Lorenz, Maren, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 1999. 495 S.

 

Maren Lorenz untersucht in ihrer Saarbrücker geschichtswissenschaftlichen Dissertation ärztliche Gutachten aus sämtlichen gedruckt vorliegenden Sammlungen des 18. Jahrhunderts, 35 an der Zahl.

 

Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung gerichtsmedizinischer Gutachten bei verdächtigen Todesfällen, Sexualdelikten und Gewaltverbrechen dort, wo Gutachtergremien erreichbar waren. Aber auch in Ehescheidungsklagen oder bei Entscheidungen über Einweisung und Militärpflicht wurden ärztliche Untersuchungen durchgeführt. Da zu dieser Zeit in Deutschland weder der Beruf des Gerichtsmediziners noch forensische Lehrstühle existierten, wirkten Amtsphysici als Gutachter; die Disziplin entwickelte sich direkt aus der gutachtlichen Praxis. Die gedruckten Fallsammlungen dienten somit neben der Vermittlung medizinischer Erkenntnisse auch der Qualifikation des ärztlichen Nachwuchses. Die neue Methode der Einzelfallbeschreibung wurde nach den Recherchen der Autorin demnach nicht von „den Galionsfiguren deutscher Medizingeschichte und Absolventen der progressiven Universität Jena Friedrich Hoffmann (1660–1742) und Georg Ernst Stahl (1660–1734)“ eingeführt (S. 44), sondern zuvor u. a. von dem Leipziger Professor Paul Ammann bei forensischen Gutachten benutzt und bereits 1670 in einer Sammlung von 100 Fällen publiziert.

 

Die Anatomie und – gerade in Deutschland – die antike Humoralpathologie stellten noch bis nach 1800 die Basis der akademischen Ärzteausbildung dar. Der Einfluss dieser Säftelehre ist denn auch in den meisten Gutachten spürbar; mit den Säften, vor allem dem Blut, sehr häufig aber auch gelber oder schwarzer Galle, konnten sämtliche psychischen und organischen Phänomene erklärt werden. Dem Individuum war aus dieser – aufgeklärten – Sicht die Erhaltung seiner seelischen und physischen Gesundheit durch moralische Lebensführung mit Sittlichkeit und Selbstbeherrschung, richtigem Ernährungsverhalten, Bekleidung, Körperhaltung und Bewegung auferlegt, um seine Säfte im Zaum zu halten. Diese neue Vorstellung einer Verbindung von Gesundheit und Moral setzte sich in den unteren Schichten jedoch nicht durch.

 

Große Bedeutung kommt in den Gutachten naturgemäß der Sexualität zu. Das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung erweist sich dabei als „von den geschlechtsstereotypisch geprägten Überzeugungen der männlichen Gutachter“ abhängig (S. 119f). Das Wesen der Frau wurde ausschließlich von der Funktion oder Fehlfunktion des Uterus bestimmt. Der furor uterinus war eine lange bekannte „Weiberkrankheit“, hervorgerufen durch unzureichende Samenzufuhr oder ein Übermaß an sexueller Betätigung. Entsprechend galt diesem Organ bei einer Leichenöffnung das primäre Interessen. Beim Mann dagegen wurde an erster Stelle das Gehirn untersucht.

 

Bemerkenswert ist die meist nicht eingestandene, große Unsicherheit der Ärzte bezüglich der Kennzeichen von Jungfräulichkeit oder der – nicht unbedingt neunmonatigen – Schwangerschaft. Völlig sichere Schwangerschaftszeichen z. B. existierten nicht; erst ein bei der ärztlichen Abtastung als gleichmäßig aufgeschwollen befundener Bauch und Regungen des Kindes ließen in einem späten Stadium die Vermutung zur Gewissheit werden. Weibliche Unberührtheit war nicht sicher an der Unversehrtheit des Hymens zu erkennen, wurde dagegen anhand der Enge oder Weite der Vagina und anderen „Abnutzungserscheinungen“ identifiziert, z.B. auch der Brüste; diese waren bei einer Jungfrau makellos rund mit kleinen rosaroten Brustwarzen. Entsprach ein Frauenkörper nicht diesen Idealvorstellungen, hatte die Betroffene „kaum Chancen, ohne Ehrverlust aus der Sache herauszukommen“ (S. 223).

 

Obwohl im Diskurs um die weibliche Hysterie ein regelmäßiger Beischlaf bei der Frau – genau wie beim Mann – als unabdingbar für die Gesundheit gehalten wurde, hinterließ diese Erkenntnis keine Spuren in den Gutachten. Umgekehrt aber konnte die Schädlichkeit der Onanie und die Notwendigkeit der (heterosexuellen) Abfuhr des männlichen Samens durchaus zur Entschuldigung männlicher Unzucht herangezogen werden. Sexuelle Auffälligkeit war entsprechend bei Männern im Gegensatz zu Frauen nie Anlass einer Begutachtung, sondern immer nur Begleiterscheinung.

 

Neben der Beschreibung der ärztlichen anthropologischen Vorstellungen richtet Lorenz ihre Aufmerksamkeit immer wieder auch auf die überwiegend ganz andere Sicht der Dinge durch die Untersuchten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden zunehmend auch von den Betroffenen selbst Gutachten beantragt. Man versuchte nun, akademische Argumente für die eigenen Zwecke einzusetzen, während die laienhaften Erklärungsmuster des 17. Jahrhunderts noch stark von den ärztlichen abgewichen waren.

 

Abgerundet wird das Werk schließlich durch einen Anhang, in dem Kurzbiographien von 33 Autoren der benutzten Fallsammlungen aufzufinden sind.

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour