Martschukat, Jürgen, Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart (= Beck’sche Reihe 1471). Beck, München 2002. 224 S. 4 Abb.

 

Die Todesstrafe ist mehr als ein strafrechtliches Instrument. Sie ist Ausdruck einer spezifischen Gesellschaft, deren Weltbildes und deren Rechtsverständnisses. Dies zeigt sich insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika, einem Staat, der sich selbst als Hüter des Rechts und der Freiheit sieht, in dem aber gleichzeitig Menschen in zum Teil äußerst umstrittenen Prozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Seit dem Entstehen der britischen Kolonien ist die Todesstrafe ein Bestandteil der angloamerikanischen Rechtstradition, über 19.000 Menschen sind in diesem Gebiet und diesem Zeitraum „im Namen der Zivilgesellschaft“ (S. 9) getötet worden.

 

Die Kolonialisten des frühen 17. Jahrhunderts brachten ihr europäisches (vor allem englisches) Strafrechtsverständnis und damit auch die Todesstrafe mit in die Neue Welt. Bemerkenswert dabei ist, daß die Folter, die in Europa damals noch gang und gäbe war, nicht angewendet wurde (S. 15). Das Rechtswesen wandelte sich natürlich in den eineinhalb Jahrhunderten der Kolonialzeit, und es lassen sich auch zahlreiche regionale Unterschiede feststellen, insbesondere zwischen den nördlichen und südlichen Kolonien.

 

In der Phase des Unabhängigkeitskrieges und der frühen US-amerikanischen Republik wurden auch die Strafrechtsordnungen in Frage gestellt. So arbeitete etwa Thomas Jefferson bereits im Jahr der Unabhängigkeitserklärung an einem neuen Strafgesetzbuch für Virginia. Zu seinen Vorschlägen zählte auch eine Einschränkung der Todesstrafe auf Hochverrat und Mord. Jeffersons Entwurf wurde zwar mit knapper Mehrheit abgelehnt, als zwanzig Jahre später schließlich ein neues Strafgesetzbuch beschlossen wurde, wurde darin jedoch die Todesstrafe nur mehr für Mord angedroht.

 

Einige wenige andere Bundesstaaten schränkten die Anwendung der Todesstrafe ebenfalls ein. Allen voran ist hier Pennsylvania zu nennen, die Heimat des Politikers und bedeutenden Strafrechtstheoretikers Benjamin Rush, der vom Autor als „profiliertester Abolitionist in den USA des ausgehenden 18. Jahrhunderts“ charakterisiert wird (S. 37). Dort wurden bereits 1786 Raub, Einbruch und „widernatürliche Unzucht“ von der Todesstrafe ausgenommen und diese 1794 schließlich nur mehr auf vorsätzlichen Mord beschränkt. Mit diesen Reformen einher ging eine Neukonzeption des Gefängniswesens weg von der Bewahrungs- hin zur Besserungsanstalt.

 

Am Anfang des 19. Jahrhunderts setzte eine weiträumige öffentliche Debatte über die Todesstrafe ein. Hier ist insbesondere Edward Livingston zu nennen, der zwar mit seinem Entwurf für ein Strafgesetzbuch für Louisiana scheiterte, mit seiner Kritik an der Todesstrafe aber zahlreiche amerikanische und europäische Reformer beeinflußte. Einzig in Maine - und dort erst 1837 - wurde allerdings die Todesstrafe zumindest de facto abgeschafft: Nach dem Todesurteil mußte ein Jahr verstreichen, erst dann konnte der Gouverneur die Vollstreckung oder Aussetzung der Strafe anordnen. In Folge dessen wurde in diesem Bundesstaat 27 Jahre lang kein einziges Todesurteil vollstreckt (S. 50).

 

Zu diesem Zeitpunkt erfolgten die Hinrichtungen nicht nur in Maine schon lange nur mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Auch hier hatte Pennsylvania 1834 eine Vorreiterrolle eingenommen, wenngleich die Entwicklung nicht einheitlich verlief – „die letzte öffentliche Hinrichtung fand im August 1936 vor 20.000 Menschen in Owensboro in Kentuck statt“ (S. 58).

 

Michigan war 1847 der erste Bundesstaat, der die Todesstrafe gänzlich abschaffte. Unmittelbarer Anlaßfall war die Hinrichtung eines Mannes im benachbarten kanadischen Ontario gewesen, der sich kurz danach als unschuldig erwiesen hatte. Hinzu kam, daß die Todesstrafe in Michigan das letzte Mal 16 Jahre zuvor angewendet worden war. 1852 schloß sich Rhode Island an, ein Jahr später Wisconsin. Die anderen Staaten folgten diesen drei Beispielen allerdings nicht. Martschukat vermutet, daß sich das Augenmerk der Reformkräfte zunehmend auf die Abschaffung der Sklaverei verschob; der Bürgerkrieg und die ihm folgende Phase der „Reconstruction“ ließen die Debatte um die Todesstrafe erst wieder am Ende der 1860er Jahre aufleben.

