält Beiträge, die auf einer Tagung des Europäischen Forums Alpbach im Mai 2003 gehalten wurden und den Text des vom Konvent verabschiedeten Verfassungsvertragsentwurfes. Zwar haben die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten noch eine Reihe von Änderungen vorgenommen und auch die Zählung der Vorschriften geändert. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa in der Fassung vom 8. August 2004, der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde, basiert dennoch zu wesentlichen Teilen auf dem Entwurf des Konvents. Deshalb sind die Beiträge des vorliegenden Bandes von bleibender Aktualität, zumal eine Reihe von Grundsatzfragen behandelt werden.

 

Dies gilt bereits für den einführenden Beitrag Heinrich Schneiders, der den Verlauf der Diskussionen in Europa um Integration und Verfassung seit 1949 nachzeichnet. Die Betrachtung der Positionen, die schon seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1957 sehr unterschiedlich waren, macht die Kontroversen deutlich, die durch die Dynamik der Rechtsentwicklung durchaus bewusst überdeckt wurden. Der Entwurf zu einem Verfassungsvertrag könnte dadurch eine neue Entwicklung anstoßen, dass eine bestandsfeste Grundlage geschaffen wird, anhand derer die immer noch auseinander klaffenden Positionen ausdiskutiert werden können.

 

Grundlegende Erwägungen zu einer EU-Verfassung stellt Waldemar Hummer an, dessen Erkenntnisinteresse auf den Übergang von der bisherigen EU zur formell verfassten EU gerichtet ist. Der Hinweis auf allein 10 obligatorische Referenden verdeutlicht, dass vor dem Inkrafttreten der Verfassung noch ein mühevoller Weg zurückzulegen ist. Hinsichtlich der Verbandsgewalt der EU sieht Hummer kritisch, dass die Verfassung von abgeleiteten Hoheitsrechten spreche und damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur eigenständigen Rechtsordnung der Gemeinschaft untergrabe. Schon nach dem Wortlaut des Konventsentwurfes erscheint diese Kritik insoweit überzogen, als dort die Zuweisung von Hoheitsrechten im Sinne des Prinzips der begrenzten Ermächtigung aufgegriffen wurde und damit keine Minderung von Supranationaliät verbunden sein muss. Der endgültige Entwurf eines Verfassungsvertrages hat den Wortlauf des Art. I-1 insoweit geändert und den von Hummer gerügten Möglichkeiten der Interpretation dadurch einen Riegel vorgeschoben, dass ganz auf den bisherigen Rechtszustand abgehoben wird und nur noch von der Ausübung zugewiesener Kompetenzen zur Erreichung gemeinsamer Ziele die Rede ist. Allerdings besteht das von Hummer beschriebene Spannungsverhältnis zu der enumerativen Aufzählung von Kompetenzfeldern fort. Die Organe, die zur Ausübung der Kompetenzen der EU zur Verfügung stehen, bleiben weit gehend gleich. Dadurch ist die Funktionenzuordnung, die Hummer mit der Gewaltenteilung im Staat vergleicht, ein auf der Grundlage der Verfassung näher zu analysierendes Grundproblem. Hummer hat in seinem Beitrag dafür den Rahmen beschrieben.

 

Der Beitrag Elisabeth Tichy-Fisslbergers schildert Zwischenergebnisse des Konvents und ist im Rahmen einer historischen Interpretation der Verfassung von Interesse, da er das Zustandekommen bestimmter Vorschriften und die einschlägigen Diskussionen im Konvent wiedergibt.

 

Allgemeine Fragen des Grundrechtsschutzes in der EU, insbesondere die Aufnahme der Grundrechte-Charta in die Verfassung, erörtert Christoph Grabenwarter. Die Grundrechte-Charta ist unverändert als Teil II in die Verfassung aufgenommen worden. Damit erhalten künftig die schon jetzt heiß umstrittenen Fragen des Verhältnisses zur Europäischen Menschenrechtskonvention und des Einflusses der EU-Grundrechte auf die innerstaatliche Rechtsanwendung einen neuen Kontext. Grabenwarter stellt den gegenwärtigen Stand der Diskussion dar und sieht für die Zukunft nicht allzu viele neue Konfliktfelder. Divergenzen in den unterschiedlichen Texten ließen sich interpretativ auflösen. Dem kann man sicherlich dem Grunde nach zustimmen. Allerdings greift die Annahme, das Verhältnis der Grundfreiheiten zu den Grundrechten ändere sich nicht, angesichts der Dynamik, die Rechtsentwicklungen in der EU inne wohnt, zu kurz. Die von Grabenwarter nur angedeuteten Differenzierungen nach der jeweiligen Grundfreiheit werden noch erhebliche Bedeutung gewinnen.

 

Speziell zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention nimmt Wolfram Karl Stellung und befürwortet den Beitritt als Verbesserung der individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten und damit der Durchsetzung der Menschenrechte insgesamt. Als politische Zielsetzung war dies unter den Mitgliedstaaten konsensfähig. Der Verfassungsvertrag enthält den Beitritt zur EMRK als Verfassungsziel (jetzt Art. 9 Abs. 2, früher Art. 7 Abs. 2 des Konventionsentwurfs). Bisher bestehende Schwierigkeiten bei der menschenrechtlichen Kontrolle von Rechtsakten der EU und bei der Ausgestaltung des Kooperationsverhältnisses zwischen Europäischem Gerichtshof und dem Straßburger Gerichtshof würden dadurch zumindest vermindert. Gerade das komplizierte Verhältnis der beiden Gerichtsbarkeiten scheint Karl aber zu unterschätzen. Er nennt die Argumente gegen einen Beitritt, wischt sie aber recht schnell vom Tisch. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen EuGH und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte bedarf einer sehr sensiblen Regelung. Die EU ist auch mit einer Verfassung nicht einfach ein Mitgliedstaat mehr in der EMRK, sondern ein komplexes Gebilde mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die auch auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes Berücksichtigung finden müssen. Eine Rechtsfrage in diesem Zusammenhang spricht Karl an: Falls Organe der Mitgliedstaaten Recht der EU vollziehen, wäre dann gegen eine Einzelmaßnahme eine Menschenrechtsbeschwerde gegen den Staat oder die EU zu richten? Wer haftet? Karl lässt die Frage offen und nimmt damit seinem Plädoyer für den Beitritt der EU zur EMRK einen Teil seiner argumentativen Wirkung.

 

Aus der Sicht der bisherigen Diskussionen um die EU seit dem Vertrag von Amsterdam ist die Rechtsnatur und Rechtspersönlichkeit der Union eine zentrale Problemstellung. In der Literatur sind schon nach gegenwärtiger Rechtslage die Grundpositionen sehr unterschiedlich. Vor diesem Hintergrund untersucht Walter Obwexer die Zusammenführung von EU und EG in einem Verfassungsvertrag. Er schildert plastisch und detailliert die bisherige zersplitterte Rechtssituation und die im Rahmen des Konvents vorgebrachten Vorschläge für eine Neugestaltung. Dann geht er den Folgen nach, welche die Einräumung der Rechtspersönlichkeit für die Organstruktur und Kompetenzordnung hat. Ein Schwerpunkt liegt in der Schilderung der Außenbeziehungen, die eine EU mit Rechtspersönlichkeit dann auch formell selbst ausüben kann. Die sorgfältige Darstellung bezieht zwar die Rechtsprechung des EuGH zu den Außenkompetenzen ein, vernachlässigt allerdings die schon existierenden tatsächlichen politischen Gepflogenheiten. Rechtliche Neuerungen als Folgen der Einräumung einer Rechtspersönlichkeit stellen zum Teil nur bereits bestehende Usancen auf eine tragfähige Rechtsgrundlage, da die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union schon einen verfahrensrechtlichen Rahmen für außenpolitisches Handeln vorgibt. Obwexer konzentriert sich auf die Erläuterung der künftigen Rechtslage nach der Verfassung. Diese ist aber in der gegenwärtigen rechtlichen Situation stärker verwurzelt, als es scheinen mag.

 

Einen politisch-praktischen Zugang wählt Alfred Längle, der sich mit der Realisierung der Ergebnisse des Konvents und eventuellen Schwierigkeiten bei der Ratifikation des Verfassungsvertrages auseinandersetzt. Er schildert die im Konvent vorgeschlagenen Lösungen für die Ratifikation der Verfassung und prüft sie an völkerrechtlichen und europarechtlichen Maßstäben. Zur Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten sieht er zu Recht im Ergebnis keine Alternative.

 

Ebenso grundsätzliche wie umfangreiche Erörterungen nimmt Andreas Maurer vor, der sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive mit der Verwirklichung von Demokratie in der Verfassung und insbesondere der Rolle des Europäischen Rates beschäftigt. Damit geht es um Macht. Maurer nimmt kein Blatt vor den Mund und nennt die Staaten, die für oder gegen bestimmte Änderungen waren. Viele Schaubilder und Zahlen bilden Anschauungsmaterial für die Angelpunkte, an denen angesetzt werden kann, um das Machtgefüge in der EU zu verschieben. Im Vordergrund stehen die Entscheidungsverfahren mit Einstimmigkeit oder qualifizierter Mehrheit im Rat. Immer wieder stellt Maurer die Verbindung mit früheren Reformschritten und insbesondere dem Vertrag von Nizza her. Dies führt auch zu Darstellungen der internen Arbeit des Ministerrates und des Europäischen Rates und der Bemühungen um ihre Effektivierung. Die Kehrseite der Machtbefugnisse des Rates sind die Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments. Die Strategien zur Stärkung des Parlaments, die im Konvent verfolgt wurden, unterzieht Maurer einer eingehenden Bewertung. Parallel hierzu verläuft die Aufwertung der nationalen Parlamente durch die EU-Verfassung, die auf Unionsebene stärker einbezogen werden sollen. So berechtigt alle diese Anliegen im Einzelnen waren, tragen sie doch sicherlich nicht zur größeren Übersichtlichkeit des Verfassungstextes bei. Die Befugnisse des Europäischen Rates nach der Verfassung stellt Maurer dar, um sie ins Verhältnis zur Rolle des Rates zu setzen. Eine Schlüsselstellung nimmt künftig der Präsident des Rates ein. In der Ausgestaltung dieses neuen Amtes und seinem Verständnis und im ebenfalls neuen Amt des EU-Außenministers, das Maurer nicht behandelt, liegen die entscheidenden institutionellen Unterschiede zur bisherigen EU, an denen das künftige institutionelle Gleichgewicht ausgerichtet werden wird.

 

Das Buch ist mehr als ein Tagungsband. Es ist ein Kompendium grundlegender Erörterungen und weit gestreuter Informationen, die dazu beitragen das Fundament zu klären und zu festigen, auf dem die künftige Verfassung der Europäischen Union gebaut ist.

 

Mainz                                                                                                            Dieter Kugelmann