Willett, Olaf, Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 146). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001. 459 S. 21 Abb.

 

Bei dem Buch handelt es sich um eine philosophische Dissertation, die 1999 an der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde. Der Autor legt eine „kollektivbiographische Professorengeschichte“ (S. 21) vor, von der er sich zu Recht eine Bereicherung der Material- und Vergleichsbasis für künftige universitätshistorische Forschungen, nicht zuletzt im Interesse einer „zweifellos überfällige(n) Gesamtdarstellung des deutschen Universitätswesens, speziell der Hochschullehrerschaft“ (S. 19) verspricht.

 

Die Arbeit beruht bei insgesamt solider Quellenlage auf der offensichtlich akribischen Auswertung einschlägiger Archivalien des Universitätsarchivs Erlangen sowie des dortigen Stadtarchivs. Ergänzend wurden der aus Anlaß der 250-Jahrfeier der Universität Erlangen im Jahre 1993 entstandene Catalogus Professorum der Theologie und der Jurisprudenz von 1743 bis 1960 und Erlanger Kirchenbücher herangezogen. Auf partiell „eingeschränkte Überlieferungslage(n)“ bzw. „lückenhafte Materiallage(n)“ (S. 300) weist der Autor jeweils gesondert hin.

 

Gegenstand von Willetts „Grundstudie auf der Mikroebene“ (S. 25) sind jene 341 Personen, die zwischen 1743, dem Jahr der Gründung der Universität, und dem 7. April 1933, dem Tag des Erlasses des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, in Erlangen zu ordentlichen Professoren berufen wurden. Die zeitliche Begrenzung der Studie auf dieses Datum erfolgte „in Anbetracht der einschneidenden Veränderungen, welche die Rekrutierungs-, Berufs- und politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfuhren“ (S. 23). Innerhalb des Untersuchungszeitraumes unterscheidet Willett vier Zeitsegmente (1743-1810, 1811-1848, 1849-1890, 1891-1933), deren Zäsuren, sofern sie nicht aus der Spezifik Erlangens resultieren (vgl. S. 65 Anm. 4), sich an die in der universitätsgeschichtlichen Forschung üblichen anlehnen.

 

Die Arbeit ist in 5 Kapitel gegliedert, von denen das erste Einführungscharakter trägt („Untersuchungsgegenstand und Schauplatz“, S. 29ff.). Es gibt Auskunft über die quantitative Entwicklung des Lehrkörpers, das zahlenmäßige Verhältnis von Ordinarien und Nichtordinarien nach Fakultäten sowie diesbezügliche Erlanger Besonderheiten in der Relation zu allgemeinen Trends der deutschen Universitäten. Daß die juristische Fakultät am zahlenmäßigen Wachstum des Lehrkörpers auf fast das Vierfache im Verlauf von 180 Jahren (1750 bis 1930) nicht teil hatte - die Zahl ihrer Ordinarien betrug am Ende wie am Beginn des Untersuchungszeitraumes je sechs - dürfte freilich kein Spezifikum Erlangens sein, sondern so oder ähnlich auch auf andere kleine und mittlere Universitäten zutreffen. Den Universitätsstandort Erlangen charakterisiert Willett anhand seiner demographischen und ökonomischen Entwicklung als „,kleine Mittelstadt’“ (S. 52) ohne sonderliche innere Vorzüge oder äußere Reize, ein Schicksal, das Erlangen ebenfalls mit anderen Universitätsstädten dieser Größenordnung teilte.

 

Überhaupt: Wollte man Erlangen einen bestimmten Platz im System der deutschen Universitäten zuweisen, so fiele dies einigermaßen schwer. Willett versucht es dennoch gelegentlich und spricht unter jeweils verschiedenen Aspekten von „Erlangens Randposition“ (S. 122), von der „bescheidenen Stellung Erlangens“ (S. 214), von der „peripheren Stellung des kleinen Erlangen im etablierten Austauschsystem der deutschsprachigen Hochschulen“ (S. 205/06), aber auch von seiner „durchaus repräsentative(n) Position“ im Ensemble der kleinen deutschen Universitäten (S. 32), ja sogar von einer „herausragenden“, wenngleich nicht „hegemonialen“ Stellung ist die Rede (S. 163). Alle diese Wertungen knüpfen ebenso wie diverse Attribute, die Willett der fränkischen Hochschule zuordnet („Lernuniversität“, S.42; „Habilitationshochschule“, S. 165; „Einstiegsuniversität“, S. 177) an die Ergebnisse seiner sozialgeschichtlichen Untersuchungen an, die er in den folgenden drei Kapiteln vorstellt. Dabei bleibt fast kein Lebensbereich unberücksichtigt. Die geographische, konfessionelle und soziale Herkunft der Erlanger Ordinarien behandelt Willett in Kapitel 2 (S. 65ff.). Besonders breiten Raum widmet er der schulischen und beruflichen Ausbildung und Karriere „seiner“ Probanden (Kapitel 3: „Ausbildung, Laufbahn , Beruf“, S. 110ff.). Ebenso ausführlich werden im 4. Kapitel („Soziales Verhalten“, S. 225ff.) die privaten Lebensbereiche wie Ehe und Nachkommenschaft, Wohn- und Freizeitverhalten, aber auch Einkommens- und Vermögensverhältnisse und gesellschaftliche Aktivitäten der Erlanger Hochschullehrer dargestellt. Das geschieht in Gestalt einer „fächerübergreifenden Längsschnittstudie“ (S. 28), bei der die genannten Problemkreise für alle Fakultäten über den gesamten Untersuchungszeitraum von knapp 200 Jahren und zwar jeweils differenziert nach den erwähnten vier Zeitsegmenten behandelt werden. Auf diese Weise entsteht ein überaus filigranes Bild der Erlanger Verhältnisse, die Willett, soweit ihm Vergleichsdaten in der einschlägigen Literatur zur Verfügung standen, zu denen anderer deutscher Universitäten in Relation setzt. Darin besteht zugleich einer der Vorzüge des Buches, daß die Universität Erlangen nicht isoliert und nur auf sich bezogen erscheint, was bei der Datendichte, die der Verfasser erarbeitet hat, nahegelegen hätte, sondern eingebettet in die regionale (bayerische) und deutsche Hochschullandschaft. Das ist nicht nur dort der Fall, wo mit dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand zwangsläufig andere Universitäten ins Spiel kommen, wie z. B. beim Hochschulwechsel Erlanger Ordinarien, sondern es ist durchgängiges Prinzip. So kann Willett auf der Basis entsprechender Vergleichswerte hinsichtlich der sozialen Herkunft der Ordinarien feststellen, daß „die Erlanger Verhältnisse in ihrer groben Entwicklung mit denen der deutschen Hochschulen in Einklang standen“ (S. 103), während - gemessen an der geographischen Herkunft - „die Berufungsbilanzen Erlangens in den einzelnen Epochen Spezifika aufweisen, die zum Teil quer zu dem Bild stehen, das von der Entwicklung der deutschen Universitätslandschaft im allgemeinen gezeichnet wird“ (S. 78). Gleiches dürfte für eine Reihe universitätsgeschichtlicher Details gelten, die Willett zutage fördert. So handelt es sich bei dem - zumindest teilweisen - Wegfall des Latinitätszwanges in der Erlanger Habilitationsordnung von 1842 um einen für diese Zeit erstaunlichen Vorgang, der sich keinesfalls verallgemeinern läßt. Auch der Brauch, den Berufungsvorschlägen der Fakultäten Publikationslisten der Kandidaten beizufügen, den Willett für Erlangen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet hat, kam anderswo erst weit später in Übung. Ein überraschender Befund ist ferner die große Zahl von Personen, die ohne vorherige Privatdozentur, sei es mit oder ohne Habilitation, in ein Erlanger Professorenamt gelangten. Daß es sich bei den genannten Beispielen um die unzulässige Verallgemeinerung von Momentaufnahmen oder Einzelfällen  handelt, ist bei der Akribie, mit der Willett arbeitet, nicht anzunehmen. Gerade diese und andere Ergebnisse seiner Studie machen das Buch zu einer Fundgrube für vergleichende und weiterführende Arbeiten.

 

Freilich bleibt manches im Dunkeln und bedürfte der Aufhellung, so wenn Willett im Zusammenhang mit der Neuregelung der Habilitation vom Wegfall „alter Qualifikationshürden“ spricht (S. 161), ohne diese zu nennen. An anderer Stelle (S. 171) ist ohne Zeitbezug von planmäßigen und nichtplanmäßigen Extraordinariaten die Rede, eine Differenzierung, die es so über weite Strecken des Untersuchungszeitraumes auch in Erlangen nicht gegeben haben dürfte.

 

Aus dem Rahmen der ansonsten streng an archivalisch gestützten Befunden orientierten Arbeit fällt das 5. Kapitel („Universität, Wissenschaft und Gesellschaft“, S. 348 ff.). Auf der Grundlage handschriftlich überlieferter Lebensläufe, von autobiographischer und Memoirenliteratur, Reden, Predigten u. a. untersucht Willett hierin akademisches Selbstverständnis und Wissenschaftsauffassung Erlanger Ordinarien, die er in Pragmatiker und Universalisten einteilt und deren „politisch-kulturelle Werturteile und Deutungssysteme“ er im Kontext der politischen, nationalen und sozialen Entwicklung vorstellt. Er folgt damit der sicher zutreffenden Erkenntnis, daß „eine ,vollständige’ Sozialgeschichte ... immer auch die Subjektivität der untersuchten Personen, ihre Selbstbilder, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Anliegen, Werte, Sinngebungen und allgemeinen Einstellungen zur sozialen und politischen Welt integrieren und in ihrer Rückwirkung auf das soziale Umfeld würdigen (muß) (S. 20).

 

Die Ergebnisse seiner Quellenforschungen hat Willett optisch aufbereitet in 21 Graphiken (von ihm fälschlich als Abbildungen bezeichnet) und 51 Tabellen, die jeweils an entsprechender Stelle in den Text eingefügt sind. Um den ohnehin umfangreichen und sehr solide wirkenden wissenschaftlichen Apparat zu entlasten, hat Willett einen Teil der von ihm benutzten Quellen in einem separaten „Biographischen Apparat zur Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933“ erfaßt, der in den Zentralbibliotheken der Universität Erlangen-Nürnberg und der Humboldt-Universität zu Berlin hinterlegt ist, was den allgemeinen Zugang nicht gerade erleichtern dürfte.

 

Namens- und Sachregister sowie ein umfängliches Quellen- und Literaturverzeichnis ergänzen die Arbeit. Leider wird dabei nicht immer auf die neueste Literatur verwiesen, so z. B. bei der biographischen Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft („Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten“) von Kleinheyer/Schröder, die bereits in vierter Auflage erschienen ist, während Willett die erste Auflage von 1976 anführt. Gelegentlich stören Druckfehler und sinnentstellende Auslassungen den ansonsten erfreulichen äußeren Eindruck.

 

Alles in allem aber haben wir es hier mit einer gediegenen Arbeit zu tun, die jeder an Universitätsgeschichte Interessierte mit Genuß und Gewinn lesen wird.

 

Halle an der Saale                                                                                          Lieselotte Jelowik