Karitzky, Holger, Eduard Kohlrausch – Kriminalpolitik in vier Systemen. Eine strafrechtshistorische Biographie (= Berliner juristische Universitätsschriften, Strafrecht 15). Berlin Verlag GmbH, Berlin 2002. XX, 558 S.

 

Die voluminöse Studie, von der Berliner Humboldt-Universität 2002 als Dissertation angenommen, reiht sich ein in jene immer stattlicher werdende Zahl von Biografien, die zur Erhellung der Geschichte der Strafrechtswissenschaft im 20. Jahrhundert beitragen sollen. Dafür eignen sich Leben und Werk des Liszt–Schülers Eduard Kohlrausch (1874-1948) in besonderem Maße, weil dessen Wirken von der wilhelminischen Epoche über die Weimarer Zeit und die NS-Ära noch bis zu ersten Versuchen der Auseinandersetzung mit der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg reicht. Kohlrausch hat sich 1902 in Heidelberg habilitiert, war seit 1905 Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, hat 1919 die Nachfolge auf dem Berliner Lehrstuhl Franz von Liszts angetreten, war seit 1931 Vorsitzender der Deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV), von 1933 bis 1936 Mitglied der Strafrechtskommission des Reichsjustizministeriums und von 1936 bis 1939 Mitglied der entsprechenden Großen Strafprozesskommission. Nach 1945 hat er seine wissenschaftliche Tätigkeit in Berlin – wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten – bis zu seinem Tode fortgesetzt. Der Gelehrte ist in Fachkreisen nicht zuletzt durch seinen Kurzkommentar zum Strafgesetzbuch bekannt geworden, an dem später Richard Lange (1906-1995) mitgewirkt hat, der denn auch die letzte, 41. Auflage 1956 bearbeitet und herausgegeben hat. Kohlrausch gehört fraglos zu jenen Professoren, deren Biografien in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich sind: nicht nur hinsichtlich der Entwicklung seines Fachgebiets (Strafrecht) im Laufe verschiedener Epochen selbst, sondern auch in Bezug auf die Rolle der Wissenschaft in ganz verschiedenen Regierungssystemen überhaupt – worunter natürlich die NS-Diktatur den in jeder Hinsicht extremsten Fall bildet.

 

Karitzkys Studie gliedert sich in drei Teile, denen eine ihrerseits ebenso umfassende wie vielseitige Einleitung vorangestellt ist und eine entsprechende Nachbetrachtung folgt. Die Einleitung gibt bisherige Persönlichkeitsbilder Kohlrauschs in der Sekundärliteratur in kritischer Absicht wieder und setzt sich mit Methode und Bedeutung der Biografik in der juristischen Zeitgeschichte auseinander. Im ersten Teil lässt der Verfasser die verschiedenen Phasen des Lebens und Wirkens Kohlrauschs in den vier Systemen Revue passieren: den Beginn der akademischen Karriere in der wilhelminischen Ära, seine Tätigkeit in der Weimarer Republik und in der NS-Epoche sowie den – kurzen – Abschnitt der Nachkriegszeit. Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die kriminalpolitischen Leitgedanken und Reformvorstellungen des Gelehrten während jener vier Epochen im Blickwinkel von Kontinuität und Wandel. Die beiden thematischen Eckpfeiler bilden jeweils das materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht. Dabei erweist sich Kohlrausch keineswegs in jeder Hinsicht als legitimer Erbe von Liszts. Das wird beispielhaft an seinen strafprozessualen Vorstellungen in der Weimarer Zeit deutlich. Mit griffigen Formeln sucht Karitzky den jeweiligen wissenschaftlichen Standort des Gelehrten zu veranschaulichen. Danach figuriert Kohlrausch in der Weimarer Ära allenfalls hinsichtlich der Liszt’schen Frühzeit mit ihrer harten Linie auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung als Parteigänger seines Lehrers. Seine Reformvorstellungen in der NS-Epoche bringt der Verfasser auf den Nenner: „Volksschutz durch Strafrecht – Rechtssicherheit im Strafprozess“ (S. 374). Die Nachkriegsphase sieht Karitzky durch die Anknüpfung an – mehr oder minder „modernisierte“ – Gedankengänge der Weimarer Zeit gekennzeichnet. Die weltanschauliche Indoktrinierung und Instrumentalisierung des Strafrechts während des NS-Regimes wird vom Gelehrten deutlich heruntergespielt. „An der eigenen Vergangenheit übt er keine Kritik. Von Fehlern oder Irrtümern ist bei ihm nie die Rede.“ (S. 435) „Die nationalsozialistische Strafgesetzgebung verharmlost Kohlrausch.“ (S. 436)

 

