Gritschneder, Otto, Der Hitler-Prozess und sein Richter Georg Neithardt. Skandalurteil von 1924 ebnet Hitler den Weg. Beck, München 2001. 167 S.

 

Otto Gritschneder, Jahrgang 1914, bekannter Rechtsanwalt in München und Autor auf vielen, besonders zeitrechtsgeschichtlichten Gebieten, hat sich noch einmal mit dem Thema des „Hitler-Putsches“ vom 8./9. November 1933 in München beschäftigt. Mit seinen zahlreichen Publikationen zur Rechtsperversion im „Dritten Reich“ schreibt Gritschneder zugleich ein Stück Autobiographie, denn die Justizadministration des NS-Staates hatte ihm die Zulassung als Rechtsanwalt verweigert, weil er zwar „fachlich geeignet“, aber „politisch unzuverlässig“ sei. Der älteren Generation ist der Hitler-Putsch von 1923 aus den Schulungsabenden der „Hitlerjugend“ und des „Bundes deutscher Mädel“ als „Marsch auf die Feldherrnhalle“ überwiegend gut bekannt. Sie mußte dazu ein eigenes Lied lernen („In München sind viele gefallen, in München war’n viele dabei. Es traf vor der Feldherrenhalle sechzehn Männer das tödliche Blei ...) Gritschneder hatte zu diesem Thema bereits eine ganze Reihe von Vorarbeiten geleistet, so z. B. dreimal unter dem Titel „Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf Hitler – Der Hitler-Putsch und die bayrische Justiz“, München 1987, 1990 und 1993. Außerdem gibt es eine ausführliche vierbändige Dokumentation von L. Gruchmann/R. Weber „Der Hitler-Prozeß 1924 – Wortlaut der Hauptverhandlung vor dem Volksgericht München I“, München 4 Teilbände 1997-1999, 1662 Seiten, an der Gritschneder mitgearbeitet hat. Obwohl also auf den ersten Blick die fraglichen Vorgänge minutiös aufgearbeitet erscheinen, enthält das neue Buch wichtige Ergänzungen zu den Fakten, die für die Einschätzung des Verfahrens von 1924 und seine Folgen bedeutsam sind. Gritschneder erhielt nämlich nach dem Ablauf der Sperrfrist Einblick in die Personal- und Spruchkammerakten des Vorsitzenden Richters beim Volksgericht München I, Georg Neithardt, sowie weiterer bisher unbekannter Personalunterlagen (vgl. die „Danksagung“ S. 167).

 

Der Autor entwirft anhand der Quellen ein umfassendes Lebens- und Charakterbild des Richters Neithardt „vom Grundbuchanleger zum Volksgerichtsvorsitzenden“ (S. 32ff.). Er schildert, wie dieser nach Leistung des Treueides auf die Verfassung des Freistaates Bayern (1920) zum „Sympathisanten der rechten Szene in Bayern wird und sich bei selbstverfaßten Gesuchen um dienstliche Beförderung auf seine „Bewährung“ in Prozessen einerseits gegen „linke“ politische Angeklagte, andererseits gegen den Eisner-Mörder Graf Arco-Valley beruft (S. 38f.). Der Autor resümiert, Neithardt sei ein unfähiger, der rechten Szene zuneigender und den demokratiefeindlichen Politikern im Bayern der zwanziger Jahre höriger Richter gewesen. Diese Urteil unterscheidet sich nicht sehr von der dienstlichen Beurteilung Neithardts durch den Münchener Oberlandesgerichtspräsidenten 1931, in der es heißt:

 

„Für die Präsidentenstelle an einem großen Landgerichte möchte indes dem Landgerichtsdirektor Neithardt jene Überlegenheit der Persönlichkeit und des Geistes, die derartige Stellen erfordern, nicht in ausreichendem Maße eigen sein.“ (S. 41)

 

Die mangelnde Fähigkeit und Eignung erwies sich dann in folgenreicher Weise bei der Führung des Prozesses 1924 gegen den „Schriftsteller“ Adolf Hitler, den General Erich Ludendorff und acht andere Angeklagte durch den Vorsitzenden Neithardt. Die Einzelheiten dieses Verfahrens, insbesondere die zahlreichen Rechtsverstöße des Vorsitzenden bei der Prozeßführung und Urteilsfindung, die Gritschneder erneut aufdeckt, können hier dahinstehen, weil sie umfangreich dokumentiert (bei Gruchmann/Weber s. o.) und von Gritschneder ausführlich analysiert sind (S. 49ff., 93ff.).

