Schwab, Christian, Das Augsburger Offizialatsregister (1348-1352). Ein Dokument geistlicher Diözesangerichtsbarkeit. Edition und Untersuchung (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 25). Böhlau, Köln 2001. X, 860 S.

 

Die Geschichte der kirchlichen Gerichtsbarkeit zählt zu den Schwerpunkten der historischen Kanonistik. So ist die Entwicklung der Prozessordnungen und ihrer Dogmatik in den Arbeiten etwa von Linda Fowler-Magerl[1], Knut Wolfgang Nörr[2] und Winfried Trusen[3] analysiert worden, während die Untersuchung der kirchengerichtlichen Praxis insbesondere von Charles Donahue[4] und Richard Helmholz[5] vorangetrieben wurde, die die umfangreiche Überlieferung der Kirchengerichtsbarkeit in England[6] erforscht und aufbereitet haben. Hier wie auch in anderen Arbeiten[7] rückte dabei das Eherecht als wesentlicher Inhalt der mittelalterlichen kirchlichen Gerichtsbarkeit in den Vordergrund, dessen Behandlung in der kanonistischen Dogmatik und in der gerichtlichen Praxis neben Helmholz und Donahue insbesondere Rudolf Weigand[8] eine wahre Fülle von grundlegenden Untersuchungen gewidmet hat. Auf der Ebene der Diözesangerichtsbarkeit wirkte dabei das Offizialat, also die seit dem 12. Jahrhundert entstehende Instanz der bischöflichen Rechtsprechung, die 1246 in der Bulle Romana Ecclesia ihre endgültige Ausgestaltung erhielt[9].

 

Allerdings sind systematische Untersuchungen gerade über die Tätigkeit von Offizialatsgerichten im deutschen Raum bislang eher die Ausnahme[10]. Das beruht nicht zuletzt darauf, daß die Quellenüberlieferung hier im Gegensatz zum englischen Raum bis in die Zeit des 15. Jahrhunderts nur relativ schmal ausfällt[11]. Eine wichtige Ausnahme bildet das Register des Offizialats Augsburg, das für die Zeit von 1348 bis 1352 in einer Handschrift[12] überliefert ist und mit insgesamt 1221 Einträgen, darunter 591 eherechtlichen Endurteilen (514, s. a. 811 m. Beilage 6), eine Fülle an Material liefert. Diese Handschrift ist zwar mehrfach zum Gegenstand der Betrachtung gemacht worden[13], doch fehlte eine systematische Auswertung. Diese Lücke wird durch die vorliegende Arbeit geschlossen. Die Studie von Christian Schwab, die unter der Betreuung von Bernhard Schimmelpfennig in Augsburg entstand und im Jahr 2000 als geschichtswissenschaftliche Dissertation eingereicht wurde, enthält in ihrem ersten Teil eine – in ihrer mustergültigen Sorgfalt ausgesprochen beeindruckende – Edition, der im zweiten Teil eine analytische Darstellung folgt. Beides macht Schwabs Werk, um diesen Punkt bereits hier vorweg zu nehmen, zu einem grundlegenden Beitrag für die Geschichte des mittelalterlichen Ehe- und Prozessrechts wie auch zur Sozialgeschichte der Ehe.

 

Der editorische Teil des Werks, für den sich der interessierte Leser allerdings einen photographischen Auszug aus der edierten Handschrift gewünscht hätte, dokumentiert bereits sehr eindringlich, daß die Eintragungen im Register stark durch Formulare geprägt waren, deren Struktur Schwab sorgfältig analysiert (7-20). Diese Formulare werden auch der Edition zugrunde gelegt und daher Eintragungstypen mit einer Häufigkeit von mehr als zehn Aufzeichnungen durch ein „Typenschema“ erfasst und in „abgekürzter Form“ wiedergegeben (vgl. 5). Das spart nicht nur kostbaren Druckraum, sondern gibt zugleich einen besonders plastischen Eindruck vom Vorgehen der Registerschreiber.

 

Der zweite Teil der Arbeit, der „als gleichsam multiperspektivischer Kommentar zur Edition des Offizialatsregisters konzipiert“ ist (359), gliedert sich auf in zwei große Ebenen: Einem Abschnitt über die Geschichte des Offizialats und der Bedeutung des Augsburger Offizialatgerichtes (II.) folgt die Auswertung der Eintragungsinhalte selbst (III.). Eingeleitet wird der Darstellungsteil mit einer informativen Darlegung über die „Bedeutung eines Offizialatsregisters aus dem 14. Jahrhundert“ (I.). Der folgende Abschnitt mit der etwas unverbindlichen Überschrift „Das Augsburger Offizialatsgericht im 14. Jahrhundert“ beginnt mit einer instruktiven Übersicht zur Geschichte der Erforschung von Offizial und Offizialat (363-385), an die sich die Analyse der „jurisdiktionelle(n) Kompetenz der Offizialatsgerichte“ (386-418) anschließt. Allerdings ist diese Überschrift etwas irreführend, denn Schwab zeigt nicht allein, daß sich die Kompetenzen insbesondere des Augsburger Gerichtes vor allem, aber nicht nur auf Ehesachen erstreckten und daß das Verhältnis zur weltlichen Gerichtsbarkeit weit weniger strikt abgegrenzt war, als das verfassungspolitische Gegeneinander von Papst und Kaiser glauben läßt. Auch die normativen Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung werden in diesem Abschnitt in den Blick genommen. Dabei kann Schwab insbesondere deutlich machen, daß das Offizialat auch lokalem, nicht unmittelbar kirchlich erzeugtem Gewohnheitsrecht Beachtung zu schenken schien oder doch zumindest parallele Normbildungen erkennbar werden. Der folgende Abschnitt über die „Geschichte des Augsburger Offizialatsgerichts bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts“ (418-469) belegt in einem ersten Schritt den bereits zuvor herausgearbeiteten allgemeinen Befund der Offizialatsgeschichtsschreibung, daß nämlich die Entstehung der Offizialate nicht als bischöflicher Versuch zur Begrenzung der Archidiakonate zu werten ist[14], sondern vielmehr der episkopalen Entlastung diente: Denn eine Konkurrenz zwischen Archidiakonen und Offizialen läßt sich in Augsburg nicht belegen, weil nur selten das Wirken von Archidiakonen nachzuweisen ist. In einem zweiten Schritt werden die Kompetenzabgrenzungen zwischen dem Offizialat und der Stadt ausgeleuchtet. Dabei wird deutlich, daß zwar in Randbereichen Versuche zur Beschränkung des Offizialates von den Stadtvätern Augsburgs unternommen wurden, insgesamt aber ein „schwelender Dauerkonflikt“ im Grundsätzlichen (431) gleichwohl nicht bestand. Der Binnenstruktur des Offizialatgerichtes gewidmet ist der folgende Abschnitt (469-513), in dem Schwab zunächst die einzelnen Gruppen des Gerichtspersonals betrachtet, um dann Gerichtsorte und Gerichtstage zu untersuchen. Hier wie auch bereits zuvor besticht immer wieder die Intensität der Quellenarbeit, die von Schwab geleistet wird. Das gilt erst recht für das anschließende Kapitel, das der „rechtsgeschichtliche(n) Analyse der Einträge ins Offizialatsregister“ gewidmet ist (514-777). Die an den Beginn dieses Abschnitts gestellte Analyse der im Register benutzten Eintragungsformulare (514-591) zeigt nämlich eindrucksvoll, daß sich die Augsburger Richter zwar an den Vorschlägen der Prozessrechtsliteratur, vor allem an den Darlegungen des Durantis, orientierten, ihr allerdings nicht bis in die letzten Details hinein folgten. Im Vordergrund steht vielmehr eher „der auf gewisse Weise improvisatorische Charakter der Quelle…, die kein unveränderliches Schema kennt, sondern lebt und sich im Laufe der Jahre verändert“ (590).

 

Nach der Untersuchung von Prozessverlauf und Prozessdauer (591-648) folgt im dritten Unterabschnitt ein weiterer Höhepunkt von Schwabs Untersuchung, die „statistische Analyse der Eintragungen“ (649-733). Besonders spannend ist dabei die Analyse der Eheprozesse, die auch den Schwerpunkt dieses Teils bilden. Dabei zeigt sich, daß trotz der insgesamt eher geringen Erfolgsaussichten die Zahl der Klagen kontinuierlich relativ hoch war. Die meisten Klagebegehren zielten dabei auf die Ehezuerkennung, die vor allem von Frauen verlangt wurde, was freilich den Entwicklungstendenzen auch in anderen Territorien entspricht. In einem weiteren Schritt analysiert Schwab das Vorbringen der Parteien im Eheprozeß, soweit dies aus den Einträgen im Register erkennbar wird. Gerade dieser Abschnitt ist besonders lesenswert, bietet er doch eine Fülle von Einblicken in den Lebens- und Beziehungsalltag einer mittelalterlichen Stadt. Herauszuheben ist außerdem Schwabs Befund, daß Eltern und Herren offenbar eine eher untergeordnete Rolle bei der Eheschließung spielten.

