Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 135). Droste, Düsseldorf 2002. 544 S.

 

Thomas Mergel hat sich in seiner Bochumer Habilitationsschrift keine leichte Aufgabe gestellt. Ist die die zentrale Frage, nämlich die nach der „Kultur“ eines Parlaments, doch wenig konkret und daher die Gefahr, sich in nichts sagenden Allgemeinheiten zu verlieren, groß. Dies nicht zuletzt deswegen, weil über den Reichstag der Weimarer Republik als Verfassungsorgan zwar viel geschrieben wurde, ihm aber als autonome Institution kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden ist - und genau das soll das Thema sein. Der Leitfrage wird in mehreren Untersuchungsfeldern nachgegangen: wie haben sich die persönlichen Gegebenheiten der Abgeordneten auf die gemeinsame Arbeit ausgewirkt?; welche Funktion hatten dabei die Ordnungen, Regeln und informellen Formen der Kommunikation einschließlich der Sprache?; wie vollzog sich die Interaktion zwischen dem Reichstag und der „Außenwelt“? und schließlich was bedeutete das Vorhandensein und insbesondere die Zunahme antiparlamentarischer Kräfte seit 1930? Die Untersuchung stützt sich überwiegend auf veröffentlichte Quellen: an erster Stelle die Stenografischen Berichte, ergänzt um Fraktionsprotokolle, die Akten der Reichskanzlei, Autobiografien und, soweit vorhanden, Ausschuss-Protokolle. Mehr als die herkömmlichen historischen Methoden werden kulturgeschichtliche angewandt: psychologische, kommunikationstheoretische und sprachanalytische.

 

Der Reichstag der Weimarer Republik sah sich nicht nur einer immensen politischen Aufgabe in der Bewältigung der Kriegsfolgen und der Integration einer zerrissenen Gesellschaft gegenüber, sondern er musste auch sich selbst als Institution in großem Umfang neu begründen. Saßen doch in der Nationalversammlung zwei Drittel neue Abgeordnete, von denen die meisten überhaupt keine parlamentarische Erfahrung hatten und waren zudem noch zwei neue Typen von Abgeordneten präsent: die Frauen und diejenigen, die nicht direkt den Wählern ihr Mandat verdankten, sondern als Folge eines extremen Verhältniswahlrechts unterschiedlichen Verbänden und Organisationen. Daraus erklärt Mergel durchaus überzeugend die Dominanz der alten Eliten in allen Fraktionen mit der Folge, dass der Reichstag in Symbolik und Selbstverständnis in großem Umfang an das Kaiserreich anschloss.

 

Trotz der schwierigen Ausgangslage habe das Parlament rasch und effektiv funktioniert. Es habe sich ein gemeinsames Bewusstsein von den Aufgaben und der Verantwortung der Parlamentarier herausgebildet und eine „Koalition der Ordnung“ geformt, die davon überzeugt war, dass der politische Streit geregelt und in zivilen Formen abzulaufen habe. In diese Gemeinschaft seien selbst die Republikgegner, doch niemals die antiparlamentarischen Parteien wie Kommunisten, Nationalsozialisten und Völkische integriert gewesen. Auf dieser Grundlage habe der Reichstag Erstaunliches geleistet; hinsichtlich der Dauer der Plenartagungen und der Gesetzgebungsarbeit sei er sogar der fleißigste der deutschen Parlamentgeschichte bis heute gewesen. Mergel spricht daher von einer „Selbstüberforderung“! Wenn er dem Reichstag in diesem Zusammenhang vorwirft, dass er sich zu sehr als Gegengewicht zur Regierung verstanden habe und teils sogar habe mitregieren wollen, so ist das nicht ganz überzeugend, da dabei nie die Grenzen des legitimer parlamentarischer Funktionen überschritten wurden. Erklärt werden diese Leistungen eines „pragmatischen Republikanismus“ (besser wäre „pragmatischer Parlamentarismus“) originell und überzeugend aus den Zwängen und (ein wenig zu gering veranschlagt) der Tradition der Institution, der weitgehenden Abschottung der parlamentarischen Arbeit von der Öffentlichkeit, besonders in den Ausschüssen, und der Tatsache, dass die Fraktionen eigenständige Gebilde gewesen seien, die keinesfalls mit ihren Parteien gleichzusetzen waren.

