Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band 1 Historische Grundlagen, hg. v. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, 3. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2003. XXXIII, 884 S.

 

Die Geschichte kennt kein Ende. - Die beiden Herausgeber des anzuzeigenden Standardwerks zum deutschen Staatsrecht haben gut daran getan, eine Neuauflage des grundlegenden, ersten Bandes zu veranlassen. Seit der ersten Auflage des Jahres 1987 hat sich die staatsrechtliche und internationale Lage Deutschlands grundlegend verändert. In den 16 vergangenen Jahren ist das frühere Ziel des Grundgesetzes, die Wiedervereinigung zu einer staatsrechtlichen Realität geworden. Es gilt diese staatsrechtliche Zeitgeschichte nachzutragen. Sodann hat sich im Zuge der Wiedervereinigung auch die internationale Lage Deutschlands grundlegend geändert. Der Ost-West-Konflikt ist beendet und damit rückte Deutschland von einer Randlage in die Mitte Europas. Gleichzeitig hat der Fall des eisernen Vorhangs das Integrationsunternehmen der Europäischen Union gefördert. So werden im Jahr 2004 10 neue Mitgliedsländer, darunter viele osteuropäische Staaten der Union beitreten. Der neukonzipierte Band enthält zunächst die vollständig überarbeiteten Beiträge der Erstauflage. Sodann wurde der Kreis der Themen erweitert, nämlich um die Entstehung und Entwicklung der modernen Verfassung, um das Verfassungswerk der Paulskirche und sein Fortwirken, und um die deutsche Wiedervereinigung. Es ist zu begrüßen, dass der Band nicht nur um die jüngste Zeitgeschichte, sondern auch um das historische Fundament erweitert worden ist.

 

Der Band unterteilt sich in zwei Themenbereiche: Zunächst die geschichtlichen Vorgaben, die bis zum Ende des zweiten Weltkrieges reichen (S. 3-268). Anschließend folgt der zweite Teil über den Wiederaufbau, die Teilung und die Einung (S. 269-790). Personen-, Gesetzes- und Sachregister schließen das Werk ab (S. 791-884). Autoren waren: Dieter Grimm, Rainer Wahl, Walter Pauly, Ernst Rudolf Huber, Hans Schneider und Rolf Grawert im ersten und Michael Stolleis, Reinhard Mussgnug, Hasso Hofmann, Otto Luchterhandt, Georg Brunner, Michael Kilian, Rudolf Dolzer und Hartmut Bauer im zweiten Teil. Im Folgenden können nicht alle 14 Beiträge besprochen und gewürdigt werden. Im Sinne eines pars pro toto soll ausgewählt werden.

 

Dieter Grimm behandelt den Ursprung und den Wandel der Verfassung (S. 3ff.). Sein glänzender, elegant gefasster Rundgang durch die politische und Geistesgeschichte bringt die entscheidenden Entwicklungsschritte des modernen Verfassungsbegriffs auf den Punkt. Am Ursprung standen zwei erfolgreiche Revolutionen (Nordamerika und Frankreich). Spätere Verfassungen aber waren nicht mehr die Folge von Revolutionen. Vielmehr hatte der Konstitutionalismus sich im 19. Jahrhundert friedlich und nachgerade freiwillig nachahmend ausgebreitet. So hebt Grimm hervor, dass der Reichsverfassung von 1871 jeder revolutionäre Hintergrund fehlte. Sie war das von den deutschen Fürsten beschlossene Organisationsstatut des neuen Staates (S. 24). Bemerkenswert sind die nach Grimm notwendigen Elemente des Verfassungsbegriffs. Art. 16 der Déclaration von 1789 bestimmte: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution.“ Die Darlegung Grimms (S. 25) liest sich wie ein geschichtlich geprägter Erfahrungsbericht über das Ungenügen dieses Art. 16. Es ließ sich ahnen, dass mit dem Siegeszug des Konstitutionalismus, auch die autoritären und totalitären Staaten zum Mittel der „Verfassung“ greifen würden, um ihre Herrschaft zu sichern. Grimm antwortet diesen Versuchen mit seinen Elementen des Verfassungsbegriffs. Eine Verfassung müsse (1.) einen normativen Geltungsanspruch erheben, (2.) die Rechtsbindung auf jede errichtete und ausgeübte Herrschaft beziehen, (3.) die Rechtsbindung müsse umfassend sein und keine extrakonstitutionellen Inseln erlauben, (4.) von der Rechtsbindung alle Unterworfenen profitieren lassen, (5.) die einzige Legitimationsgrundlage von Herrschaft sein, die sich (6.) auf die Herrschaftsunterworfenen zurückführen lasse und (7.) Vorrang vor allen Ausübungsakten von Herrschaft (z. B. einfache Gesetze) haben. Das deutsche Grundgesetz hat nach all den leidvollen Erfahrungen diese Grundsätze lückenlos umgesetzt.

 

Es ist allerdings interessant, dass nicht alle europäischen Verfassungen der Gegenwart dem Konstitutionalismus derart achtungsvoll begegnen. Die schweizerische Bundesverfassung von 1999 erklärt in Art. 190 die Bundesgesetze für „maßgebend“, d. h. das Bundesgericht ist gehalten, auch verfassungswidrige Gesetze anzuwenden. Österreich erreicht dieses Ergebnis auf einem völlig andern Weg. Erweisen sich Gesetze als verfassungswidrig oder könnten sie es sein, so werden sie vom Parlament konstitutionalisiert, also vom Parlament mit der nötigen qualifizierten Mehrheit als Verfassungsrecht erlassen. Diese Gesetze werden dann für den Verfassungsgerichtshof ebenfalls als Verfassungsrecht „maßgebend“. Die österreichische Verfassung ist damit aber unübersichtlich geworden, ja man könnte fast sagen, Österreich wandere verfassungsrechtlich in Richtung Großbritannien. Diese Bemerkungen des Rezensenten gehören natürlich nicht in den besprochenen Band. Sie zeigen nur, wie der glänzend geschriebene Beitrag Grimms zum Weiterdenken und zum Vergleichen anregt. Grimm schließt seinen Beitrag mit gewissen Gefährdungen des Konstitutionalismus ab, nämlich der Integration wohlfahrtsstaatlicher Vorstellungen in die Verfassung (S. 26ff.) sowie das Verhältnis der Verfassung zu den Parteien (S. 31ff.).

 

Es ist interessant, diese Überlegungen mit dem Beitrag Rolf Grawerts über die nationalsozialistische Herrschaft zu kontrastieren (S. 235ff.). Der Autor schildert knapp und übersichtlich die Vorgänge um die Machtergreifung vom 30. 1. 1933, sodann den Abbau der Verbände, des Parteienpluralismus, der Entparlamentarisierung und der Entföderalisierung. Die nationalsozialistische Rechtspraxis missbraucht das Gesetz zur Legitimation und Bemäntelung der Gewaltherrschaft. Der „Gesetzgebungspluralismus“ bedeute - so Grawert - Vielfalt der Technik, nicht Vielfalt substantieller Initiativen. Das ist gelinde ausgedrückt, denn Hitler und seine Gefolgsleute hatten für das Recht und die Juristen nichts als Verachtung übrig. Sie handhabten auch so das ihnen zu Gebote stehende Recht. Das Dritte Reich hat deshalb auch keine neue Verfassung gesucht, sondern seine Herrschaft wurde nach dem Abbau des Rechtsstaates „nackt“ und eben brutal ausgeübt. Die Verfassung zerfiel und der Staatsrechtslehre wurde schließlich einfach der Gegenstand entzogen (S. 263). – „Das Grundgesetz antwortet darauf mit seiner - form- und verfahrensrechtlich ausbalancierten –„Rechtswerte- und Strukturordnung“ (S. 264). Es handelt sich auch hier um einen konzisen, verständlichen und differenzierten Grundlagenbeitrag zur Entstehung des Grundgesetzes.

 

Die Wiedervereinigung wird von drei Beiträgen behandelt. Michael Kilian beschreibt den „Vorgang der deutschen Wiedervereinigung“ (S. 597ff.). Ralf Dolzer behandelt „die Identität Deutschlands vor und nach der Wiedervereinigung“ (S. 669) und Hartmut Bauer schließt den Band mit der „Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschland“ ab (S. 699). Der umfassende Beitrag von Bauer stellt die vielfältigen verfassungsrechtlichen Probleme dar, das komplizierte Übergangsrecht, die staatsrechtliche Vergangenheitsbewältigung, die Rechtsangleichung und die vielfältigen Auswirkungen auf grundlegende Verfassungsprinzipien. Als grundlegende Tendenzen macht der Autor (1.) eine Staatsmodernisierung durch Steuerwettbewerb und Privatisierung, (2.) eine Reföderalisierung durch den kompetitiven Bundesstaat, (3.) eine Entparlamentarisierung durch die Stärkung der Exekutiven, sowie (4.) die Europäisierung und (5.) Internationalisierung aus. Das Grundgesetz habe sich als zukunftsfähig erwiesen. Die Wiedervereinigung habe einen „Ruck durch das Grundgesetz gehen lassen“ (S. 786) und es habe den Ruck aufgefangen. Im Europäischen Verfassungsfieber, das nicht recht aufkommen wolle, sei das Grundgesetz ein Exportschlager, „auch wenn sich dort die aus der deutschen Verfassungsrechtsentwicklung und Verfassungskultur vertrauten Grundsätze, Regeln und Institute nicht immer oder nur modifiziert durchsetzen werden“ (S. 788).

 

Es handelt sich um ein wertvolles und wichtiges Werk über die historischen Grundlagen des Grundgesetzes. Und im Grunde genommen, lässt man seinen Blick - angeregt durch die Lektüre - über den Buchrand schweifen, behandelt es auch die europäischen Verfassungen insgesamt. Nicht nur sein Gegenstand, sondern auch der Band selbst dürfte aufgrund seiner umfassenden und umsichtigen Analysen zu einem „Exportschlager“ werden.

 

Bern                                                                                                              Andreas Kley