Balthasar, Susanne, Die Tatbestände der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung. Eine rechtsvergleichende Betrachtung des deutschen und österreichischen Rechts mit Schwerpunkt im 20. Jahrhundert (= Linzer Schriften zur Frauenforschung 19). Trauner, Linz 2001. IX, 484 S.

 

In einem rechtshistorischen Überblick (Teil I) zeigt die Verfasserin, daß die Vorstellung eines individuellen Rechtes auf sexuelle Integrität noch in der Aufklärung Seltenheitswert hatte. Aber immerhin gestand der Sachsenspiegel Frauen, selbst „bescholtenen“, ein Recht auf Geschlechtsfreiheit zu. Aber erst das auf den liberalen Anselm von Feuerbach zurückgehende Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern 1813 kannte ein Recht am eigenen Körper, das erzwungene sexuelle Handlungen ausschloß, und pönalisierte deshalb die Notzucht sowohl von Männern als auch an Frauen als Personendelikt. Ansonsten sind es die Munt, die patria potestas oder die an die „Unbescholtenheit“ gebundene Geschlechtsehre, die als Rechtsgüter neben der „Sittlichkeit“ im Vordergrund standen. Erst mit dem Allgemeinen Landrecht Preußens von 1794 bildete sich ein eigenständiger Tatbestand der sexuellen Nötigung als eines sexuellen Gewaltdeliktes heraus, den die Verfasserin zum Gegenstand einer Gesetzgebungsgeschichte des 20. Jahrhunderts macht.

 

Sie zeichnet die äußere Gesetzgebungsgeschichte in Deutschland (Teil II) und Österreich (Teil III) seit dem Strafgesetzbuch Österreichs von 1852 und dem Reichsstrafgesetzbuch Deutschlands von 1871 sorgfältig nach, um in einem Teil III die gegenwärtigen Reformen in beiden deutschsprachigen Rechtskulturen verständlich zu machen. Jeweils am Ende des 2. und 3. Teils fasst sie ihre Ergebnisse zusammen und sucht nach „Strukturelementen“ der jeweiligen Reformen. Teil IV ist dem Rechtsvergleich gewidmet. Auf S. 382 schlägt die Verfasserin einen neuen deutschen Entwurf, der eine „richtige“ Gesetzesanwendung erleichtern würde, vor und auf S. 431 leistet sie diese rechtpolitische Dienstleistung auch für Österreich.

 

Aus deutscher Perspektive verwundert mich ihr Mut. Frau Balthasar beschert uns nämlich wieder zwei sich überschneidende Verbrechenstatbestände, den der sexuellen Nötigung und den der Vergewaltigung, sogar mit sich überschneidenden Qualifikationen. Ein solcher Entwurf hätte wohl kaum eine Chance in einer neuen Reformdebatte, die ich mir auch nicht mehr wünsche; denn eine Änderungsgesetzgebung in Permanenz wäre das letzte, was der Konsolidierung der Rechtsprechung gut täte. Eine solche Revision der Reform würde zudem alle dogmatischen Probleme wieder zurückholen, die wir mittlerweile überwunden haben; etwa die Frage, ob von einem Vergewaltigungsversuch straflos zurückgetreten werden kann, wenn die körperliche Beeinträchtigung (Herunterreißen der Kleider) für sich noch keine sexuelle Handlung ist, sondern eine (das Oper stark beeinträchtigende) Vorbereitungshandlung hierzu, die aber für sich gesehen auch keine Körperverletzung wäre, so daß wir auf das leidige Problem stoßen würden: ob denn dies eine Sexualbeleidigung sei. Diesen Streit möchte ich nicht mehr führen; denn natürlich ist das Rechtsgut der Ehre und das der sexuellen Integrität (dieser Ausdruck gefällt der Autorin besser als „sexuelle Selbstbestimmung“, warum verstehe ich nicht, da der Sache nach dasselbe gemeint ist). Der 1997 geschaffene Einheitstatbestand („Eindringen in den Körper“ als Regelbeispiel einer besonders erniedrigenden sexuellen Nötigung/Vergewaltigung) löst derartige Problem elegant. Bei einem Regelbeispiel kommt es nämlich nicht darauf an, ob dessen Indikatoren vollendet oder nur versucht sind. Wenn die Nötigungshandlung mindestens versucht ist (etwa durch Herunterreißen der Kleider), dann bejaht man das versuchte Grunddelikt und kann (muss aber nicht) die Strafe schärfen. In der Regel ist eine solche Tat dann ein besonders schwerer Fall einer versuchten sexuellen Nötigung. Wir könnten derartige Sophistereien, von denen eine ausgefeilte Strafrechtsdogmatik nun einmal lebt, fortsetzen. Am Ende sprechen die praktischen Vorteile für die nur auf den ersten Blick komplizierte Lösung des deutschen Einheitstatbestandes. Zur Abrundung diene noch ein Beispiel: Wird eine Person, sei sie noch ein Kind oder sei sie behindert und deshalb zur Gegenwehr in der konkreten Situation nicht fähig, sexuell genötigt, d. h. gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gezwungen, dann ermöglicht der flexible Einheitstatbestand der sexuellen Nötigung/Vergewaltigung eine angemessene Lösung. Denn die nicht abschließenden Regelbeispiele können den vielfältigsten Fallkonstellationen angepasst werden und vermeiden Streitfragen, in denen es um Verbrechen oder Freispruch geht.

 

Vergleicht man nun das deutsche mit dem österreichischen Recht, dann wäre eine so restriktive Gesetzesfassung (man denke nur an die Varianten des Gewaltbegriffs) jedenfalls in der deutschen Rechtskultur problematisch. Wir hatten fast zwei Jahrzehnte einer kaum lösbaren Debatte um angemessene Auslegungen des „Gewaltbegriffs“. Erst nach der 2. Reform 1998 ist nun jede erdenkliche Differenzierung berücksichtigt: Bei einer „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ gilt der besonders schwere Fall der Nötigung (§ 240 Abs. 4 Nr. 1) – ein Vergehenstatbestand. Ist physische Gewalt oder eine qualifizierte Drohung „mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ zu bejahen, gilt der Verbrechenstatbestand des § 177. Wird aber nicht im klassischen Sinne „genötigt“, sondern „eingeschüchtert“, was immerhin in etwa der Hälfte der polizeilich bekannten Fälle der Fall ist, dann gilt das 1997 neu eingefügte Merkmal des „Ausnutzens“ einer hilflosen Lage. Über diese Ausnutzungs-Variante werden (zum Verdruß einiger Kommentatoren) Missbrauchsfälle und klassische Nötigungsfälle aus der strengen Alternativität oder Exklusivität in ein Verhältnis des gestuften Unrechts gebracht: eine in meinen Augen sehr elegante Lösung, welche aber die Verfasserin leider nicht sieht, wohl weil sie zu sehr aus österreichischer Perspektive denkt und deshalb die komplizierte Kasuistik, welche die deutsche Reformgesetzgebung geschickt umschifft hat, nicht so deutlich vor Augen hat, wie etwa ein Sachverständigengremium, das über die Jahre Gesetzgebungen berät und Umfragen bei den Landgerichten zusammenstellt.

 

Das Verdienst der Arbeit liegt in der übersichtlichen Darstellung der vielfältigen Reformschritte in beiden deutschsprachigen Rechtskulturen. Die Frage, wieso beide Länder so verschiedene Wege gehen, lässt sich nur schwer beantworten, aber sie drängt sich geradezu auf. Vielleicht liegt es daran, daß die Deutschen später reformiert haben und ohnehin eine Neigung haben, wenn sie reformieren, dann an alle Eventualitäten zu denken. Das macht nicht nur diese, sondern nehzu alle gegenwärtigen Reformdiskussionen für Außenstehende fast unverständlich.

 

Kiel                                                                                                               Monika Frommel