Angermeier, Heinz, Deutschland als politisches Rätsel. Gegenwartsanalysen und Zukunftsperspektiven repräsentativer Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts. Königshausen und Neumann, Würzburg 2001. 328 S.

 

Der Verfasser hat einen Namen als Historiker des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, nicht zuletzt auch als Reichstagsakten‑Editor, und er ist den Lesern dieser Zeitschrift als Urheber mehrerer größerer Aufsätze, darunter des ideengeschichtlichen über Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat: verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815 bestens bekannt (Bd. 107, 1990, 19‑101; vgl. ferner Bd. 82, 1965, 190‑222 und Bd. 110, 1993, 249‑330). Das jüngste Buch des vielseitigen Autors verfolgt den originellen Plan, über ein Selbstportrait dem vergangenen Deutschland des 20. Jahrhunderts näherzukommen: es beleuchtet die subjektiven Perspektiven bedeutender Zeitgenossen. „Zusammen sollen so Gegenwartsbewußtsein als Präsentation einer konkreten politischen Situation und Zukunftsperspektive als daraus mögliche Fortführung“ Einblicke eröffnen, zuletzt im Spiegel der historischen Wirklichkeit das Jahres 2000.

 

Bei der Auswahl der zu erörternden Quellengattungen wie der Schriftsteller mußte der Autor, wie er selbst bekennt, Lücken lassen. Stringente Kriterien für eine unausweichlich sehr begrenzte Auswahl gibt es auch kaum. Das Werk stützt sich nicht auf Zeugnisse der Aktion, vielmehr auf „Konzepte von klarer Planung und Ergebnisse theoretischer Betrachtung, sowie Produkte von objektivierender Analyse oder Reaktionen aus politischer Sorge“. Zuerst geht es um theoretische Betrachtungen, dann auch um unmittelbar politische Intentionen, wobei die spezifisch nationalpolitische Ausgerichtetheit der Perspektiven ein Kriterium bildete. Größere wissenschaftliche Dispute und Quellen aus der Wirtschaft blieben ausgelassen.

 

Als problematischer erweist sich die Epocheneinteilung und die Auswahl der Zeitzeugen. Im ersten Kapitel, das die Spanne von 1900 bis 1919 umfaßt, erscheinen Friedrich Naumann, Max Weber, Walther Rathenau, Friedrich Ebert, Kurt Riezler, Rudolf Kjellen, Adolf Harnack, Friedrich Wilhelm Foerster, Max Scheler, Ernst Troeltsch, Oswald Spengler und Friedrich Meinecke. Das zweite Kapitel reicht von 1920 bis 1945 und umfaßt Arthur Moeller van den Bruck, Alfred Rosenberg, Ernst Robert Curtius, Helmut Plessner, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Gustav Stresemann, Hans von Seeckt, Julius Leber, Ludwig Beck und Carl Goerdeler. Das dritte Kapitel gilt den Jahren von 1945 bis 1989 und den Historikern Friedrich Meinecke, Franz Schnabel, Gerhard Ritter, Ulrich Noack, Wilhelm Röpke, Hermann Heimpel, Hans Rothfels, Reinhard Wittram, Theodor Schieder, Ludwig Dehio, Karl Friedrich Erdmann und Ernst Nolte, dann den Politikern Konrad Adenauer, Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Willy Brandt und Jakob Kaiser, ferner den Soziologen Helmut Schelsky, Rolf Dahrendorf, Hans Freyer, Ernst Forsthoff (dem Öffentlichrechtler) und Niklas Luhmann, schließlich den Philosophen Jürgen Habermas, Hermann Lübbe, Romano Guardini und Carl Friedrich von Weizsäcker. Das letzte Kapitel (1990‑2000) kennt nur noch die Namen Hermann Lübbe, Joseph Isensee, Paul Kirchhof, Ernst‑Wolfgang Böckenförde, Hans‑Peter Schwarz, Jürgen Kocka und Botho Strauß.

 

Gewiß haben alle diese Dichter, Denker und Programmatiker dem Zeitgeist Ausdruck gegeben und ihn mitgeprägt. Aber ist Angermeiers Ensemble repräsentativ? Fehlen nicht weitere wichtige Zeitzeugen? Dem Leser fallen fehlende Namen sogleich ein, zuerst vielleicht der des Diktators Hitler. Wohl hätten auch weitere Porträts das Jahrhundert „als ein Kaleidoskop von Entwürfen und Versuchen nach vielen Richtungen“ erwiesen, „sodaß auch in ihnen das künftige Deutschland ein Rätsel, eine offene Frage“ geblieben wäre (S. 326), aber das Gesamtbild hätte doch an Authentizität und Repräsentativität gewonnen. Der Autor eröffnet einen vielversprechenden Weg zum Verständnis des Jahrhunderts, den ein handliches Buch in voller Länge aber nicht abgeben kann.

 

Das Werk bietet mit seinen vielfach meisterlichen Miniaturen keine Kurzbiographien, sondern literarische Analysen: kluge und lehrreiche Aufschlüsse. Der Autor nennt jeweils zuerst die besprochenen Schriften, ohne Sekundärliteratur anzuführen und ohne Fußnoten zu setzen. Die Beurteilungen sind einfühlsam und abgewogen, wobei sie freilich da und dort auch zum Widerspruch herausfordern. So muß sich der entschiedene Republikaner Thomas Mann den Satz gefallen lassen: „Seine Rufe bleiben Schlagworte und verraten nur T. Manns Anfälligkeit für Ideologie bzw. die Blendung durch politische Farben“ (S. 143). Hier zeigt sich die Problematik eines Absehens vom dichterischen Werk. „Der Künstler ist weiser, freier und unparteiischer, als es die harschen Urteile des Essayisten und Tagebuchschreibers vermuten lassen“ (so der Biograph Hermann Kurzke). Es zeigt sich auch, wie geboten die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur ist, man ziehe nur Frank Fechner zu Rate: Thomas Mann und die Demokratie. Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers, 1990. Übrigens ist der Dichter bezeichnenderweise und dezidiert nicht schon 1946 aus dem Exil nach Europa zurückgekehrt (S. 141). Hätte gerade er nicht auch im 3. Kapitel stehen müssen?

 

Einzelne Einwände können den Wert des gedankenreichen Buches nicht vermindern, das den Leser in seinen Bann zu ziehen und mit seiner Sicht der deutschen Geschichte auch zu bewegen vermag. Die in dem Band versammelten sechzig deutschen Selbstverständnisse und Zukunftserwartungen belegen auf ihre Weise: die deutsche Geschichte war immer nur ein Entwurf. Die Staatsgründung 1871, ein Grundereignis, brachte nicht Ende noch Erfüllung, und die Wiedervereinigung von 1990 bedeutete einen neuerlichen Ansatz. „lnsofern war auch diese stets unfertige Geschichte nie der Siegeszug einer Nation, es blieb für deren Glieder immer ein Schicksal, in diesem zerrissenen Deutschland zu leben, weil die Bedingungen für einen Siegeszug zu schwierig und die dafür vorhandene eigene Kraft zu gering waren. Deutschland war als Volk nicht einfach nach innen hin zu vereinigen und als Staat ebenso wenig nach außen hin zu begrenzen, es blieb der Koloß in der Mitte, dessen Zittern Europa in Bewegung hielt“ (S. 328).

 

Heidelberg                                                                                                                    Adolf Laufs