 

Warum aber fand diese Leistung so wenig Anerkennung, ja zerfiel das Ansehen des Parlamentarismus zusehends? Bei der Antwort auf diese Frage, setzt Mergel vor allem auf eine Entlastungstrategie, die das ganze Buch durchzieht. Sie lautet: der Weimarer Parlamentarismus hatte keine gravierenden Mängel und Strukturdefizite, sondern er hat sich ebenso überfordert wie die Wähler ihn! Der Abgeordnete sollte kein Berufspolitiker, doch umfassend kompetent und fleißig sein; das Parlament sollte ein Abbild des Volkes sein, doch zugleich eine Versammlung politischer Führer. Nicht weniger schwer erfüllbar waren die Erwartungen an Moral, Lebensführung und Idealismus der Abgeordneten. Diese sollten es dann auch noch fertig bringen, den Standpunkt ihrer Partei durchzusetzen, die Interessen ihrer Anhänger unter gleichzeitiger Wahrung des Allgemeinwohls zu vertreten und letztlich die sozial und politisch gespaltene Gesellschaft zu einen. Für besonders gravierend hält Mergel die Tatsache, dass diese überzogenen und widersprüchlichen Forderungen an die Politik von den Politikern selbst weitgehend geteilt wurden.

 

Der endgültige Zerfall der parlamentarischen Kultur seit 1930 wird dadurch erklärt, dass deren Anhänger im Reichstag sowohl bewährte Regeln wie Verfahren als auch zivile Umgangsformen wie eine angemessene Sprache zur Abwehr der destruktiven Kräfte glaubten teilweise aufgeben zu müssen; so hätten sie unwillentlich, doch wohl unvermeidlich zur Selbstdemontage des Reichstags beigetragen.

 

Thomas Mergel präsentiert seine Ergebnisse mit ausgefeiltem Methodenbewusstsein, auf einem hohen Abstraktions- wie Reflexionsniveau und in einer sachlich angenehmen Sprache und Darstellung. Ihm gelingt sogar das Kunststück, wissenschaftliche Einsichten witzig aufzubereiten (z. B. „Was ist ein Politiker?“ S. 390ff.). Die Studie vertieft unsere Kenntnisse über die Legitimitätsproblematik und Arbeitsweise des Reichstags der Weimarer Republik bis hin zu Subtilitäten wie Formen der Höflichkeit und des Umgangs beträchtlich. Was mit kulturgeschichtlichen Methoden unter einer weitgehend durch diese beeinflussten Fragestellung aus dem Thema zu machen war, ist erreicht worden. In diesem Ansatz gründen aber auch die notwendigen Einwände und Korrekturen.

 

Der breite und formale Ansatz führt des Weiteren dazu, dass Vieles und auch Substantielles behandelt werden muss, auf das dann fast zwangsläufig nicht intensiv genug eingegangen werden kann. Darüber hilft sich der Verfasser meist geschickt mit Formulierungskunst und kompositorischen Aushilfen hinweg. So ist es doch etwas wenig, das Problem der „fragmentierten Öffentlichkeit“ lediglich an drei Phänomen fest zu machen und nicht tiefer auf die Ursachen einzugehen oder aber den Typus des Weimarer Politikers lediglich gestützt auf die Selbstdarstellungen in den Reichstagshandbüchern und dann auch nicht umfassend, sondern lediglich impressionistisch zu zeichnen.

 

Zum anderen will die Studie eine Institution, der die zeitgenössische Öffentlichkeit keine konstitutive Rolle in der Politik zubilligte und an der die Forschung vor allem Funktionsdefizite wahr genommen hat, in einem positiveren Licht erscheinen lassen. Das ist über weite Strecken gelungen und als Verdienst zu würdigen. In diesen Zusammenhang gehört nicht zuletzt die Herausarbeitung der mehrmals mit Nachdruck betonten Chance, die sich dem Weimarer Parlamentarismus in den zwanziger Jahren mit der Möglichkeit eröffnete, die antirepublikanische Rechte zu gewinnen.

 

Für die darüber hinaus angestrebte Rehabilitierung des Weimarer Parlamentarismus aber ist der Ansatz zu eng. Er stellt zu einseitig die formale Seite der Politik in den Vordergrund. Es ist eben nicht nur der Umgang mit Entscheidungen und die Art, wie sie zustande kommen, die die Legitimität eines politischen Systems begründen, sondern - sehr wohl und man möchte sogar sagen vor allem - die materielle Seite dieser Entscheidungen und die Effektivität des Systems selbst. Es ist bezeichnend, dass die zahlreichen Ermächtigungsgesetze und Notverordnungen, also die Phasen des Versagens der Institution in ihrem ureigenstem Feld, ausgeblendet bleiben. Das hätte in der Studie nicht eigens thematisiert werden müssen, wohl aber wäre die dazu vorliegende Forschung stets mit zu reflektieren gewesen. Dann wäre das Bild des Parlamentarismus der Weimarer Republik ausgewogener geworden.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert