Crimes, pouvoirs et sociétés (1400-1800). Anciens Pays-Bas et Principauté de Liège, sous la direction de Dupont-Bouchat, Marie-Sylvie/Rousseaux, Xavier (= Anciens Pays et Assemblées d'Etats 104). UGA, Kortrijk-Heule 2001. 316 S.

 

Abgesehen von einer kürzen Einleitung enthält dieser Sammelband eine bibliographische Überblicksdarstellung zur Kriminalitätsgeschichte in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg (vom 14. bis zum 18. Jahrhundert) (S. 21-82) und die überarbeiteten und ergänzten Texte sechser bisher unveröffentlichter historischer Diplomarbeiten aus den Jahren 1981-1997. Weil das von Rousseaux verfasste Literaturverzeichnis schon 2000 auf deutsch publiziert worden ist (in: A. Blauert/G. Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne), lasse ich es hier außer Betracht. Die übrigen, methodisch von der französischen École des Annales angeregten Aufsätze stammen fast alle aus der Université Catholique de Louvain. Nur einer betrifft das (späte) Mittelalter und zwar die unter Herzog Philipp dem Guten (1439-1465) von gräflichen Amtsträgern in der Hennegauer Kastellanei von Ath ausgeübte Kriminalgerichtsbarkeit (S. 83-110), alle anderen behandeln Abschnitte des 17. und des 18. Jahrhunderts. Was in dieser Sammlung am ersten auffällt, ist die Tatsache, dass die Autoren und die Herausgeber das Territorium ihrer Forschungen der heutigen - die Sprachgrenze einfrierenden - politischen Einteilung Belgiens angeglichen haben. Die Worte ,Anciens Pays Bas’ im Buchtitel bedeuten in Wahrheit: die französischsprachigen Teile der südlichen (nach dem niederländischen Aufstand unter der Regierung der Habsburger gebliebenen) Niederlande. Ferner ist die Bezeichnung ,Principauté de Liège’ ein wenig irreführend, da der Beitrag von Pierre Bar, Justice ecclésiastique et répression de la sexualité à Liège aux XVIIème et XVIIIème siècles (S. 193-218) sich auf kirchliche Gerichtsarchive (des Offizials, des Generalvikars, der Archidiakone und ihrer Offiziale und der officiales foranei) stützt und die Diözese Lüttich die Grenzen des Fürstbistums immer überschritten hat. Zu Pierre Bars Beruhigung weise ich im Übrigen noch darauf hin, dass alle erhalten gebliebenen Bestände des Archives des (Haspengauer) archidiakonalen Offizials in Maastricht sich seit dem 31. März 2000 im Maastrichter Staatsarchiv befinden (vgl. S. 199, Fußnote 24: ,dont on a perdu la trace’).

 

Die hier veröffentlichten Abhandlungen sind sorgfältig ausgearbeitete Detailstudien, welche auf tiefgehende Archivforschungen beruhen und zugleich den Leser über die regionalen und die örtlichen Herrschaftsstrukturen und Gerichtsverfassungen unterrichten. Neben der Kastellanei von Ath und der Diözese Lüttich kommen die Brabanter Stadt Nivelles (zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts), die Lütticher Stadt Dinant (18. Jahrhundert) und - zweimal - die Grafschaft Namur (17. und 18. Jahrhundert) an die Reihe und öfters betonen die Autoren, dass ihre verschiedenartigen und unvollständig überlieferten Quellen nicht die ,komplette’ damalige Kriminalität, sondern die Haltung der Obrigkeit devianten Verhaltensweisen gegenüber widerspiegeln. L. Dubuisson nützte für seine Arbeit über die Kastellanei von Ath die Rechnungen vierer gräflicher Amtsträger. Ihre Einkünfte bestanden aus Friedensgeldern, Brüchen, Bußen und Ablösungstaxen für Strafwallfahrten, ihre Ausgaben standen mit der Verfolgung und der Aburteilung derjenigen Verbrecher, die für eine peinliche oder entehrende Bestrafung in Betracht kommen könnten, im Zusammenhang. Die letzten bildeten nur zehn Prozent der in den Rechnungen vorkommenden Verbrechen: das Strafrecht war fiskalisiert. Bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert war die Strafjustiz ,lohnend’; die Einkünfte übertrafen die Ausgaben. Um 1470 kündigte sich jedoch in Ath, wie auch in anderen Hennegauer Verwaltungsbezirken und in Brabant, der Bankrott der fiskalisierten Gerichtsbarkeit an. Bei etwa unverändert bleibenden Ausgaben sanken die Einkünfte  (S. 109, 110). Vielleicht hängt dies mit dem Versiegen einer wichtigen Einnahmequelle, nämlich der Beträge, die nach anderswo ausweichende Totschläger für die Erlaubnis zur Rückkehr in den Hennegau dem gräflichen Vogt bezahlen mussten, zusammen. (Die Aussöhnung oder ,paix à partie’ der Familie des Opfers einer einfachen Tötung mit der Familie des Totschlägers hatte zuvor stattgefunden). Nach 1465 fingen die Burgunder Herzöge nämlich an, sich häufiger der Institution der ,lettres de rémission’ oder Gnadebriefe zu bedienen (S. 101). Damit konnte ein Täter (meistens ein Totschläger) für viel Geld vom Landesherrn, in diesem Falle: vom Geheimen Rat in Brüssel, die Niederschlagung des (noch nicht angefangenen) Strafverfahrens erwirken. Auch diese Gnade bedurfte der vorausgehenden Zustimmung des Opfers, beziehungsweise der Familie des Getöteten. Bei dem Entscheidungsprozess wurden die provinzialen Gerichtshöfe und die lokalen Gerichte eingeschaltet. Dem Phänomen dieser Gnadebriefe ist der von Dupont-Bouchat und Vincent Noël verfasste Aufsatz ,Le crime pardonné: les lettres de rémission du Conseil Provincial de Namur au XVIIème siècle’ gewidmet (S. 219-271). In den Archiven des Provinzialrates von Namur kommen etwa 165 Begnadigungssachen vor, von denen neunzig Prozent versehentliche, durch Zufall geschehene oder fahrlässige Tötungen betreffen. In Wirklichkeit begegnen wir hier, wie in Ath, wieder der alltäglichen und üblichen Gewalt, die besonders von der Landbevölkerung regelmäßig in Gaststätten und Kneipen oder während der Hochzeitsfeiern und Jahrmärkte und auf dem Rummel angewendet wurde. Der Geheime Rat genehmigte zwei Drittel der Anträge, zahlreiche Begnadigungen entgleisten dann jedoch in der Schlussphase, in welcher der Conseil de Namur die fürstliche Entscheidung nachprüfen und bekräftigen musste und der Begnadigte die Gerichtsgebühren und die Brüche zu bezahlen hatte. Die Aussöhnung mit der Familie des Opfers war immer ganz ruhig und ohne Rachsucht der Betroffenen vonstatten gegangen, aber die letzten Zahlungen fielen schwer ins Gewicht (S. 269). Warum die Anzahl der ,lettres de rémission’ vom Ende des 17. Jahrhunderts an, und vor allem im 18. Jahrhundert, zurück gegangen ist, bleibt noch unklar. Die Autoren stellen die These auf, dass die Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang nicht verschwunden sind, sondern dass nur die Art der Täter sich geändert (und ,professionalisiert’) hat. Nach 1750 waren die Totschläger nicht mehr übermütige Vandalen und Kneipenhocker, sondern Straßenräuber, Mitglieder von Räuberbanden und Vagabunden. Diese Art Leute wurde schonungslos peinlich abgeurteilt und bestraft  von einem Sondergericht (,Jointe criminelle de Namur’) und kam überhaupt nicht in Betracht für Gnadebriefe. Von der von Pierre Chaunu postulierten Transformation einer Gewaltkriminalität in Vermögensdelikte ist wahrscheinlich keine Rede. Die Autoren verweisen uns in diesem Zusammenhang auf den Beitrag von Marie-Paule Page-Steffens und M.-S. Dupont-Bouchat  über ,L'activité pénale du Conseil provincial de Namur au XVIIIème siècle [1747-1786]’ (S. 273-316). Am Ende des Ancien régime hatte der Provinzialrat  seine ursprünglich sehr beschränkte Zuständigkeit in Strafsachen (nur als Gericht in erster Instanz für Straftaten der Gerichtspersonen und ihrer Familien, der Advokaten und Prokuratoren und so weiter, wie auch für diejenigen der nicht-adligen Mitglieder der Provinzialstaatenversammlung) auf eine Kontrolle über die Amtsführung der Untergerichte und - daran anschließend - auf die Berufungsgerichtsbarkeit in Strafsachen ausgedehnt. Der Conseil de Namur hat auch ab dem Jahr 1777 spärlich Gefängnisstrafen auferlegt (S. 302). Man kann diese Änderungen als Zeichen einer gewissen Modernisierung betrachten, aber die Tatsache, dass das Gericht in fast fünfzig Prozent der Urteile noch immer auf die vertrauten Verbannungen, denen öfters entehrende peinliche Strafen vorangegangen waren, erkannte, mahnt den Leser zur Vorsicht  (S. 305).

