Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen. Beiträge zum gleichnamigen Symposium an der Universität Tübingen vom 27. und 28. Juli 2001, hg. v. Hartmann, Wilfried/Schmitz, Gerhard. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2002. XII, 279 S.

 

Wie die Freiheit die Knechtschaft, so hat die Wahrheit die Falschheit zum notwendigen Geschwister. Wenn selbst in einem modernen Rechtsstaat noch Vorsitzende bekannter juristischer Bildungseinrichtungen zum Schutz kollusiver Machenschaften Protokolle fälschen, darf man nicht darüber erstaunt sein, dass auch in der Vergangenheit die Wahrheit durch Fälschung verletzt wurde. Deswegen ist zu Recht die Fälschung seit langem Gegenstand auch der geschichtlichen Forschung.

 

Bei naheliegender Gelegenheit des 75. Geburtstags des großen Fälschungsforschers Horst Fuhrmann haben seine Schüler am 27. und 28. Juli 2001 ein Symposium an der Universität Tübingen organisiert. Die dort versammelten Gelehrten haben sich dabei zu vielfältigen interessanten Einzelfragen der Fälschungsforschung geäußert und ihre wertvollen Beiträge in neun Fällen auch zum Druck gegeben. Die Herausgeber haben im Vorwort das Werk – auch unter offener Kritik an öffentlicher Förderungspolitik –in den wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet und der Geehrte selbst hat am Ende die Bilanz der Fälschungsforschung gezogen.

 

Den Band eröffnet Klaus Zechiel-Eckes, dessen Untersuchungen der Pseudoisidorforschung einen völlig unerwarteten Durchbruch eröffnet haben, nämlich die Entdeckung der nach einhelliger Ansicht früher zur Bibliothek des Klosters Corbie am Nordufer der Somme unweit des Reimser Suffraganbistums Amiens gehörigen Handschriften Sankt Petersburg, Russische Nationalbibliothek lat. F. v. I. 11 (Cassiodor, Historia tripartita, geschrieben zwischen 814 und 821) und Paris, Bibliothèque nationale lat. 11611 (Akten von Chalcedon in der Bearbeitung des Rusticus, erstes Viertel neuntes Jahrhundert) als unmittelbare Arbeitshandschriften, auf die Pseudoisidor zugegriffen hat, um seinem Fälschungskomplex Exzerpte einzuverleiben. Detektivisch auf Pseudoisidors Spur (oder Versuch, einen dichten Schleier zu lüften) beschreibt der Verfasser zunächst die literarische Zwittergestalt Isidorus Mercator servus Christi, den angeblich 80 Bischöfe beauftragt hatten, alle greifbaren kirchenrechtlichen Vorschriften in eine historisch-chronologische Ordnung zu bringen. Daran schließt er dessen seinerzeit Aufsehen erregende Leistung der Publikation von etwa einhundert bis dahin völlig unbekannten Briefen der frühchristlichen Päpste Clemens I., Anacletus, Evaristus, Alexander I., Sixtus I., Telesphorus, Hyginus usw. aus der Zeit vor der Mitte des vierten nachchristlichen Jahrhunderts. Danach stellt er als dritte pseudoisidorische Arbeitshandschrift die vatikanische Handschrift Pal. lat. 1719 des frühen neunten Jahrhunderts vor. Sie enthält auf Blatt 48a Z. 12 am Rand die jüngere Notiz hic usq(ue) in fine(m), die deswegen besonders aufschlussreich ist, weil der dort beginnende, durch die Lesart exsecratio virtutum (statt exercitio virtutum) individualisierte, auf Blatt 49a Z. 8 endende Text identisch ist mit dem für Papst Anaclet angeführten Text von immerhin 21 Zeilen Länge, woraus Klaus Zechiel-Eckes überzeugend schließt, dass sich die Blätter 35-44 der vatikanischen Handschrift im zweiten Viertel des neunten Jahrhunderts in Corbie befanden. Aus diesen Funden folgert der Verfasser,  dass zwischen Frühjahr 836 und Frühsommer 838 in Corbie eine herausragende, auf Kaiser Lothar I. vertrauende Persönlichkeit an der Redaktion falscher Papstbriefe arbeitete. Sie wird von ihm als Ratbertus diaconus (Paschasius Radbertus) identifiziert. Nach den von ihm vorgelegten Kanones hätte die Diedenhofener Reichssynode gegen führende Bischöfe der Reichseinheitspartei wegen Verletzung mindestens vierer grundlegender Vorschriften nicht vorgehen dürfen, woraus Klaus Zechiel-Eckes den Schluss zieht, dass die Initialzündung für den vielschichtigen Fälschungskomplex in der starken Spannung der Herrschaftszeit Ludwigs des Frommen gesehen werden muss.

