Lösch, Anna-Maria Gräfin von, Der nackte Geist. Die juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 26). Mohr (Siebeck) Tübingen 1999. XVI, 526 S.

 

Das „Schwergewicht“ der von Bernhard Schlink betreuten Berliner Promotion liegt „auf der strukturellen, personellen und ideologischen Entwicklung in der Fakultät“. Der inhaltlichen Besonderheit der Untersuchung, aus der im folgenden zu berichten ist, entspricht die Methode der Verbindung von intensivem Aktenstudium mit Befragung der Zeitzeugen. Gräfin von Lösch berichtet über die jeweilige Haltung und die gegenseitigen Einwirkungen von Professorenschaft, Dekan (Rabel, Heymann, Graf von Gleispach), Universitätsspitze, Staats- und Parteiapparat und Studentenschaft.

 

Vor allem beschreibt sie eine Fülle von Einzelschicksalen aus der juristischen Fakultät und informiert darüber, ob die betroffene Person Parteigenosse vor 1933 war oder es danach wurde, ob jemand konservative Ablehnung oder sozialdemokratische Gegnerschaft äußerte, ob einer Jude war[1], und welche beruflichen Konsequenzen die jeweilige Haltung oder Eigenschaft hatte. Sie enthält sich jeder psychologisierenden Interpretation, interessiert sich nicht für die Familienverhältnisse und geht nicht auf die rechtswissenschaftlichen Leistungen ein.

 

Der einführende Teil der Arbeit behandelt die Jahre 1930 bis 1933, der wichtigste Teil betrifft den Umbruch 1933 bis 1934, der weitaus umfangreichste dritte Teil schließt mit den Jahren 1936/37 ab.

 

Der „Abend der Weimarer Republik“ (1. Teil, 11-117) war überschattet von studentischen Unruhen. Diese waren wesentlich parteipolitisch bestimmt, wobei die nationalsozialistischen Studenten in der juristischen Fakultät keine größere Rolle als in anderen Fakultäten spielten. Verhältnismäßig wenige dieser Ausschreitungen waren antisemitisch bestimmt. Nach den Erinnerungen von Emigranten waren „jüdische Studenten der Fakultät am Abend der Weimarer Republik im allgemeinen nicht diskriminiert“.

 

Der wirtschaftlich desolaten, weitgehend als hoffnungslos empfundenen Situation der Studierenden und der schwierigen „ökonomischen Lage“ der Lehrpersonen wird in der Arbeit zutreffender Weise eine sehr große Bedeutung beigelegt. Die „Rechtsschutzgemeinschaft der deutschen juristischen Fakultäten“ beklagte 1932: „Der Abbau des Anteils am Vorlesungshonorar, die Ersetzung der Emeritierung durch die Pensionierung und die sogenannte juristische Studienreform sind zielbewusste Maßnahmen ... zur Herabdrückung der Hochschulen zu Fachschulen“.

 

Manches lässt sich wohl nicht mehr ergründen. So fordert die Rechtsschutzgemeinschaft weiter: es sei „anzukämpfen gegen das Sinken der Achtung vor der Unverbrüchlichkeit des Rechts und den großen Grundsätzen des deutschen Rechtsstaats, unter denen die Unantastbarkeit der richterlichen Unabhängigkeit mit an erster Stelle steht“. Aber war es ein Kampf gegen „Rechts“ oder gegen „Links“ oder wirklich gegen Angriffe, die damals gegen „das Recht“ von allen Seiten geführt wurden? Nur nach Ergründung dieses Hintergrundes wird man mit der Autorin guten Gewissens sagen können: „Eigentlich war die Fakultät ... für kommende stürmische Zeiten gut gewappnet“.

 

Die „Behinderung der Ordinarienlaufbahn von jüdischen Gelehrten hatte in Fakultät und Universität Tradition,“ und dennoch, so ist zu erinnern, war der Anteil jüdischer Gelehrter relativ hoch: Arthur Nussbaum wurde erst nach langer Wartezeit außerordentlicher und niemals ordentlicher Professor. „Auch die Berufung von Martin Wolff und James Goldschmidt, die beide erst elf Jahre nach ihrer Ernennung zum außerordentlichen Professor befördert wurden, war verspätet“. Zu den „unerwünschten Kollegen“ in der Weimarer Zeit gehörten weiter Erich Kaufmann und Hermann Heller. Später werden die Maßnahmen gegen diese wie gegen Fritz Schulz und andere nachgezeichnet. Schließlich sind die „letzten Fakultätsmitglieder jüdischer Herkunft“, Martin Wolff, Ernst Rabel und Hermann Dersch, zu begleiten.

 

Neben den großen Ordinarien werden die außerordentlichen Professoren, wie Conrad Bornhak und Friedrich Glum, Honorarprofessoren, Lehrbeauftragten und Assistenten nicht vergessen. Zum „Gesicht der Fakultät“ gehört die erste weibliche Lehrbeauftragte, Else Koffka, geboren in Wronke/Posen, deren Hörerzahlen einen hervorragenden Lehrerfolg anzeigen.

 

„Magnifizenz Eduard Kohlrausch“, Mitglied der juristischen Fakultät seit 1919, tritt Ende 1932/Anfang 1933 wiederholt mutig und besänftigend in Erscheinung, wird dennoch von den neuen Machthabern bis in die vierziger Jahre hinein begünstigt und ist 1946 wieder Dekan. Der Verwaltungsdirektor der juristischen Fakultät wurde mit den Aufgaben des Kurators betraut, obwohl er sich 1933 gegen die nationalsozialistischen Studenten gestellt hatte.

 

„Der nationalsozialistische Umbruch 1933/34“ (2. Teil, 119-240) wurde von den „Studenten in der Wende“ und Störern von außerhalb, vor allem am 1. April durch Übergriffe auf jüdische Studierende und Professoren[2], durch die „Zwölf Thesen wider den undeutschen Geist“ und durch die Bücherverbrennung am 10. Mai, verstärkt. Von der Regierung ergingen im April eine neue Studentenrechtsordnung und das „Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“, in den Entwürfen zutreffend als „Gesetz gegen Überfremdung“ bezeichnet. Die Zahl der Studenten sank bis 1935-1936 unter das Vorkriegsniveau.

 

Am Anfang der „Nazifizierung der Universität und Fakultät 1933“ stehen Aufrufe zur Ernennung oder Wahl Hitlers. In den vorangehenden Diskussionen treten Begeisterung und Bedenken, Ablehnung und Furcht zu Tage. Triepel machte in einem Zeitungsartikel am Tag nach dem Boykott jüdischer Unternehmungen und anlässlich des Ermächtigungsgesetzes das Dilemma vieler Konservativer deutlich, wenn er gleichzeitig die „Freiheitsrechte“ erhalten wollte und die Zertrümmerung des „demokratisch-parlamentarischen Parteienstaats“ begrüßte. Ernst Rabel, als Dekan, warnte vor den „sehr unerwünschten Folgen“ des „impulsiven Schritt(s)“, die Erwartung auszusprechen zu wagen, Hitler werde die rechtsstaatliche Ordnung respektieren.

 

Wieder ist man erschrocken über die Geschwindigkeit der sogenannten Gleichschaltung, über die offene Brutalität, mit der etwa Kultusminister Rust am 6. Mai 1933 bei der Rektoratsübergabe erklärte: „Ich muss einen Teil der deutschen Hochschullehrer ausschalten“, und dann die „Beurlaubung“ von „Herren nichtarischer Abstammung“ verkündete, und über den „stürmischen Beifall“ zu derartigen Reden.

 

Der „Personalwechsel im weiteren Kreis der Dozenten“ wurde sofort durchgeführt, indem den Privatdozenten, Honorarprofessoren und Extraordinarien jüdischer Herkunft „dringend“ empfohlen wurde, von ihrer venia legendi keinen Gebrauch zu machen.

 

Die Verfolgungen konnten sich auch gegen andere Regimekritiker richten. So wurde die Habilitation Ludwig Raisers infolge „erheblicher Bedenken“ aus dem württembergischen Justizministerium verzögert. Flumes Habilitationsverfahren wurde abgebrochen. Körperlich misshandelt wurden Robert Krawielicki und Georg Maier im KZ Oranienburg, nachdem Krawielicki von seinen Erfahrungen im Dozentenlager bei Zossen erzählt und Maier darüber in der Vossischen Zeitung berichtet hatte. Demzufolge hatte Krawielicki seine Habilitationsschrift umsonst geschrieben[3], während die Habilitation von Maier angehalten wurde, doch nach einem Jahr abgeschlossen werden konnte.

 

Währenddessen erhielten Karl Neumeyer in München, Hans Kelsen in Köln und Max Grünhut in Bonn Sympathiebekundungen, die das Unheil nicht abzuwenden vermochten, aber wenigstens Mitleiden mit den Opfern zeigten.

 

„Auf dem Weg zur Konsolidierung“ (3. Teil, 243–470) werden „neue Institutionen und Führer“, „das arische Gesicht der Fakultät“ und, nach vielen Einzelbemerkungen zu den Protagonisten Eckhardt, Höhn, Emge und Schmitt, die „Positionskämpfe in der NS-Polykratie“ beschrieben.

 

Die neue Regierung entschied fast vom ersten Tag an selbst über die Zulassung zur Promotion, die Erlaubnis zur Beteiligung an einer Festschrift für einen ausländischen Kollegen und zahllose andere Einzelheiten.

 

Ein großes Nebengebiet ist das der Studienreform. Die Autorin widmet der „Fakultät als Reformgegnerin“ in der Weimarer Zeit einen besonderen Abschnitt: Um die „lückenhafte Allgemeinbildung“ der Studierenden, das Ausufern des Lehrstoffs und das Abwandern zu privaten Repetitoren aufzuhalten, setzte das frühere Ministerium gegen den Widerstand der Fakultäten eine umfassende Studienreform, u. a. mit Zwischenprüfungen, die aber drei Jahre später wieder abgeschafft wurden, durch und bewilligte vier neue ordentliche Professuren.

 

Wenige Jahre später erfolgten „die Regelungen der rechtswissenschaftlichen Ausbildung“ insbesondere durch „die Justizausbildungsordnung vom 22. Juli 1934“, nebst den „amtlichen“ Erläuterungen des Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes Otto Palandt, und die, auf Betreiben des Staatsekretärs im Kultusministerium, Wilhelm Stuckart, weitgehend von Karl August Eckhardt entworfenen „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft vom 18. Januar 1935“.

 

Gräfin von Lösch gibt aufs Genaueste Antwort auf ihre Ausgangsfrage: „Was bedeutete der ‚revolutionäre‘ Umbruch, der die ganze Gesellschaft erfasste, für die relativ abgeschlossene Welt der Berliner Rechtswissenschaftler?“ Ihre weitere Frage hingegen: „Wie groß war der Handlungsspielraum?“, muss aber jeder für sich selbst beantworten.

 

Die Autorin dankt den Zeitzeugen – mit Recht. Aber bemerkenswert ist, dass ein damaliger Kreisführer des NSDStB und heutiger Ministerialdirigent a. D. drei durch verschiedene Unterlagen nachgewiesene nationalsozialistische Engagements schlicht in Abrede stellte. Ein Professor beklagte sich 1945 darüber, dass man zu seinem 70. und seinem 75. Geburtstag im Jahre 1943 sowie zum Goldenen Doktor-Jubiläum „die üblichen Höflichkeitsformeln unterlassen“ habe, obwohl diese Gratulationen und sein daraufhin geäußerter Dank in den Archiven aufbewahrt sind. Andere Professoren erinnerten zwölf Jahre später aus der Rede von Kultusminister Rust nur noch „Beleidigungen“ der Professorenschaft, aber nicht mehr die Ankündigung der antisemitischen „Säuberung“.

 

Damit demonstriert die Arbeit einmal mehr den Nutzen der Zeitzeugenbefragung, wenn sie, wie hier, mit guten Vorkenntnissen und intensivem Aktenstudium verbunden ist. Es ist zu wünschen, dass dieselbe Methode für die Aufklärung späterer Perioden (von der Besatzung bis zur Vereinigung, nicht zu vergessen die Europäische Union) eingesetzt wird.

 

Mögen auch gewisse „Archive und Bibliotheken“ in den neunziger Jahren „nicht immer sehr hilfsbereit“ gewesen sein (Vorwort), so ist doch erstaunlich, welche Fülle von Unterlagen sie bereitstellen können – von den vollständigen Personalakten, oft mit mehreren Fragebögen und Lebensläufen, bis zur Eintrittskarte für eine bestimmte Einzelveranstaltung. Wie schwer aber das früher Geschriebene zu entziffern ist, zeigt der Fall Krawielicki. Denn der Zeitungsartikel, wegen dessen er verhaftet wurde[4], ist für den heutigen Leser ebenso harmlos wie eine beliebige Schilderung im Lokalteil des „Tagesspiegels“.

 

Die außerordentlich materialreiche Arbeit ist höchst angenehm geschrieben und präsentiert sich in der für Mohr/Siebeck typischen eleganten Weise.

 

Berlin                                                                                                             Hans-Peter Benöhr



[1] Insofern liefert auch sie eine umfangreiche Ergänzung zu Göppingers Zusammenstellung der „Juristen jüdischer Abstammung“, deren zweite Auflage bedauerlicher Weise ein einhalb Jahrzehnte zurückliegt.

[2] Krawielicki schreibt am 4. April 1933 über Martin Wolffs „erstes Kolleg“: „Man glaubt, es mit Geisteskranken zu tun zu haben. Von der Mehrzahl der Hörer wurde er stürmisch begrüßt, die anderen lärmen und schreien. Auf der Tafel steht: Hört nicht bei Juden, boykottiert die Juden. Und als Wolff zum Schluss den Hörsaal verlässt, muss er durch eine Reihe von SA-Leuten Spießruten laufen, die ihm Pfuirufe ins Gesicht schreien und ‚Juda verrecke’“ (Brief im Besitz von Vortr.Legationsrat Stefan Krawielicki).

[3] Vortr.Legationsrat Stefan Krawielicki berichtet jetzt über seinen Vater, dass Robert Krawielicki danach drei Jahre lang auf die Zulassung als Rechtsanwalt warten musste, in der Kanzlei Fenthol jüdische Emigranten betreute, im militärischen Abwehrdienst erneuter Verfolgung entging, zum Chefjuristen in der EWG ernannt wurde und 1966 starb (Nachruf in JZ 1966, S. 283).

[4] Vossische Zeitung vom 23. Januar 1934.