Thulfaut, Gerrit, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger 1883-1962. Eine wissenschaftsgeschichtliche und biographische Untersuchung (= Juristische Zeitgeschichte Abteilung 4 Leben und Werk 2). Nomos, Baden-Baden 2000. XIV, 374 S.

 

In der Geschichtswissenschaft wird seit dem Ende der 1980er Jahre die Bedeutung der politischen Zäsurdaten „1933“ und „1945“ für die allgemeine Geschichte verstärkt in Frage gestellt beziehungsweise relativiert; den beginnenden Wandel markiert wohl am besten das Sammelwerk „Von Stalingrad zur Währungsreform“ (1988) des Instituts für Zeitgeschichte in München unter seinem damaligen Direktor Martin Broszat. Bis dahin hatte in Politik, Gesellschaft, Kultur und auch in der Wissenschaft das in der Nachkriegszeit so ungemein populäre und bequeme, exkulpatorischeStunde-Null“-Denken vorgeherrscht, welches nur zweimal, unmittelbar nach Kriegsende durch die alliierten Entnazifizierungsmaßnahmen und am Ende der 1960er Jahre durch die unerwünschten Fragen der neuen Studentengeneration, gestört worden war. Die sich durch die jeweils konkreten Biografien stellenden Fragen nach einer wissenschaftlichen „Vorgeschichte“ wurden entweder auf die Zeit bis 1933 reduziert oder aber für die NS-Zeit sehr selektiv gehandhabt. Dem hier im Mittelpunkt stehenden Strafrechtler und Kriminologen Edmund Mezger gelang es zum Beispiel, sein Weimarer Lehrbuch „Strafrecht“ (1. Auflage 1931, 2. Auflage 1933) im Jahr 1949 in 3. unveränderter Auflage herauszubringen, während sein Eintrag im „Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender“ von 1954 jegliche Tätigkeit oder Veröffentlichung im NS-Staat verschweigt.

 

Gerrit Thulfaut hat es in seiner Hagener rechtswissenschaftlichen Dissertation (Betreuer Thomas Vormbaum) unternommen, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883-1962) in der gesamten biografischen Breite zu untersuchen. Vor allem durch sein weit verbreitetes „Kurz-Lehrbuch Strafrecht“ (mehrere Auflagen seit 1948/49) und sein „Studienbuch Kriminologie“ (1951) prägte er in den 1950er und 1960er Jahren ganze Generationen von angehenden Juristen; durch den stellvertretenden Vorsitz in der Großen Strafrechtskommission (1954-1960) übte er großen Einfluss auf den ersten Strafgesetzbuchentwurf in der Bundesrepublik aus, der dann allerdings in Folge des grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels der 1960er Jahre nicht mehr politisch durchgesetzt werden konnte. Für den 1952 emeritierten Münchener Professor Mezger (Übernahme des Lehrstuhls 1932) war dies bereits der zweite berufliche Höhepunkt seines Gelehrtenlebens; den ersten hatte er unter anderen politischen Vorzeichen, in der NS-Diktatur, als Mitglied der nationalsozialistischen Amtlichen Strafrechtskommission, Mitglied der Akademie für Deutsches Recht, juristischer Berater und Vertreter der Hitler-Regierung im Inland und Ausland erlebt. Seine Tätigkeiten und erfolgreichen Lehrbücher: „Deutsches Strafrecht, ein Grundriß“ (1938, 3. Auflage 1943), „Kriminologie“ (1934, 3. Auflage 1944), ließen ihn zu einem der wichtigsten Rechtswissenschaftler im NS-Staat werden; zusammen mit seinem Münchener juristischen Kollegen Franz Exner (1881-1947) legte er in diesen Jahren die Grundlagen für die universitäre Etablierung der deutschen Kriminologie.

 

Thulfaut hat sich dem Thema in einer gründlichen, für den historisch interessierten Betrachter aber etwas einseitigen Weise genähert. Bei der fast 400seitigen Dissertation handelt es sich fast ausschließlich um eine chronologisch aufgebaute Zusammenfassung und Analyse der von Mezger veröffentlichten Bücher und wichtigsten Aufsätze; die zeitliche Drittelung (bis 1933, NS-Zeit, nach 1945) wird jeweils durch die Betrachtung der Strafrechtslehre einerseits und der Kriminologie andererseits aufgeteilt. Der historische Hintergrund bleibt blass, auf die eigentlich interessanten, aktuell diskutierten Fragen nach dem Spezifikum nationalsozialistischen Rechtsdenkens und seinen Kontinuitäten über 1945 hinaus wird höchstens hingewiesen, sie werden aber nicht erörtert; eine Einordnung in den inzwischen respektablen Forschungsstand zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit findet nicht statt. Weitere Kritikpunkte: Der biografische Teil fällt denkbar knapp (weniger als 20 Seiten) aus, und selbst die Bibliografie der Werke Mezgers weist Lücken auf. Das größte Manko jedoch ist aus Sicht des Rezensenten, dass sich der Autor nicht der Mühe unterzogen hat, das nicht-veröffentlichte rechtswissenschaftliche Leben Mezgers einer intensiveren Betrachtung zu unterziehen; an Archivmaterial wurde lediglich die Münchner Universitätspersonalakte herangezogen (Gibt es keinen Privatnachlass Mezgers?). Im Gegensatz zu anderen juristischen Kollegen hat sich aber Mezger in der NS-Zeit regelrecht in den Vordergrund gedrängt, hatte seine vermeintlich „unpolitische“ Haltung zur Weimarer Republik unmittelbar nach dem Regierungsantritt Hitlers 1933 aufgegeben und nicht nur auf dem Lehrstuhl, sondern auch in der Fachöffentlichkeit im Inland und Ausland die neue, nationalsozialistische Strafrechtsreform und Kriminalpolitik offensiv und bis zum Ende des NS-Staates vertreten. Noch im Frühjahr und Sommer 1944 diente er sich dem Reichsjustizministerium als Interpret des unterschriftsreif vorliegenden „Gemeinschaftsfremdengesetzes“ an, welches den Schlusspunkt unter die nationalsozialistische Entrechtungspolitik gegenüber allen nicht-„Volksgenossen“ setzen und die verbrecherische Politik des Reichsjustizministeriums unter Minister Thierack („Vernichtung durch Arbeit“) rechtswirksam flankieren sollte (als Dokument nachzulesen bei Norbert Frei, Der Führerstaat, 5. Auflage 1997).

 

Allerdings lassen Mezgers Veröffentlichungen aus der NS-Zeit selbst an eindeutigen Aussagen nichts zu wünschen übrig, sei es, dass er vom „sozialen Schmarotzertum“ spricht, den „Gedanken der Ausmerzung volks- und rasseschädlicher Teile der Bevölkerung“ begrüßt oder die „rassenmäßige Aufartung des Volkes“ fordert (siehe auch bereits den Aufsatz von Klaus Rehbein in der Monatsschrift für Kriminologie 1987). Umso dringlicher stellt sich daher die Frage, warum es ihm gelang, seine Karriere und sein Ansehen über 1945 hinaus ungeschmälert zu retten und darüber hinaus in den 1950er Jahren sogar die Gelegenheit erhielt, abermals - jetzt unter demokratischen Vorzeichen - die Strafrechtsreformarbeit zu leiten. Fragen, die Thomas Vormbaum bereits 1992 (Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein) stellte, die aber durch diese Arbeit leider nicht beantwortet werden.

 

Saarbrücken                                                                                                  Rainer Möhler