 

Im Anschluss hieran betrachtet Gerhard Schmitz die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Fälschen (der Collectio Hispana Gallica Augustodunensis, der Capitula Angilramni, der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita und der pseudoisidorischen Dekretalen), obwohl die Aufeinanderfolge der Fälschungen im Einzelnen und in dem Maße gegenseitiger Beeinflussung noch nicht geklärt ist. Unter Konzentration auf zwei Falsifikate (Benedictus Levita 1,35-36) wendet er sich dem Fälschungsanlass und der Fälschungsabsicht zu. Sein unbezweifelbares Ergebnis lautet, dass beim Fälschen der Fälscher dazu gelernt hat.

 

Veronika Lukas teilt philologische Betrachtungen zur Rezeption der Relatio episcoporum von 829 bei Benedictus Levita mit. Diese (Relatio episcoporum bzw.) Denkschrift der fränkischen Bischöfe vom August 829 über die Beschlüsse des Reformkonzils vom Juni 829 ist nicht nur bei Benedictus Levita teilweise in zwei deutlich voneinander abweichenden Fassungen überliefert, sondern kann auch mit den ihr zugrundeliegenden Akten des Reformkonzils verglichen werden. Der Vergleich zeigt, dass Benedikts Version dem in den Konzilsakten überlieferten Text an zahlreichen Stellen erheblich näher steht als die (edierte Fassung der) Relatio episcoporum, woraus die Verfasserin gegen Emil Seckel schließt, dass Benedikt einen besseren Text der Denkschrift hatte als die Gegenwart. Auf dieser Grundlage formuliert der Fälscher die Denkschrift teilweise in ein Kapitular um, nimmt dabei aber auch eindeutige Fälschungen vor. Wegen der Unterschiedlichkeit der Bearbeitung einzelner Stücke vermutet die Verfasserin sogar, dass an ihr mehrere unterschiedlich geschickte Köpfe ausführend beteiligt gewesen sein könnten.

 

Herbert Schneider behandelt die Geburtsstunde des Weihwassers (JK †24) und andere Liturgica bei Pseudoisidor an Hand der 60 auf die ältesten Päpste gefälschten Briefe. Zutreffend weist er darauf hin, dass das Weihwasser selbst keine Erfindung Pseudoisidors ist, sondern nur die angebliche historische Urkunde seiner Einführung durch Papst Alexander I. († 116), mit der er wohl den eingespielten Brauch rechtfertigen will. Insgesamt gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass die unzweifelhafte Traditionsgebundenheit des Fälschers und seine grundsätzliche Ausrichtung an Rom als dem Hort wahrer Überlieferung nicht traditionalistisch waren.

 

Rudolf Schieffer untersucht die Erfindung der Enzyklika, die sich in gewisser Stetigkeit nur bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Deswegen weist er zu Recht auf den Umstand hin, dass die in die ältesten Papstregesten aufgenommenen, an alle Bischöfe und sämtliche übrigen Gläubigen gerichteten Schreiben überwiegend nicht uralte Zeugnisse eines umfassenden römischen Kirchenregiments sind, sondern pseudoisidorische Phantasiegebilde des 9. Jahrhunderts. Ihnen gehen allerdings etwa zehn, bereits im vierten Jahrhundert beginnende Fälle von Schreiben mit Pauschaladressen voraus, wobei die erste als litterae encycliae bezeichnete Enzyklika das Rundschreiben Papst Martins I. über die Beschlüsse der Lateransynode von 649 ist, so dass der Schluss überzeugt, dass in Zeiten der Handschrift das Rundschreiben keiner Kontinuität gefolgt ist.

 

Erzwungener Eid, Exceptio spolii, Raub von Kirchengut. Pseudoisidor in einigen ungedruckten Briefen des 11. Jahrhunderts ist das Thema Detlev Jaspers. Seine im Anhang edierten Briefe sind in der Handschrift Bordeaux, Bibliothèque Municipale Codex 11 überliefert und dürften 1072 (-1077) entstanden sein. Sie erweisen die Beachtung von Grundsätzen, welche die pseudoisidorischen Fälscher des 11. Jahrhunderts vertreten haben, in der kirchlichen Rechtsprechung des 11. Jahrhunderts, was den Verfasser zu der rhetorischen Frage veranlasst: Ist das etwa kein Fortschritt durch Fälschungen?