 

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Lynchen als „extralegaler Todesstrafe“ im US-amerikanischen Süden. Zwischen 1880 und 1930 fielen rund 3.000 Menschen dieser „Justiz“ zum Opfer – „ein Massenphänomen, das als Ausdruck einer spezifischen Gesellschaftsstruktur gedeutet werden kann“ (S. 67). Dieses gründet, so der Verfasser, auf der spezifischen südstaatlichen Gesellschaft vor dem Bürgerkrieg. Obwohl die Abschaffung der Sklaverei 1865 verfassungsrechtlich besiegelt wurde, blieben die Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen vor allem im Süden krass benachteiligt. Die Lynchmorde betrafen vor allem schwarze Männer, insbesondere solche, die eine „Gefahr“ für die sich überlegen fühlenden Weißen darstellten. Die südstaatliche Justiz verhielt sich diesen Verbrechen gegenüber zumeist passiv. Rassistische Diskriminierung und Stereotypen sollten allerdings auch später – bis zum heutigen Tag – die US-amerikanische Justiz nicht nur in den Südstaaten kennzeichnen.

 

Während die Südstaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von der Lynchjustiz geprägt waren, befaßte man sich im Norden mit der Frage nach der "humansten" Art der Hinrichtung. Die körperliche Qual der am Galgen Baumelnden sollte schließlich durch den Tod auf dem elektrischen Stuhl (die erste Hinrichtung dieser Art erfolgte 1890) und die Gaskammer (ab den 1920er Jahren) minimiert werden.

 

Das frühe 20. Jahrhundert war außerdem eine Zeit der erneut wachsenden Opposition gegen die Todesstrafe. Diese führte unter anderem die bloß vermeintliche Humanität des Stromtodes ins Treffen. 1907 schaffte Kansas die Todesstrafe ab, einige weitere Staaten folgten. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kehrte man allerdings in vielen dieser Staaten wieder zu ihr zurück.

 

Ursache dafür war unter anderem „die Furcht vor fremdländischer, gewalttätiger und kommunistischer Unterwanderung“ (S. 104), wie am bekannten Prozeß gegen die italienischen Einwanderer und Anarchisten Niccolo Sacco und Bartolomeo Vanzetti deutlich gemacht wird. Es ist bemerkenswert, daß sich gerade der Gefängnisdirektor von Sing Sing, wo die meisten Hinrichtungen vollzogen wurden, in dieser Zeit mit Nachdruck gegen die Todesstrafe aussprach (S. 109). Er sah in ihr keine Abschreckung, außerdem träfe sie nur Arme, sodaß ihre Funktion als Schutz der Gesellschaft ins Leere gehe. Auch in dieser Zeit waren die Hingerichteten in deutlicher Mehrheit Schwarze. Diese wurden weitaus öfter zum Tode verurteilt, ihre Chance auf Begnadigung war viel geringer als für Weiße. Bezeichnend ist außerdem, daß kein Weißer für einen Mord an einem Schwarzen hingerichtet wurde (S. 110).

 

1935 wurden in den USA insgesamt 199 Menschen hingerichtet. In den folgenden Jahren ging die Zahl auf rund 120 zurück, um schließlich in den 50er Jahren auf etwas über 80 und schließlich 49 pro Jahr zu sinken. Dies lag jedoch nicht an der Abschaffung der Todesstrafe in den einzelstaatlichen Gesetzen, die zu diesem Zeitpunkt in 41 der 50 Bundesstaaten galt.

 

Kritik an der Todesstrafe wurde weniger an der Strafe an sich laut, sondern betraf vielmehr einzelne Urteile. Zahlreiche soziologische Studien belegten deutlich, daß die Mehrzahl der Hingerichteten schwarze junge Männer aus sozial benachteiligtem Milieu waren. Dies betraf insbesondere Anklagen wegen Vergewaltigung, die schon in der Zeit der Sklaverei als „Verbrechen des schwarzen Mannes“ gegolten hatte (S. 128). Die Diskriminierung beschränkte sich dabei nicht bloß auf die Urteile, sondern betraf die Anklageschrift ebenso wie die Zusammensetzung der Geschworenenbank oder den Vollzug des Urteils.

 

Die Gegner der Todesstrafe, allen voran der „Legal Defense Fund“, versuchten nun weniger, eine gesetzliche Abschaffung in den einzelstaatlichen Gesetzen, sondern eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Bundes zu erreichen, daß sie verfassungswidrig sei. Man berief sich insbesondere auf das achte Amendment zur Verfassung, das „grausame und ungewöhnliche Strafen“ verbot, sowie das 14. Amendment, das die Gleichbehandlung aller Menschen vor dem Gesetz postulierte. In einem ersten Schritt versuchte man, durch eine Anfechtung der Todesurteile bei der jeweiligen Instanz zumindest eine Blockade des Vollzugs zu erreichen, was schließlich 1967 gelang; für zehn Jahre fanden in den USA keine Hinrichtungen statt.

 

Es folgten zwar einige Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs gegen einzelne Todesurteile, eine Grundsatzentscheidung konnte jedoch nicht erwirkt werden. In den 60er Jahren schafften außerdem einige Bundesstaaten die Todesstrafe ab. 1972 erklärte schließlich der Supreme Court die Todesstrafe für verfassungswidrig. Über 600 Todesurteile waren damit aufgehoben.

 

Das Urteil bezog sich jedoch nicht auf die Todesstrafe an sich, sondern auf Verfahrensfragen. Durch eine entsprechende rechtliche Regelung konnte die Todesstrafe dadurch sehr wohl verfassungskonform sein. Bereits zwei Jahre nach der Entscheidung hatten 28 Bundesstaaten unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Bedenken die Todesstrafe wieder eingeführt; Florida hatte als Vorreiter dafür nur ein halbes Jahr gebraucht. In 17 Staaten wurde sie noch in diesem Jahr in insgesamt über 100 Fällen verhängt. Ein Jahr darauf hatte sich die Zahl auf 34 Staaten beziehungsweise 360 Verurteilte erhöht (S. 151). Die Verfassungsmäßigkeit sollte beispielsweise durch eine stärkere Formalisierung des Verfahrens, die geregelte Prüfung mildernder und erschwerender Umstände, die obligatorische Todesstrafe für bestimmte Verbrechen oder die notwendige Bestätigung des Todesurteils durch höhere Instanzen erreicht werden.

 

Es wurden dem Obersten Gerichtshof mehrere Todesurteile zur Prüfung vorgelegt, der 1976 die obligatorische Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte. Andere Regelungen, vor allem die automatische Überprüfung des Urteils durch ein höheres Gericht, entsprachen nach Ansicht des Höchstgerichtes jedoch der Verfassung.

 

Bis zur Mitte der 80er Jahre blieb die Zahl der Hinrichtungen gering. Diese stieg jedoch an, als der Oberste Gerichtshof seine bisherige eher zugunsten der Verurteilten lautende Judikatur änderte und nunmehr die einzelstaatlichen Verfahren weniger streng überprüfte. Als zweiter Grund ist die Einführung der Hinrichtung durch eine Giftspritze zu nennen. Durch sie, so die Befürworter, wären Exekutionen nicht länger grausam und qualvoll. Von Bedeutung war nicht zuletzt eine Änderung der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seit der „konservativen Revolution“ Präsident Reagans. Dies gilt insbesondere für das Wiederaufleben des religiösen Fundamentalismus und seines frauen- und minderheitenfeindlichen Wertekatalogs.

 

In Ergänzung dazu nahmen bis zur Mitte der 90er Jahre Gewaltverbrechen stark zu, was die Verschärfung des Strafrechts zu einem gängigen Wahlkampfthema machte. Eine strikte Befürwortung der Todesstrafe stand und steht deshalb Präsidentschafts- und Gouverneurskandidaten ebenso gut an wie den Bewerbern für das Amt des Richters, Staatsanwalts oder Sheriffs. Stimmen gegen die Todesstrafe wurden seit den 80er Jahren vor allem bei Einzelfällen laut. Es kam und kommt immer wieder zu Ermittlungs- und Verfahrensmängeln, die zuweilen in eindeutigen Fehlurteilen mündeten. Rund 90% der Verurteilten stammen aus sehr armen Verhältnissen, die sich deshalb keinen Anwalt leisten können. Die Pflichtverteidiger kommen ihrer Aufgabe oftmals jedoch nur unzureichend nach, weshalb von vielen die Fairness solcher Prozesse in Frage gestellt wird. Trotz der in den 70er Jahren vom Supreme Court eingemahnten Verfassungsmäßigkeit der Verfahrensregeln wird die Todesstrafe weiterhin in diskriminierender Art und Weise angewendet, sodaß noch immer „Rasse, Klasse und Geschlecht maßgeblich darüber entscheiden, wer zum Tod verurteilt und hingerichtet wird und wer nicht“ (S. 179).

 

Es ist im letzten Jahrzehnt zwar vermehrt gelungen, Fehlurteile aufzudecken, was unter anderem im Jahr 1997 die US-Anwaltskammer eine einstweilige Aussetzung der Todesstrafe fordern ließ. Viele Kritiker wenden sich jedoch nicht gegen die Todesstrafe selbst, sondern „nur“ gegen Verfahrensmängel. Eine völlige Abschaffung ist weiterhin nicht zu erwarten.

 

Der Verfasser beschreibt die Geschichte der Todesstrafe in den USA mit Distanz zum Thema, ohne die zahlreichen Zweifel und Kritikpunkte deshalb zu verharmlosen. Die angeführten Beispiele gleiten nie in Sensationsheischerei und Spielerei mit dem Makabren ab, sondern ordnen sich dem Gesamtthema unter. Bislang fehlte eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika nicht nur im deutschen, sondern auch im englischen Sprachraum. Nun liegt sie vor und kann den Lesern diesseits und jenseits des Atlantiks ohne Vorbehalt empfohlen werden.

 

Graz                                                                                                     Martin F. Polaschek