Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, hg. v. Kirsch, Martin/Schiera, Pierangelo (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 38). Duncker & Humblot, Berlin 2001. 408 S.

 

Der Sammelband bietet den Ertrag einer Tagung, welche die Herausgeber in Zusammenarbeit mit Brigitte Mazohl-Wallnig (Innsbruck) und Marco Meriggi (Neapel) 1998 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten und an der sich Historiker und Juristen aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Italien, Österreich, der Schweiz, Spanien, Tschechien und Ungarn beteiligten. Es geht um die Veränderungen und Entwicklungsbedingungen der Verfassung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei die europäischen Zusammenhänge hervortreten sollen. Eine vergleichende europäische Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts steht, wie die Herausgeber betonen, noch durchaus in den Anfängen. Um so wertvoller erscheinen die Aufsätze im ersten Teil des Bandes, der den Titel trägt: „Europäische Aspekte des Verfassungswandels um 1848“. Pierangelo Schiera erkennt zwar „die Besonderheit des deutschen Liberalismus hinsichtlich der französischen und englischen Tradition“, hat aber mit guten Gründen die „Geschichte des europäischen Konstitutionalismus“ im Blick. Martin Kirsch erhellt die umstrittene Frage, ob die Umbrüche von 1848 „doch maßgeblich ein europäisches Ereignis waren“, wobei er sowohl strukturelle Vergleiche anstellt wie transfergeschichtliche Rezeptionsprobleme einbezieht. Antonino De Francesco beschreibt die föderalen Konzeptionen im europäischen Denken zwischen 1789 und 1848, indem er deren Wandlungen und nationalen Unterschiede herausarbeitet.

 

Der zweite Teil des durchweg in deutscher Sprache gehaltenen Sammelwerkes gilt dem Wechselverhältnis von Verfassung und Gesellschaft in europäischen Staaten, der dritte befaßt sich mit verfassungsrechtlichen Rezeptionsvorgängen und der vierte schließlich erörtert die Nationalitätenfrage. Auch wenn der Band Länder in die Betrachtung einbezieht, die im Jahre 1848 keine Revolution erlebten, so bildet diese doch ein Grundthema. Den Zusammenhang zwischen Verfassung und Revolution klärt Hans Boldt in seinem überaus förderlichen, grundsätzlichen Aufsatz. Er zeigt, daß Revolution und Verfassung zusammengehören, daß „Revolutionen sich um der Verfassung willen ereignen. Ihr Ziel ist eine neue Verfassung im rechtlich-politischen, aber auch im gesellschaftlichen Sinne“. Das unterscheide die Revolution im Verständnis des durch die Aufklärung und das paradigmatische Ereignis der Großen Revolution von 1789 vorgeprägten 19. Jahrhunderts von der einfachen Revolte, der Rebellion, dem Putsch oder dem Staatsstreich. Revolutionen schaffen, „indem sie aufgestaute Hemmnisse beseitigen, auf ihre Weise neue Verfassungszustände“. Als Neuschöpfung gilt die Verfassunggebung nicht als ein aus dem alten Recht abgeleiteter und von diesem legitimierter Rechtsakt, vielmehr als Rechtsbruch, der zu einer neuen Grundlage der staatlichen Ordnung führt. „Insofern ist die Verfassunggebung stets ein revolutionärer Akt, selbst dann, wenn sie ohne vorangehende Revolution erfolgt“. So sind auch die herrscherlichen Verfassungsoktrois durchaus revolutionäre Vorkommnisse gewesen. Andererseits kann die Verfassunggebung auch dazu dienen, einen revolutionären Prozeß aufzuhalten. Immer steht die Verfassunggebung im Zusammenhang einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, die trotz ihres längeren Andauerns den Namen „industrielle Revolution“ erhielt. Der Autor erkennt die Ambivalenz des Paulskirchenparlaments, das zwar gesetzlich berufen war, sich andererseits zur Legitimation seiner Tätigkeit auf die Souveränität der Nation berief. Am Ende muß Boldt von den Revolutionen „im eigentlichen, engeren Sinne“ schreiben, unter die er die Vorgänge insbesondere in Wien und Berlin und die Reichsverfassungskampagne im Frühjahr 1849 faßt. Die revolutionären Ereignisse lassen sich letztlich nicht alle über einen Leisten schlagen.

 

Das gilt auch für die Wandlungen und Umbrüche der Verfassungen in Europa während der Mitte des 19. Jahrhunderts. Neben der Gleichartigkeit geistiger Grundströmungen und Entwicklungen, neben mancherlei Anleihen und Rezeptionen bestehen doch vielfach auch tiefe, kulturell begründete Unterschiede und Eigenarten im Blick auf die einzelnen Länder und in den zeitlichen Abläufen. Diesen Reichtum spiegelt der Band mit seinen durchweg ergiebigen Nachweisen. Die versammelten dreiundzwanzig Studien, die sich vielfach auch als methodisch anspruchsvoll erweisen, fügen sich insgesamt zwar nicht zu einer geschlossenen europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zusammen, liefern dafür aber jedenfalls wertvolle Bausteine.

 

Heidelberg                                                                                                               Adolf Laufs