 

Für seine Studie ,Tensions locales et ménaces extérieures. Criminalité et répression dans la région nivelloise durant la seconde moitié du XVIIème siècle’ hat Xavier Rousseaux die Quellenreihen, insbesondere die Terminregister, fünf in der Stadt Nivelles und in der Umgebung tätiger Hochgerichte analysiert, wobei er sich auf die von Amts wegen eingeleiteten Strafverfolgungen beschränkt hat (S. 111-146). Er vermittelt uns das bekannte Bild von nur mit Geldbußen und Verbannungen (und selten!) bestraften Diebstählen, kleinen Vermögensdelikten, Beleidigungen, Schlägereien und Messerstechereien. Es gab kaum eine organisierte Fahndung nach den Verbrechern. ,Die Justiz ist zufrieden mit einem harten Vorgehen gegen die Leute, die sich in ihren Netzen fangen’, und das sind gewöhnlich die nicht aus Nivelles stammenden 'Fremden’ (S. 139).

 

Das Archivmaterial, das J. B. Page für seinen Beitrag ,L'activité pénale de l'échevinage de Dinant au XVIIIème siècle (1700-1770)’ zur Verfügung stand, bestand hauptsächlich aus ungeordneten Aktenbündeln des Schöffengerichts, aus denen der Autor Daten über 325 Strafsachen (aber nur 41 Urteile) sammeln konnte. Es wird den Leser nicht erstaunen, dass der größere Teil der Prozesse Körperverletzungen und Beleidigungen, welche sich zwischen der Kneipe und der Gosse abgespielt hatten, betraf. Es gab auch eine stattliche Menge von Verletzungen der öffentlichen Ordnung und der - durch den bischöflichen Schöffenstuhl und das Gerichtspersonal verkörperten - ,Autorität’. Wie es scheint hat das Gericht den Übeltätern, vor allem den Personen, die Gewalt angewendet hatten, meistens Geldstrafen auferlegt. Über die relative Frequenz anderer Strafarten ist wenig bekannt, aber der Autor vertritt die Ansicht, dass, anders als in den Niederlanden, im Fürstbistum Lüttich die Gefängnisstrafe niemals bestanden habe (S. 189-190). Das Letzte verwunderte mich, weil Pierre Bar in seinem schon erwähnten Beitrag über die kirchliche Gerichtsbarkeit mitteilt, dass der Offizial mit Gefängnis, Verbannung und Geldbuße bestrafen konnte (S. 198). Wie dem auch sei, für den Autor bestand das zentrale Thema seiner Studie in der Lösung der Frage, ob die Lütticher kirchliche Justiz  im Zeitalter nach dem Tridentinum wirklich versucht habe, die Sexualethik und die geschlechtliche Moral der Bevölkerung zu ,christianisieren’ oder zu ,zivilisieren’. Die Antwort ist ziemlich ernüchternd: Die Kirche wendete sich energisch gegen das Konkubinat (obwohl die Zusammenlebenden öfters nur ihres Verwandtschaftsgrades wegen nicht heiraten durften), ließ jedoch die Prostitution ungestört. Es hat den Anschein, dass der Hauptzweck der richterlichen Tätigkeit die Konsolidation der kirchlichen Kontrolle über die Ehe und auf diesem Weg über das Privatleben der Gläubigen gewesen ist (S.218).

 

Zusammenfassend stelle ich fest, dass der besprochene Sammelband uns viel Wissenswertes über die Erregbarkeit unserer Voreltern - die Familie des Rezensenten stammt aus Ath - beibringen kann, aber mehr lehrt über die Mentalität der weltlichen und kirchlichen Richter und Strafverfolgungsbeamten.

 

Beek-Ubbergen (Nl.)                                                                                                 Paul Nève