Berghahn, Volker Rolf, Das Kaiserreich 1871-1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (= Gebhardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 16). Klett-Cotta, Stuttgart 2003. XLI, 445 S.

 

Im Zentrum des 16. Bandes des Handbuches der deutschen Geschichte stehen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Angesichts der demographischen und ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts ist dieser Schwerpunkt sicherlich berechtigt. Z. B. lebten bei Reichsgründung fast 64% der Bevölkerung auf dem Land, 1910 waren es noch 40%. Errichteten 1871 Konfession und Region noch die „deutlichsten Trennwände innerhalb der Bevölkerung“ (S. 398), am Ende des Kaiserreichs hatte sich eine Klassengesellschaft herausgebildet. „Es hatte 1871 alles so hoffnungsvoll begonnen.“ (S. 396) Am Ende stand die Krise: Die Integration der Arbeiterschaft, der ethnischen und kulturellen Minderheiten war gescheitert. Innenpolitisch war das Reich zerrissen, finanziell hoch verschuldet und außenpolitisch isoliert.

 

Die politische und Ereignisgeschichte werden mit 120 Seiten am Ende des Buches relativ knapp abgehandelt. Die „Grundlinien der politischen Entwicklung des frühen Kaiserreichs“ (S. 279) sind zudem nicht in Band 16, sondern in Band 15 des neuen Gebhardt enthalten. Über Bismarck und seine Politik wird erstaunlich schnell hinweggegangen.

 

Im Abschnitt „Der politische Raum“ befasst sich Volker Berghahn auch mit der in Westeuropa sonst unbekannten Art der Verfassung des Kaiserreichs, dem preußisch-deutschen Konstitutionalismus, der „absolutistisch-monarchische mit parlamentarisch-repräsentativen, demokratisch-plebiszitären und föderativen Elementen zu einer eigenartigen Mischung“ verband (S. 290). Relativ ausführlich referiert der Autor zur Entwicklung des Parteiensystems, der Gewerkschaften, der Arbeitergesangsvereine, Arbeitersportvereine sowie der Arbeiter-Bildungsausschüsse und der zahlreichen Verbände und Vereine bis hin zu den Organisationen ethnischer und religiöser Minderheiten und der Frauen, denen bis 1908 eine politische Betätigung untersagt war. Auch nach Auslaufen der Sozialistengesetzte boten sich dem Polizeistaat vielfältige Möglichkeiten zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung. Die rechtliche Grundlage bildete nicht nur das Strafgesetzbuch mit den §§ 130 (Aufwiegelung) und 360 (grober Unfug) bzw. den §§ 185 (Ehrverletzung), 240 (Nötigung) und 241 (Ankündigung eines Verbrechens zur Aburteilung der Konflikte zwischen Streikenden und Streikbrechern), sondern auch z. B. die Straßenverkehrsordnung zur Verhaftung von Streikposten wegen angeblicher Behinderung des Verkehrs.

 

Die „Allgegenwart von Interessenverbänden“ im Kaiserreich trieb die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Systems nicht etwa voran, sondern förderte eine „Ideologisierung und Dogmatisierung der Politik“ und trug dazu bei, „das politische Leben in kompromissunfähige Blöcke umzugestalten“ (S. 355). Zu jeder Bewegung bildeten sich nämlich alsbald Abwehrorganisationen wie beispielsweise der 1912 gegründete „Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“. Diese Polarisierung, die anhaltende Ausgrenzung der Arbeiterbewegung, die Nationalisierung der aufstrebenden Mittelschichten, das Machtstreben der Elite und die durch die Rüstungspolitik verursachte Finanzkrise mit den untauglichen Lösungsversuchen der Exekutive führten die Monarchie immer tiefer in die Sackgasse mit ihrem bekannten Ende nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, der Inhalt von Band 17 ist.

 

Wie bei den übrigen Bänden des Gebhardt finden sich einleitend eine ausgedehnte Bibliographie und im Anhang eine ausführliche Chronologie des Jahrhunderts.

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour