Reuß, Ernst, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945-1952, dargestellt anhand der Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Berlin-Mitte (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 17). Berlin Verlag, Berlin 2000. 417 S.

 

Der Prozess der deutschen Einheit ist noch lange nicht abgeschlossen. Die Menschen sind sensibilisiert für die Schwierigkeiten in Umbruchphasen. Auch die Justiz ist von den Problemen, die sich aus einem grundlegenden Systemwechsel ergeben, nicht ausgenommen. Bereits diese allgemeinen Überlegungen eröffnen einen Zugang zu der hier anzuzeigenden Berliner Dissertation. Der Autor untersucht die Berliner Justizgeschichte des Zeitraums von 1945 bis 1952. Diese Themenstellung ist unter mehreren Vorzeichen interessant. Erstens betrifft die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges selbst eine tiefgreifende Umbruchsituation, die vielfach sogar als „Stunde Null“ bezeichnet wird. Zweitens werden in dieser Phase die Weichen jener Entwicklung gestellt, die zur Herausbildung unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Systeme einschließlich ihres jeweiligen Justizwesens geführt haben. Durch die örtliche Beschränkung und die Konzentration auf den Justizsektor entsteht ein dichtes Bild von den damaligen politischen Vorgängen. In der „Frontstadt“ Berlin, die als Miniaturbild des Kalten Krieges erscheint, prallten die politischen und ideologischen Gegensätze mit besonderer Härte aufeinander; das gilt insbesondere für das Justizsystem, das einen Eckpfeiler zur Sicherung der Macht verkörperte.

 

Reuß referiert jedoch nicht nur aus bereits zugänglichen Quellen, sondern seine Arbeit basiert maßgeblich auf neuen empirischen Forschungen zu ca. 3000 Akten des Amtsgerichts Berlin-Mitte. Hierbei wurden 2745 Strafakten in Einzelrichtersachen statistisch ausgewertet sowie stichprobenartig etwa 300 Verfahrensakten sowie alle vorhandenen Generalakten inhaltlich und textanalytisch untersucht. Das Aktenmaterial erweist sich als Spiegel der Not sowohl der Justiz als auch der Bevölkerung. Entsprechend mehrdimensional ist auch die Untersuchung angelegt. Zum einen beleuchtet Reuß die Arbeitsbedingungen der Justiz, zum anderen richtet er seinen Blick auf die Ursachen und die Ahndung kriminellen Verhaltens in Umbruchphasen. Für die insoweit anzustellenden Betrachtungen markiert die durch die Verlegung des Kammergerichts in den Westteil der Stadt vollzogene Justizspaltung im Februar 1949 eine maßgebliche Zäsur.

 

Erhebliche Schwierigkeiten beim Wiederaufbau der Justiz resultierten zum einen aus der wirtschaftlichen Mangellage. Anschaulich beschreibt Reuß, wie eine notorische Papierknappheit und Stromsperren den Arbeitsalltag der Justiz nachhaltig erschwerten. Doch auch im Personalbereich ergaben sich große Probleme. Infolge des Krieges und der Entnazifizierungsmaßnahmen standen nur sehr wenige Richter zur Verfügung. So sank der Personalbestand des (einstmals größten deutschen) Amtsgerichts Berlin-Mitte von 2700 Angestellten im Jahre 1938 unmittelbar nach Kriegsende auf 48 Personen; die Zahl der Richter verringerte sich von 279 im (Kriegs-)Jahr 1941 auf 25 im März 1946. Zur Behebung der Richternot (346 unbesetzte Planstellen im April 1948) wurden bereits pensionierte, unbelastete Richter und Staatsanwälte reaktiviert, die Verkürzung des Studiums (auf vier Semester) und der Referendarzeit für aktive Antifaschisten und Verfolgte des NS-Regimes ermöglicht, Studenten aushilfsweise herangezogen, „Richter im Soforteinsatz“ bestellt und seit Ende 1946 in zunehmendem Maße auch Rechtsanwälte für einen gewissen Zeitraum als Richter und Staatsanwälte zwangsverpflichtet (1948 waren es 120 Richter und 50 Staatsanwälte). Trotz dieser Maßnahmen drohte die ganze Rechtspflege stecken zu bleiben. Eine grundlegende Entspannung der Situation stellte sich erst mit der Justizspaltung ein. Während der Zeit der Blockade Berlins (24. 6. 1948-12. 5. 1949), nach der politischen Spaltung der Stadt und bei einem Nebeneinander zweier Währungen konnte die Justizeinheit nicht aufrechterhalten werden. Immerhin löste die Trennung der Justiz das Problem des Richtermangels auf beiden Seiten: Im Westteil machten die aus dem Ostteil eintreffenden Richter weitere Zwangsverpflichtungen entbehrlich; im Ostsektor wurde nunmehr der zuvor in Berlin nicht durchsetzbare Einsatz von Volksrichtern möglich. Für das Amtsgericht Berlin-Mitte stellt Reuß einen vollständigen Personalwechsel fest; kein einziger von insgesamt 120 identifizierbaren Richtern war vor und nach der Justizspaltung als Strafrichter an diesem Gericht tätig.

Die materielle Not belastete nicht nur den Justizapparat, sondern sie bildete zugleich die maßgebliche Kriminalitätsursache der damaligen Zeit. Hierbei stand die Diebstahlsdelinquenz eindeutig im Vordergrund. Der typische Nachkriegstäter war weniger der mit allen Wassern gewaschene Berufsverbrecher als vielmehr der selbst Not leidende „Otto Normalverbraucher“, für den (insbesondere im Hungerwinter 1946/47) Diebstahl, Unterschlagung und Schwarzhandel vielfach zum Bestandteil der Überlebensstrategie wurden. Zwar gab es in der ersten Nachkriegszeit seitens der Alliierten Kommandantur, des Magistrats und des Kammergerichtspräsidenten mehrfach Versuche, auf eine strengere Bestrafung hinzuwirken, um der Kriminalität Herr zu werden. Auch spielte die Geldstrafe als Sanktionsart eine gegenüber der Freiheitsstrafe nur untergeordnete Rolle. Dennoch kommt Reuß aufgrund der Lektüre zahlreicher Urteilsbegründungen zu der Einschätzung, dass bei der Strafzumessung oft milde, verständige Richter urteilten. Für die Zeit nach der Justizspaltung konstatiert Reuß, dass sich die Diktion bei den Verfügungen und Runderlassen, aber auch bei den Urteilsbegründungen erheblich änderten. Die Strafzumessung im Bereich der Bagatellkriminalität blieb im Wesentlichen gleich, doch gab es nach diversen Kampagnen auch teilweise drakonische Strafmaßnahmen, insbesondere in Fällen des Buntmetalldiebstahls. Derartige Einflussnahmen sind nach Ansicht von Reuß nicht allein als Ausdruck des beginnenden Kalten Krieges zu deuten. Auch wenn mangels Akten nicht ermittelt werden könne, inwieweit es auch in den westlichen Sektoren Versuche einer Instrumentalisierung der Justiz gegeben habe, zeugten die nach der Justizspaltung im Ostteil der Stadt vorgenommenen Steuerungsmaßnahmen von einem grundlegend abweichenden Justizverständnis, in dem eine Gewaltenteilung nicht vorgesehen ist und die Staatsanwaltschaft als eigentlicher Machtfaktor in der Justiz fungiert. Eine solche Konzeption weist zugleich dem Gedanken der richterlichen Unabhängigkeit, der zwar formal festgeschrieben, durch die Möglichkeit der Absetzbarkeit aber stark relativiert ist, einen für das Richterbild und wohl auch für das richterliche Selbstverständnis eher bescheidenen Stellenwert zu. Insgesamt gelangt Reuß zu dem Fazit, dass es den Machthabern der DDR durch wöchentliche Schulungen und durch den Einsatz von linientreuen Volksrichtern gelungen ist, eine systemkonforme Justiz zu installieren. Am Amtsgericht Berlin-Mitte wurde dieses Ziel nicht dadurch erreicht, dass alteingesessene Richter auf das neue System eingeschworen wurden, sondern durch den vollständigen Austausch der Rechtsprechenden.

 

Die Arbeit weckt das Interesse des Lesers insbesondere deshalb, weil sie den behandelten Zeitraum aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nimmt. Auf einer allgemeinen politischen Ebene wird die Situation Berlins nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Indem sich die Untersuchung nicht auf spektakuläre Kapitalverbrechen bezieht, sondern – dem Tätigkeitsfeld des Strafrichters am Amtsgericht entsprechend – die Alltags- und Bagatellkriminalität sowie die Arbeitsbedingungen eines Gerichts zum Gegenstand hat, vermittelt das Buch wertvolle Einblicke in die Lebensumstände der damaligen Zeit. Zugleich wird schlaglichtartig deutlich, welche Bedeutung den wirtschaftlichen und sozialen Grundbedingungen als kriminogene Faktoren zukommt. Auch die exemplarische Aufhellung des vielfach diffusen Bereichs der Strafzumessung verknüpft zeitgebundene Erscheinungen mit allgemeinen Fragestellungen. Zeitlose Aktualität kommt schließlich auch dem Spannungsfeld zwischen den Versuchen einer politischen Steuerung der Justiz und dem Postulat der richterlichen Unabhängigkeit zu. Der Blick auf einen zurückliegenden Zeitabschnitt vermittelt somit Denkanstöße, die mühelos bis in die Gegenwart reichen.

 

Auch hinsichtlich der Darstellung der Überlegungen vermag die Arbeit von Reuß zu überzeugen. Das Buch ist in einer klaren Sprache geschrieben; durch die zahlreichen (drucktechnisch abgehobenen) Originalzitate erlangen die Ausführungen ein hohes Maß an Authentizität und Anschaulichkeit. Der 280 Seiten umfassende Textteil wird durch einen umfangreichen Anhang ergänzt, der neben einer Zeittafel und einem Personenverzeichnis (u. a.) weitere Statistiken sowie eine Dokumentensammlung beinhaltet.

 

Rostock                                                                                                         Christoph Sowada