 

Unter der etwas verwirrenden Überschrift „Die Modernität des Augsburger Offizialats“ findet sich hieran anschließend eine bilanzierende Bündelung von Schwabs Überlegungen (778-788). Im Vordergrund steht dabei die Position des Offizials als Typus des vormodernen Beamten mit abgegrenztem Zuständigkeitsbereich und der Einbindung in eine Ämterhierarchie. Hinzu tritt die Bestätigung des im Grundsatz bereits bekannten Befundes, daß das mittelalterliche Eherecht beiden Geschlechtern begrenzten Freiraum gewährte und im Vergleich zum lutherischen Eherechtsverständnis eher liberal wirkte. Die Arbeit wird abgeschlossen durch eine Sammlung hilfreicher Tabellen und drei übersichtliche Register sowie einen Kartenteil.

 

Die Sorgfalt und Präzision, mit der Schwab das Offizialatsregister in den Zusammenhang mit den Texten des gelehrten Rechts und der modernen Literatur stellt, ist vorbildlich. Zwar hätten einige Passagen möglicherweise auch gestrafft werden können (so etwa der Bericht über die Forschungsgeschichte zum Offizialat) und auch die Gestaltung der Überschriften ist, wie angedeutet, nicht immer gelungen. Doch das sind allenfalls Kleinigkeiten, die nichts an der überragenden Qualität des Buches ändern. Schwab kennzeichnet die Existenz des Offizialatsregisters als Situation „eines außerordentlichen Glücksfalls“ (349). Doch es ist ein mindestens ebenso großer Glücksfall, daß das Register des Augsburger Offizialats einen Bearbeiter wie Christian Schwab gefunden hat.

 

Münster                                                                                                         Andreas Thier

 



[1] Linda Fowler-Magerl, Ordo iudiciorum vel ordo iudiciarius. Begriff und Literaturgattung, Frankfurt a. M. 1984; s. a. dies., Ordines Iudiciarii and Libelli de Ordine Iudiciorum (from the middle of the twelfth to the end of the fifteenth century) (= Typologie des sources du moyen âge occidental), Turnhout 1994.

[2] Vgl. dazu die Aufsatzsammlung Knut Wolfgang Nörr, Iudicium est actus trium personarum. Beiträge zur Geschichte des Zivilprozessrechts in Europa, Goldbach 1993.

[3] Winfried Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, Wiesbaden 1962; ders., Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: ZRG Kan. Abt. 74 (1988), 168-230, wieder abgedruckt in: ders., Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Goldbach 1997, 81*-143*.

[4] Charles Donahue jr. (Hrsg.), The Records of the Medieval Ecclesiastical Courts, Part I: The Continent. Reports of the Working Group on Church Court Records, Berlin 1989; ders., The Records of the Medieval Ecclesiastical Courts, Part II: England. Reports of the Working Group on Church Court Records, Berlin 1994.

[5] Richard H. Helmholz, Marriage litigation in medieval England, Cambridge 1974, ND 1978.

[6] Für die englische Rechtsprechungspraxis der Frühen Neuzeit s. Martin Ingram, Church Courts, Sex and Marriage in England, 1570-1640, New York 1987, als Paperback erschienen 1990.

[7] S. etwa  Péter Erdö, Eheprozesse im mittelalterlichen Ungarn, in: ZRG 103 Kan. Abt. 72 (1986), 250-276.

[8] Rudolf Weigand, Die bedingte Eheschließung im kanonischen Recht, Bd. 1-2, München 1963, 1980; siehe weiterhin die Aufsatzsammlung Ders., Liebe und Ehe im Mittelalter, Goldbach 1993.

[9] VI 2.15.3. I

[10] Es dominiert eher die Betrachtung des Prozessrechts im Offizialatsprozeß, vgl. etwa Achim Steins, Der ordentliche Zivilprozeß nach den Offizialatsstatuten. Ein Beitrag zur Geschichte des gelehrten Prozesses in Deutschland im Spätmittelalter, in: ZRG 90 Kan. Abt. 59 (1973), 191-262.

[11] Im Überblick dazu Klaus Lindner, Germany, in: Donahue, Records I (Fn. 4), 117-122 m. w. N.

[12] Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Ms. Cod. Don. 772.

[13] Erstmals untersucht wurde die Handschrift von Ferdinand Frensdorff, Ein Urteilsbuch des geistlichen Gerichts zu Augsburg aus dem 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirchenrecht 10 (1871), 1-37; aus jüngerer Zeit insbesondere Rudolf Weigand, Zur mittelalterlichen kirchlichen Ehegerichtsbarkeit. Rechtsvergleichende Untersuchung, in: ZRG 98 Kan. Abt. 67 (1981), 213-247, wieder abgedruckt in: Ders., Liebe und Ehe im Mittelalter (Fn. 8), 213*-247*, 214*, 217*, 223*, 225*f., 232*, 234*, 237*f., 241*f.

[14] So die ältere Lehre, s. etwa Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland (Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland), Bd. 2, Berlin 1878, Nd. Graz 1959, 206.