Im dritten Teil thematisiert Karitzky den „Fall Kohlrausch“, der aus dem keineswegs in jeder Hinsicht eindeutigen Verhalten des Gelehrten in der NS-Ära resultierte. Hatten doch Bemühungen, Verfolgte (wie z. B. den Rechtsanwalt Hans Litten, der dann schließlich in sog. Schutzhaft doch ermordet wurde) vor dem Zugriff der Machthaber zu schützen, Publikationen gegenüber gestanden, die mehr oder minder auf der Linie des Zeitgeistes gelegen haben. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen amtliche Untersuchungen, die gegen Kohlrausch in der Nachkriegszeit in die Wege geleitet wurden, seine eigenen Verteidigungsstrategien und die Unterstützung durch strafrechtswissenschaftliche Kollegen. Hier wird sein Bemühen sichtbar, diskreditierende Veröffentlichungen und Stellungnahmen (in den Kommissionsarbeiten) zumindest in einem NS-neutralen, wenn nicht -kritischen Sinne zu interpretieren und dadurch den Vorwurf zu entkräften, er habe dem NS-Denken und -Handeln auf strafrechtlichem Gebiet Vorschub geleistet.

 

Karitzky zeigt sich namentlich bemüht, der zugegebenermaßen überaus schwierigen Situation Kohlrauschs in der NS-Zeit gerecht zu werden. Er bescheinigt ihm zwar eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit, begreift ihn aber gleichwohl nicht als puren Opportunisten, der dem Gesinnungs- und Rassenstrafrecht des Regimes zu theoretischen Grundlagen verhelfen wollte. Diese „Zwischenposition“ ist dem Autor zufolge einerseits durch Weiterführung von Gedankengängen der „modernen Schule“ von Liszts, andererseits aber eben durch Zugeständnisse an den sog. Zeitgeist charakterisiert. Letztere werden exemplarisch an Kohlrauschs Stellungnahme zur Todesstrafe im Dritten Reich erkennbar. Insofern erscheint der Gelehrte in der Rückschau weder als wissenschaftlicher Steigbügelhalter des NS-Regimes noch als der getreue Eckehart einer dem Rechtsstaat verpflichteten Rechtsidee. Das beugt einseitigen und aus dem zeitgeschichtlichen Kontext herausgelösten Urteilen über Persönlichkeit und Werk vor, erschwert aber gewiss eine präzise Standortbestimmung. Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche Einschätzung auf eine ganze Reihe von Strafrechtlern der NS-Ära zutreffen könnte.

 

Holger Karitzky hat in seiner Quellenstudie nicht nur eine Vielzahl ungedruckter Dokumente aus wohl sämtlichen Archiven ausgewertet, die für seine Untersuchung überhaupt brauchbares Material bereit gehalten haben (S. 507f.). Er hat auch die inzwischen erheblich angewachsene strafrechts- und zeitgeschichtliche Literatur in einem Ausmaß und in einer Vielseitigkeit berücksichtigt, die entsprechende Anerkennung verdient. Dabei spielt eine gewichtige Rolle, dass er wissenschaftliche und literarische Querverbindungen in einem nicht eben gewöhnlichen Umfang gezogen hat. Es nimmt bei diesem Gelehrtenleben nicht wunder, dass Karitzky auch die Radbruch’sche Frage nach dem Anteil, den der Rechtspositivismus an der Entstehung einer nationalsozialistischen Rechtswissenschaft hatte, aufgegriffen hat.

 

Um so mehr muss es erstaunen, dass der Verfasser die ideologie- und wissenschaftskritischen Arbeiten von Bernd Rüthers, die zentral die Rolle juristischer Professoren im Dritten Reich (und danach) zum Gegenstand haben, nicht in seine Analyse einbezogen hat. Sie hätten – wie immer man zu ihnen stehen mag – vor allem für die Schlussbetrachtung zu Rolle und Funktion von Strafrechtslehrern in der je aktuellen kriminalpolitischen Situation fruchtbar gemacht werden können. Das hätte denn auch Anlass dafür werden können, insgesamt die ebenso fragile wie problematische Rolle von Wissenschaftlern - gerade angesichts der von ihnen oft genug beanspruchten meinungsbildenden, wenn nicht -führenden Funktion - zu überdenken. In der Gemengelage von verantwortlicher Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs, Streben nach entsprechendem öffentlichem Einfluss und persönlichem Ehrgeiz bedarf es gewiss - wie Leben und Wirken Kohlrauschs demonstrieren und Karitzkys Studie denn auch belegt - insbesondere unter extremen politischen Bedingungen verlässlicher berufsethischer Orientierungen, wenn ein Gelehrter nicht mehr oder minder willfähriges „Opfer“ eines unerträglichen Zeitgeistes werden will. Oder gar in die Rolle eines (Schreibtisch-)Täters schlüpfen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Heinz Müller-Dietz