Reinhard, Wolfgang, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beck, München 1999. 13 Abb., 631 S.

 

Der Staat ist eine europäische Erfindung und er ist ein Merkmal, durch das sich die europäische Kultur von anderen unterscheidet. Von unserem Kontinent aus hat sich dieses Organisationsprinzip des Politischen bis zu Gegenwart fast global durchgesetzt. Es scheint aber den Höhepunkt der Entwicklung überschritten zu haben; denn die vom Verfasser präzise aufgelisteten Auflösungserscheinungen sind unübersehbar. Ausgehend von solchen Einsichten, die zugleich die Relevanz seines Anliegens unterstreichen, versucht Wolfgang Reinhard die Frage zu beantworten: was also ist der Staat, wie wurde er erfunden und wer waren seine Erfinder?

 

Die klassische Definition des Staates durch die Staatslehre des 19. Jahrhunderts (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt) hält Reinhard aus einsichtigen Gründen für seinen regional weiten und zeitlich tiefen Entwurf für nicht ausreichend; er will vielmehr die jeweilige Staatsgewalt mit ihren historisch-konkreten Personen und Institutionen in den Mittelpunkt stellen. Denn - so seine These - von diesen ausgehend sei der Machtbildungsprozess eingeleitet worden, dessen institutionalisierte Endstufe „Staat“ heißt. Zentral ist für Reinhard der dia- und synchrone Vergleich. Er vergleicht aber nicht in erster Linie der Kontrastwirkung willen, sondern um so das Material abstrahierend, zu Allgemeinaussagen zu gelangen.

 

Reinhards Hypothese ist, dass sich die Staatsgewalt auf drei Ebenen gebildet habe, die durch die „politische Kultur“ vermittelt worden seien. Auf der „Mikro-Ebene“ sieht er in ganz Europa seit dem frühen Mittelalter die Monarchien (genauer wohl die Fürstentümer) als die kontinuierlichen Träger des Machtwillens. Davon ausgehend, wird dann das allzu bekannte Schema von deren Kampf gegen die Rivalen Adel (und nicht allein „Hochadel“) und Kirche entworfen, den die Fürsten schließlich mit Hilfe der gelehrten Räte zu ihren Gunsten entschieden. Diese Macht sei durch die Kriege der europäischen Fürsten gesteigert worden, da diese eine immer stärkere Ausbeutung des Landes, zunächst noch in Auseinandersetzung mit den schließlich überwundenen Ständen, erfordert hätten. So hätten sich „Ressourcen-Extraktion“ und „Erzwingungsapparat“ (was für Wörter!) gegenseitig hochgeschaukelt bis zur allumfassenden Staatsgewalt der Gegenwart („Meso-Ebene“). Auch wenn dieses Modell später noch differenziert wird, so ist es doch allzu simpel und allzu sehr mit dem Blick auf die frühe Neuzeit gewonnen. Das gilt auch für die „Makro-Ebene“. Auf ihr wird eine Intensivierung der Staatsgewalt vor allem in deren Legitimation durch die Religion gesehen. Diese sei schließlich im Laufe und im Gefolge der Reformation vollständig vom Staat in Dienst genommen worden. Denn damals hätten sich die politischen Gewalten auch noch das Kirchengut unter den Nagel gerissen und sie haben die kirchlichen Funktionen der Überwachung von Lebensführung und Moral der Untertanen zu deren Homogenisierung (Konfessionalisierung der Staaten) eingespannt - in der protestantischen Welt sicherlich nachdrücklicher als in der katholischen. Zu undifferenziert wird vom 19. Jahrhundert ab innerhalb dieser Argumentation der Nationalismus kurzer Hand an die Stelle der Religion gesetzt.

 

Nicht zum Vorteil des Buches konzentriert sich sein Verfasser aber nicht so wie aufgezeigt, auf die „Staatsgewalt“, sondern er verliert sich in einem solchen Umfang in die Beschreibung von historischen Staatsformen und deren Entwicklungslinien, dass das eigentliche Thema dahinter öfters verschwindet. Zu dessen Ausdünnung trägt auch bei, dass mit bewundernswertem Mut der Bogen „von den Anfängen bis zur Gegenwart“ geschlagen wird. Dennoch liegt das zeitliche Schwergewicht eindeutig in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Die Zeit danach wird doch recht eklektizistisch behandelt. Die Darstellung bleibt meist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hängen; das 20. Jahrhundert taucht kaum noch auf. Unbeschadet davon gelingt dem Kenner der europäischen Expansion ein tieferes Eindringen in die Problematik der Übertragung des europäischen Staatsmodells in die „Dritte Welt“ und der Zeitgenosse weiß bedenkenswerte Einsichten zum Zerfall des traditionellen Staats in der Gegenwart mitzuteilen.

 

Es werden also zahlreiche Aspekte der Staatsgewalt, aber auch des Staates selbst, in meist ähnlich aufgebauten Kapiteln chronologisch angehandelt: zunächst werden allgemeine Grundzüge der europäischen Entwicklung ausgebreitet, um daran anschließend auf die Abweichungen oder Besonderheiten in den einzelnen Staaten und Herrschaften einzugehen. Da der Verfasser eine anschauliche, pointierte und öfters auch zuspitzende Sprache liebt, springt die Darstellung wie ein munterer Bach durch die Zeiten und Räume der europäischen Geschichte. In seinem Bett finden sich glänzende Kiesel, manche mit interessanter Maserung, da und dort silbernes und goldenes Erz, aber auch viel Geröll.

 

Was zu den einzelnen Phänomenen gesagt wird, ist oft das Gängige und Bekannte. Bezeichnend, dass trotz einer dichten und kompetent ausgewählten Bibliografie in den Anmerkungen meist nur Lexika und Handbücher zitiert werden. Hat man das, was über den Hof Ludwigs XVI. ausgebreitet wird, nicht auch schon im Schulbuch gelesen? Was kann aber auch in ein paar Sätzen mehr gesagt werden?; ebenso wie zum Hof Karls I. von England, der gleich anschließend ebenso karg bedacht wird? Der Leser wird den Eindruck nicht los, dass zu oft die gesammelten Lesefrüchte zu wenig zu einem geschlossenen Ganzen zusammengefügt wurden. Nicht jede neue Institution, nicht jedes Zeremoniell und nicht jedes Symbol hat die Entwicklung der Staatsgewalt beeinflusst. Die beeindruckende Breite und Vielfalt geht letztlich auf Kosten der Dichte. So wird man über vieles belehrt, aber fast nur in Häppchen.

 

Wohin ein solcher Enzyklopädismus und Synkretismus führen kann, wird besonders deutlich, wenn Umfang und Struktur der Etats von Staaten durch die Jahrhunderte verglichen werden ohne Rücksicht darauf, dass sich deren Aufgaben entscheidend geändert haben. Gleich anschließend werden die Haushalte der Staaten einer Epoche vorgestellt, ohne darauf einzugehen, dass deren Einnahmequellen und Aufgaben doch recht unterschiedlich waren. So können nur falsche Eindrücke entstehen. Genau so unzulässig ist es, die Anzahl der Wahlberechtigten als Gradmesser für die Demokratisierung eines Landes zu nehmen, ohne auch nur einen Blick auf das jeweilige Wahlrecht zu werfen.

 

Für die Fruchtbarkeit des typologischen Verfahrens bietet dieses Buchs ebenso so viele Beweise wie für dessen Problematik. Denn zu oft werden Belege zu Entwicklungen und Institutionen aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen zusammengefügt, so dass historische Phänomene konstruiert werden, die es so nicht gegeben hat. Dazu kommt eine allzu weite Begrifflichkeit, die durch alle Jahrhunderte gleich bleibt: immer agieren „die Monarchien“, „der Adel“, „die Kirche“, „die Parteien“ u. s. w. So kommen pauschale Aussagen zustande, die etwas Richtiges treffen und dennoch zum Widerspruch herausfordern. Verdanken die Stände ihre Existenz wirklich nur der Berufung durch den Fürsten oder waren sie nicht auch Gebilde eigenen Rechts (festes Haus)? Setzte die „Behördenreform Maximilians I.“ erst 1498 ein? Ist sein königlicher Hofrat ein „Reichshofrat“ gewesen oder sollte diese Bezeichnung nicht besser dem von Ferdinand I. in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts geschaffenen Gebilde mit anderer Zusammensetzung und Kompetenz vorbehalten bleiben?

 

Nicht nur solche schiefe Aussagen lösen Unbehagen aus, sondern auch gelegentlich gewagte Urteile auf schmaler Basis. So ist sich Reinhard sicher, dass „nicht angebliche Konstruktionsfehler der Verfassung“ von Weimar „wie die Befugnisse des Reichspräsidenten oder das Verhältniswahlrecht“ den „Übergang der Macht an den Nationalsozialismus ermöglichten“, sondern „letztlich das Fehlen demokratischer politischer Kultur“(423). Der „deutschen konstitutionellen Monarchie“ des 19. Jahrhunderts wird nicht nur bescheinigt, dass sie kein „systemgerechter deutscher Sonderweg“ gewesen sei (welcher aber wäre das gewesen?), sondern bloß eine „instabile Zwischenlösung auf dem Weg zur Parlamentarisierung“. Waren denn in den anderen Staaten die Verhältnisse stabiler oder wurden sie das gar durch den Übergang zum Parlamentarismus in der Weimarer Republik?

 

Das Buch handelt eigentlich vom Staat, es reduziert diesen aber auf die Staatsgewalt, die wiederum auf die Macht zur Erzwingung des Gehorsams und der Mobilisierung der Ressourcen verengt wird. In dieser Unsicherheit hinsichtlich des eigentlichen Anliegens ist wohl der Grund zu suchen, warum es zu einer insgesamt nicht überzeugenden Bewertung der europäischen Staatsentwicklung kommt. Denn der Staat als Gemeinwesen, das Frieden sichert, Gerechtigkeit übt, das Überleben der Gemeinschaft garantiert und deren Wohlstand mehrt, bleibt ausgeblendet. Das Wort vom Staat als Agent des Gemeinwohls ist sicherlich im jeweiligen Zusammenhang kritisch zu prüfen. Doch wenn man zu leichtgläubig der modisch gewordenen Denunziation dieses Wortes folgt, gerät man auf die schiefe Bahn. Diese kulminiert in dem Fehlurteil, dass der Nationalsozialismus „eine totale Endstufe von Staatsgewalt“ gewesen sei. Im europäischen Verständnis des Staates ist der Staat immer als Rechtsordnung gedacht worden und genau darin unterschied er sich von anderen politischen Gebilden. Hätte Reinhard nur das Motto seiner Einleitung, nämlich das Wort des Augustinus „Remota itaque justitia quid sunt regna nisi magna latrocinia“ beachtet, hätte er merken müssen, dass das Deutschland der Nationalsozialisten kein Staat, sondern eine Tyrannis gewesen war, und folglich deren Gewalt auch keine Staatsgewalt.

 

Das Buch ist nicht wie der Obertitel vorgibt eine „Geschichte der Staatsgewalt“ im Sinne einer eine Frage explizierenden und stringent argumentierenden Monografie, sondern eher ein Handbuch, das die europäische Staatsentwicklung nicht umfassend, wohl aber in zahlreichen Aspekten nachzeichnet. Die Enttäuschung, mit der man es zur Seite legt, rührt auch daher, dass in der Einleitung und in den meisten hinführenden Kapiteln neue Ansätze einer Verfassungsgeschichte versprochen werden und sozialwissenschaftliche Theorien ausgebreitet werden, von denen in die folgende Darstellung dann aber kaum etwas einfließt.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert