Mikešič, Ivana, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin. Die Anfänge 1918-1933 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 36). Mohr (Siebeck), Tübingen 2002. XIII, 222 S.

 

Die Anfänge des Sozialrechts als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland zu untersuchen, wessen sich die anzuzeigende, von Prof. Dr. Michael Stolleis (Universität Frankfurt/Main) angeregte und betreute Dissertation widmet, ist höchst verdienstvoll. Denn dies schließt eine Lücke. Die Arbeit enthüllt den dafür tragenden Grund im Niedergang der Rechtswissenschaft ab 1933 und deren Wiederbegründung nach 1945 in weitgehender Distanz von der Weimarer Epoche. So zeigt die Studie die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Bemühungen der deutschen Rechtswissenschaft zwischen 1918 und 1933 um die gedankliche Durchdringung des Sozialversicherungsrechts sowie des Rechts der sozialen Fürsorge auf. Sie gibt einen Überblick über die Medien des wissenschaftlichen Diskurses: die führenden Kommentare, Lehrbücher, Monographien, Zeitschriften und Diskussionsforen. Die Etablierung des Faches wurde möglich, nachdem es sich gegenüber seinen Ursprungsdisziplinen, dem Polizey-, Gewerbe- und Versicherungsrecht, emanzipierte. Seine wissenschaftlichen Impulse empfing es aber aus dem Auftrag der „November-Revolution“. Sie sollte die Republik zum Volksstaat formen - die Demokratie über die Staatsorganisation hinaus zum Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Lebens erheben. Eine eingehende Würdigung finden die herausragenden Gestalten der Sozialrechtswissenschaft jener Zeit: Heinrich Rosin - der Pionier, Erwin Jacobi und Lutz Richter, Fritz Stier-Somlo, Walter Kaskel, Alfred Manes, Hermann Dersch, Hermann Schulz und Friedrich Kleeis. Sie rangen um die Grundfragen des Faches: seinen Standort zwischen öffentlichem und Privatrecht, die die Sozialversicherung prägenden und leitenden Maximen: Versicherung oder Fürsorge?, die Bestimmung sozialer Rechte als Gegenstand des Sozialrechts und deren Beziehungen zum kollektiven Arbeitsrecht. Beide Materien waren durch die Herausbildung der mit Gestaltungsautonomie versehenen Verbände geprägt, die in der Weimarer Republik zu bestimmenden politischen Größen geworden waren. Die akademische Lehre des Sozialrechts setzte in den 1920er Jahren in Leipzig, Freiburg im Breisgau, Berlin und Frankfurt am Main ein. Es waren regelmäßig mehrere Dozenten, die das Fach in den genannten Fakultäten vertraten. Als herausragend produktiv erwiesen sich das Versicherungsrechtliche Institut der Universität Freiburg und das Leipziger Institut für Arbeitsrecht. Die Dynamik des Sozialrechts - sein permanenter Wandel, sein ausgeprägter Gegenwartsbezug und seine Nähe zur Tagespolitik sowie seine Abhängigkeit von Disziplinen anderer Wissenschaftszweige (Versicherungsmathematik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Sozialmedizin) - prägten die Studien bereits in der frühen Phase. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher und praktischer Befassung löste sich zwar niemals auf. Aber trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte kam es häufiger als in anderen Fächern zu einer Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis. Ein auf die Grundlagen des Faches zielender Selbstvergewisserungsprozess, der in zahlreiche Selbstverständigungsdiskurse ausmündete, wird in der Arbeit identifiziert und in seinen wesentlichen Themenfeldern strukturiert. Das Verständnis um die Modi staatlicher Intervention in das wirtschaftliche Geschehen, die Grenzziehung von öffentlichem Recht und Privatrecht und das Wesen der Sozialversicherung und ihrer Selbstverwaltung waren die beherrschenden Themen jener Zeit. Die Arbeit hat viele Vorzüge. Sie widmet sich nicht nur einem weithin unerforschten, jedoch höchst inspirierenden Gegenstand der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft der Weimarer Zeit und trägt zu deren Deutung zentrale Einsichten bei. Die Arbeit ist auch packend geschrieben. Durchweg verspürt der Leser wie im Vorwort angesprochen „das die Forschungslust befeuernde Engagement“. Treffende Einsichten werden in gelungenen Formulierungen festgehalten, Deskription und Analyse auf elegante Weise verknüpft. Die Abgründe, die sich nach dem jähen Ende der Weimarer Zeit aufzutun begannen, ganz ebenso wie die Brüche, die beim Übergang in diese Epoche eintraten, werden eindrucksvoll sichtbar gemacht. Das differenziert gezeichnete Bild des schillernden Lutz Richter bezeugt eine beachtliche Sensibilität für die schwierige Gratwanderung zwischen Authentizität, Distanz und Kompromittierung. Ein gelungenes Stück Wissenschaftsgeschichte wird vor dem Hintergrund einer widersprüchlichen, von sozialen, politischen und geistigen Spannungen zerrissenen Epoche beschrieben und als eine in sich geschlossene, in ihren Nachwirkungen jedoch beschränkt gebliebene, wegen ihrer Originalität und Grundsätzlichkeit aber entdeckungswürdige Einheit der deutschen Geschichte des öffentlichen Rechts nachgezeichnet. Eine lesenswerte Arbeit; vor allem eine inhaltlich und sprachlich beachtliche Dissertation.

 

Jena                                                                                                   Eberhard Eichenhofer