 

Die Anklage lautete u. a. auf Hochverrat. Dafür war nach der Weimarer Reichsverfassung und nach dem Republikschutzgesetz von 1922 allein der „Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik“ beim Reichsgericht zuständig. Das „Bayrische Volksgericht“ hingegen, gegründet von der Eisner-Regierung 1918 und besetzt mit zwei Berufsrichtern und drei Laienbeisitzern, war mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 11 August 1919 als Ausnahmegericht zusätzlich „unstatthaft“ geworden. Das bayrische Justizministerium hatte gleichwohl Anklage vor dem Volksgericht erhoben. Neithardt unterließ pflichtwidrig die Zuständigkeitsprüfung seines Gerichts und führte den Prozeß vor „seinem“ unzuständigen Gericht. Die Unzuständigkeit des Volksgerichts war sowohl dem bayrischen Justizminister Gürtner wie der gesamten bayrischen Staatsregierung bewußt (S. 50).

 

Hitler wurde in einem Verfahren, das nach den Darlegungen des Autors von Rechtsverstößen und Rechtsbeugungen strotzte, zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. (Das Urteil ist im Volltext abgedruckt; S. 99-131) Das Republikschutzgesetz sah für Ausländer, die wegen Hochverrats verurteilt wurden, zwingend die Ausweisung vor. Entgegen der eindeutigen Rechtslage wurde Hitler, obwohl er Österreicher, also Ausländer war, nicht ausgewiesen. Neithardt begründete das mit Hitlers Kriegsverdiensten und seinem deutschen Denken und Fühlen (S. 131). Neithardt habe ferner in einer eindeutigen Rechtsbeugung die Vorstrafen Hitlers, der noch unter Bewährung stand, nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht und damit bewußt eine baldige Freilassung auf Bewährung angezielt, ebenfalls eine klare Rechtsbeugung. Unterschlagen wurde während des gesamten Verfahrens auch die Tatsache, daß die Putschisten auf dem von Hitler befohlenen und angeführten „Marsch zur Feldherrnhalle“ am 9. November 1923 vier Beamte der bayrischen Landespolizei erschossen. Die Berücksichtigung dieser Tötungsdelikte hätte zu ganz anderen Strafmaßen für die Anführer des Putsches, insbesondere für Hitler, führen müssen. (Erst 1994 widmete die Stadt München den getöteten Beamten eine Gedenktafel.)

 

Statt dessen stellte Neithardt den Verurteilten die Bewilligung von Bewährungsfristen in Aussicht (S. 131). Bereits am 19. Dezember 1924, achteinhalb Monate nach der Verurteilung zu fünf Jahren Festungshaft, wurde Hitler auf Bewährung freigelassen.

 

Hitlers Dank ließ nicht auf sich warten. Am 1. September 1933 wurde Neithardt zum Präsidenten des Oberlandesgerichts München ernannt. Am 1. Januar 1934 wurde er Präsident der Reichsdisziplinarkammer in München und Mitglied des Familienrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht. Mit einer persönlichen Dankurkunde seines Führers wurde Neithardt 1937 aus dem Dienst verabschiedet. An seinem Sarg ließ der dankbare Reichskanzler 1941 eine „prächtigen Kranz des Führers“ (Efeu mit weißen und rosafarbenen Chrysanthemen) niederlegen. So der Bericht des OLG-Präsidenten Dürr an den Reichsjustizminister, S. 82f.).

 

Gritschneder hat ein bewegendes, materialreiches, leicht verständliches Buch geschrieben. Der Leser wird von seiner zupackenden, pointierten und oft anklagenden Darstellung zum eigenen Nachdenken herausgefordert, auch gefesselt. Die Kernthese des ganzen Buches findet sich vielleicht im Klappentext, der wohl auch auf den Autor zurückgeht. Dort heißt es klipp und klar:

 

„Hitlers Machtergreifung hätte es nicht gegeben, wenn ihm nicht zuvor die bayrische Staatsregierung den Weg dazu geebnet hätte.

 

Generalstaatskommissar von Kahr und Justizminister Gürtner sorgten dafür, daß Hitler wegen seines Putsches vom 8. auf 9. November 1923 nicht vor dem Staatsgerichtshof, sondern vor dem unzuständigen Münchner Volksgericht angeklagt wurde. Dort hatte man einen unfähigen, regierungshörigen Sympathisanten der rechten Szene zum Vorsitzenden bestellt: Georg Neithardt. Er ebnete den Nationalsozialisten den Weg zur Macht.“

 

Damit stellt Gritschneder mutig eine These auf, wie nach seiner Ansicht die Geschichte im Konjunktiv (Was wäre, wenn ...?) verlaufen wäre. Sicher anders! Aber wie wirklich?

 

Konstanz                                                                                                       Bernd Rüthers