 

Peter Landau erforscht Gratians unmittelbare Quellen für seine Pseudoisidortexte, die nach Horst Fuhrmann 375 Gratiankapitel betreffen. Nach Durchsicht aller (tatsächlich 390) von Fuhrmann registrierten gratianischen Pseudoisidortexte widerspricht Landau Fuhrmann darin, dass die Redaktoren des gratianischen Dekrets die pseudoisidorische Fälschung unmittelbar als Vorlage verwendet haben. Nach seinen Untersuchungen ist nach Anselm von Lucca (118 Kapitel) die sog. Drei-Bücher-Sammlung (mit 104 Kapiteln) die wichtigste pseudoisidorische Quelle Gratians, während Panormie, Alger von Lüttich und Polycarp in diesem Zusammenhang von geringer oder gar keiner Bedeutung sind (Index zu Gratian und Pseudoisidor in Appendix II).

 

Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Kritik an den pseudoisidorischen Dekretalen stellt Martina Hartmann vor. Sie setzt mit Matthias Flacius Illyricus (1520-1575) ein. Im Ergebnis zeigt sie die Entwicklung von mittelalterlich-unkritischer Haltung bei kritischem Verstand über die rein konfessionell motivierte vehemente Ablehnung hin zu einem  wissenschaftlich fundierten Fälschungsnachweis, wobei Matthias Flacius noch mit einem Bein im Mittelalter zu stehen scheint.

 

Danach referiert Wilfried Hartmann Schwierigkeiten beim Edieren an Hand gelungener und gescheiterter Editionen großer Kirchenrechtssammlungen. Sehr sorgfältig schildert er die wenigen gelungenen neuen Editionen. Ebenso wertvoll ist seine umfassende Übersicht über die erfolglosen Vorhaben und die vielfältigen Gründe des Scheiterns.

 

Am Ende informiert Horst Fuhrmann selbst über Stand, Aufgaben und Perspektiven der Pseudoisidorforschung. L’état c’est nous beschreibt der Meister ernüchternd die Wirklichkeit. Die Frage nach dem Stand der Texterfassung und der Überlieferungsklärung offenbart ein bescheidenes Ergebnis. Bei den Dekretalen dürften ziemlich alle (der insgesamt mehr als 600 Pseudoisidorhandschriften) bekannt sein, doch ist noch unbekannt, welche an die Spitze gehören. Zur Kenntnis der Überlieferungszusammenhänge der mehr als 100 Handschriften der falschen Dekretalen weist Fuhrmann darauf hin, dass die von Paul Hinschius und Emil Seckel getroffene Einteilung irreführend ist und etwa die wichtige vatikanische Handschrift latinus 630 nicht um 1100, sondern um 860 in Corbie geschrieben wurde. Zur Entstehung stellt er fest, dass nicht einmal mit Sicherheit bekannt ist, wie weit der Umkreis der pseudoisidorischen Wirksamkeit reicht. Deswegen ist es schwierig, Veränderung und Gestaltung von Texten in pseudoisidorischen Sinn oder Wortlaut genau einzugrenzen. Bei der zentralen Frage der Verbindung der Texte untereinander reicht Fuhrmanns Skepsis bis zu der Aussage, dass man hier wohl nie so recht zum Ziel kommen wird. Weil die Genese des aus einem Riesennetzwerk stammenden Textes schwer durchschaubar ist, bleibt eine brauchbare Edition schwierig.

 

Besonders aufmerksam macht Fuhrmann dabei darauf, dass bei einer zeitlichen Verbindung des Geschehens mit den Jahren 833 bis 836, einer örtlichen Verknüpfung mit Corbie und einer kausalen Anbindung an die Vertreibung von Bischöfen und Geistlichen merkwürdigerweise Klosterangelegenheiten in den falschen Dekretalen überhaupt nicht behandelt werden. Ebenso beachtenswert ist der Hinweis, dass der gewaltige Fälschungsaufwand trotz der zahlreichen Handschriften kaum unmittelbare Auswirkungen zeitigte. Einfluss und Verbreitung setzen vielmehr mit voller Kraft erst im 11. Jahrhundert ein.

 

Hier habe die Fälschung die notwendige Ungebundenheit des Entwurfs gehabt. Sie sei ein irreales, ein visionäres Modell gewesen, das im entsprechenden Umfeld als Muster dienen konnte und sich in die Wirklichkeit überführen habe lassen. Auf diese Weise habe die Fälschung den Fortschritt gefördert.

 

Dies mag möglich sein, zweifelhaft bleibt aber, ob dies das Ziel des Fälschers war. Wahrscheinlich hat jeder Fälscher die Bewirkung eigenen Vorteils für sich und sein Umfeld eher im Kopf als die Bewirkung von Fortschritt zu Gunsten der Allgemeinheit. Die Zielsetzung ist für die Bewertung des Verhaltens jedes Fälschers aber gewichtiger als eine mögliche ungewollte und unbewusste Fernwirkung.

 

Ein Handschriftenregister, ein kirchenrechtlicher Index und ein Verzeichnis der Namen, Sachen und Werke runden den qualitativ eindrucksvollen Band gelungen ab.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler