RothUnsichere20010903 Nr. 10340 ZRG 119 (2002) 48

 

 

Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, hg. v. Dinges, Martin/Sack, Fritz (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 3). Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 2000. 396 S.

 

Die meisten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes verdanken ihre Entstehung der Kooperation von Kriminologen und Historikern im Rahmen dreier Tagungen, auf denen in den Jahren 1994 bis 1997 versucht wurde, so die beiden Herausgeber in der Einleitung, die historische und kriminologische Perspektive für den gegenwärtigen Diskurs um das Thema Sicherheit nutzbar zu machen. Ausgehend von dem umfassenden modernen Sicherheitsbegriff, der alle möglichen Gefahren impliziere (bis zur Verkehrs- und Reaktorsicherheit), konstatieren Martin Dinges und Fritz Sack, dass „Sicherheit“ letztlich von der jeweiligen Bedrohung abhängig sei und damit überwiegend subjektiv bestimmt werde. Dies beweise ein Blick in die Geschichte: Sie erinnern an das mittelalterliche Friedensverständnis, an die Landfriedensbewegung sowie an die Aufwertung des Sicherheitsbegriffs als Staatszweck bei Hobbes und Pufendorf. Im 19. Jahrhundert habe die Rechtssicherheit ihre zentrale Bedeutung erhalten, gleichzeitig sei die moderne Entwicklung eingeleitet worden, wozu auch beigetragen habe die Errichtung einer ersten Großstadtpolizei 1829 in London sowie das Aufkommen der Kriminalstatistik, ein „Kristallisationsort der moralischen Befindlichkeit“. Letztlich fungiere die Großstadt als Mythos des Bösen, ein Medienkonstrukt, das insoweit als Projektionsventil diene. Die große Verunsicherung der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe den klassischen Liberalismus in der Frage der Gefahrenabwehr verdrängt, mit der Folge, daß die aktuelle Sicherheitsdiskussion zu einer Aufrüstung des repressiven Instrumentariums in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch in Westeuropa geführt habe: Die Gefängnisrate sei ein deutliches Indiz dafür, angeführt werden des weiteren das New Yorker Modell der sozialen Kontrolle durch die Polizei, dann die aufgrund der Kriminalitätsfurcht ergriffene Eigenvorsorge der Bürger und die wieder zunehmende Justizkritik.

An die Einleitung schließen sich die Einzelbeiträge an, die das Thema Sicherheit aus unterschiedlichen Blickrichtungen beleuchten, weshalb der Band zu Recht historisch und nicht systematisch gegliedert ist. Peter Schuster (Hinter den Mauern das Paradies ? Sicherheit und Unsicherheit in den Städten des späten Mittelalters) widmet sich der Wahrnehmung von Sicherheit in der mittelalterlichen Stadt durch die Zeitgenossen und zeichnet ein ambivalentes Bild: In Redewendungen und zeitgenössischen Berichten komme einerseits eine Zuversicht über das städtische Leben - dem himmlischen Jerusalem gleich - zum Ausdruck, während andere Zeitgenossen sich eher an das katastrophale Babylon erinnert gefühlt hätten. Unsicherheitsgefühle seien zum einen mit dem strafenden Gott verbunden worden, vor allem aber mit innenpolitischen Krisen, die schon durch bloße Gerüchte ausgelöst werden konnten. Angst scheinen die Menschen individuell in erster Linie vor dem Besitzverlust gehabt zu haben. Der Diebstahl sei das Schreckgespenst schlechthin gewesen, was durch die Benutzung entsprechender Vokabeln bei Beleidigungen belegt werde. Letztlich hätte insoweit ein großes Misstrauen untereinander den entscheidenden Unsicherheitsfaktor gebildet.

Andrea Bendlage behandelt „Städtische Polizeidiener in der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jh.“, also das niedere Exekutivpersonal, das hauptsächlich aus den Stadtknechten und den Schützen bestand. Die Zahlen dieser Mannschaften waren in dem erwähnten Zeitraum rückläufig, so daß etwa Mitte des 16. Jahrhunderts insgesamt 120 Polizeidiener in der Stadt tätig waren, was im Vergleich mit anderen Städten eine relativ hohe Polizeidichte bedeutet habe. In der Praxis sei das Personal häufig mit Gewalt konfrontiert worden, habe selber oft die zulässigen Grenzen überschritten, meist ohne dafür zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Dies wird zu Recht mit einer fehlenden Verrechtlichung des Verhältnisses zum Dienstherrn erklärt. Außerdem habe Brutalität und Korruption der Amtsträger sich durchaus mit der städtischen Ordnung vertragen. Die Unzuverlässigkeit und Delinquenz der Angestellten zeige, daß sie den Bürgern nähergestanden hätten als ihrem Dienstherrn. Bestätigt  wird das geschilderte Bild der wenig disziplinierten Polizeikräfte während der frühen Neuzeit durch Carl A. Hoffmann für Augsburg (Bürgersicherheit und Herrschaftssicherung im 16. Jahrhundert. Das Wechselverhältnis zweier frühmoderner Sicherheitskonzepte): Die Bürger hätten ihre Disziplinierung dadurch zu verhindern gewusst, dass sie die Polizeibüttel als unehrliche Menschen abgestempelt hätten; andererseits hätten die Bürger den Schutz, den die Polizei gewährte, für notwendig gehalten, wenn er auch auf der anderen Seite oft als störend empfunden wurde. Auch in Rom lässt sich im 16. Jahrhundert ein Spannungsfeld zwischen Ordnungskräften und Gesellschaft konstatieren (Peter Blastenbrei, Unsicherheit als Lebensbedingung. Rom im späten 16. Jahrhundert): So hätten zwar einige Päpste versucht, die Anzeigenfreudigkeit zu fördern oder auch das Polizeipersonal zu vermehren, doch sei wegen der Willkür der Justiz ein Hass der Bevölkerung auf diese zu beobachten, der wenig Kooperationsbereitschaft habe aufkommen lassen. Ob hier schon Vorläufer späteren mafiösen Verhaltens in Rom zu konstatieren sind, mag dahinstehen.

Die Herrschaftssicherung wird am Beispiel Augsburgs in dem bereits erwähnten Beitrag Hoffmanns sowohl als Sicherheit der städtischen Organe als auch als die der Individuen behandelt. Prävention ist vor allen Dingen durch Sicherungsmaßnahmen zu erreichen versucht worden, so beispielsweise durch die Ausweisung von Fremden oder das Verbot des Waffentragens, durch Versammlungsverbote und die Strafandrohungen für Ladungsungehorsam sowie bei Verstößen gegen Amtspflichten. Als ultima ratio habe das Militär eingreifen müssen. Hoffmann registriert für Augsburg ähnlich wie Bendlage für Nürnberg eine relativ große Polizeidichte und beobachtet in der Stadt zunehmende Versuche der Obrigkeit, zwischen den streitenden Parteien zu schlichten.

Um die registrierte Delinquenz in jeweils einer konkreten Stadt in der frühen Neuzeit bemühen sich mehrere Autoren; alle weisen auf die selektiven Einschätzungen der Zeitgenossen zur Sicherheitsfrage in ihrer Stadt hin, die in vielen Quellen, unter anderem auch in Reiseberichten deutlich zum Ausdruck kommt. Peter Blastenbrei kommt in seiner bereits erwähnten Untersuchung für Rom zum Ergebnis, dass der Alltag in der Stadt damals von Gewalt geprägt war. Stützen kann er diese These auf das gute Quellenmaterial, das sich vor allem auf die Strafanzeigen in der Stadt bezieht und wegen der damals bestehenden Meldepflicht der Heilberufe hinsichtlich vorgefallener Gewalttaten eine fast vollständige Registrierung zur Folge hatte (allerdings wird die Eigentumsdelinquenz weitgehend ausgeblendet). Im Durchschnitt eines Jahres wurden zwischen 80 und 143 Gewaltdelikte pro Monat begangen. Die höchsten Zahlen waren immer im Fastnachtsmonat sowie im Sommer zu verzeichnen, besonders gering waren die Taten im Herbst, wenn niedrige Preise bestanden. - Im Gegensatz dazu stehen die Ergebnisse in den deutschen Städten: Gerd Schwerhoff sieht anhand einer 150 Jahre umfassenden Untersuchung die Reichsstadt Köln als eine Zone relativer Sicherheit. Die Frage, ob sie eine „Insel des Friedens oder Brennpunkt der Gewalt?“ war, wird eher im ersten Sinn entschieden. Auch in Konstanz, so Schuster, war der einzelne Mensch relativ sicher, da hier Mitte des 15. Jahrhunderts niedrige Kriminalitätsraten zu beobachten sind. Ähnlich fällt die Antwort von Joachim Eibach auf seine Frage: „Die Straßen von Frankfurt am Main. Ein gefährliches Pflaster ?“ aus. Ausgewertet hat Schwerhoff die Turmbücher Kölns, die damaligen Amtsbücher, Eibach die Register des Frankfurter Rates. In Köln seien vor allen Dingen Kapitalverbrechen, aber auch Taschendiebe von der Bevölkerung als Unsicherheitsfaktoren registriert worden. Die Gewalttaten hätten mit 25 % die umfangreichste Deliktsgruppe gebildet, die Totschlagsrate lag damals vergleichsweise niedrig. In Frankfurt seien während der Hochphase der Delinquenz 130 Delikte pro Monat begangen worden, Ende des 18. Jahrhunderts hingegen nur noch die Hälfte, letztlich eine geringe Zahl. Die Kapitaldelikte entsprechen etwa heutigen Werten. Auch die große Zahl der Bettler sei nicht als Sicherheitsproblem angesehen worden. Den Hauptanteil der Täter haben in Köln Handwerker, Tagelöhner und Hausangestellte ausgemacht; auch für Frankfurt werden die Gewalttätigkeiten der Handwerksburschen hervorgehoben. Betroffen waren in beiden Städten hauptsächlich öffentliche Räume wie etwa das Wirtshaus oder die Straßen der Stadt. Drei Viertel der Taten in Köln wurden am Abend oder in der Nacht verübt, vielfach war Alkohol mit im Spiel, häufig wurden die Handlungen im Affekt begangen. Auffallend seien die relativ milden Strafen. Frauen waren stark unterrepräsentiert und kamen eher als Opfer in den Akten vor, was Schwerhoff damit erklärt, daß die Frauen weniger in die Öffentlichkeit traten. Die geringe Zahl von Vergewaltigungen führt er auf ein entsprechendes Anzeigenverhalten der Bevölkerung zurück. Beide Autoren erwähnen auch andere Unsicherheitsfaktoren: Eibach nennt Feuer, Hunde, Verkehr und Straßenbetteln, Schwerhoff weist für Köln auf die Situation vor den Toren der Stadt hin, auf Räuberbanden, häufige Fehden, in die Köln verwickelt war, sowie Kriege, beispielsweise mit dem Bischof. Auch die alltäglichen Plünderungen durch umherziehende Soldaten sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

Dietlind Hüchtker befaßt sich mit der „Unsittlichkeit als Kristallisationspunkt von Unsicherheit. Postitutionspolitik in Berlin (1800-1859)“. Quellen sind die städtischen Verwaltungsberichte, literarische Werke von Verwaltungsbeamten sowie feuilletonistische Beschreibungen. Merker und Dromke hätten in ihren Büchern über Berlin trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze die Unsittlichkeit der Stadt in einen Zusammenhang zur Verarmung gestellt. Eine große Gefahr sei damals darin gesehen worden, daß die Prostitution die sozialen Grenzen der Gesellschaft sprengen könnte. Viele Diskussionen um den Begriff der Öffentlichkeit sowie eine Reihe von Petitionen dokumentierten die großen Ängste der bürgerlichen Bevölkerung, die über eine mögliche Auflösung der sozialen Ordnung verängstigt war. Die daraus resultierenden Reformforderungen und der sich anschließende politische Diskurs hätten aber immer den Blick auf die Prostituierte, nicht auf die Prostitution selbst und die letztlich auch dafür verantwortlichen Männer gelenkt.

Norbert Finzsch untersucht den Rassismus als Teil der städtischen Alltagsgeschichte in Washington in dem Jahrzehnt von 1860 bis 1870, bezogen sowohl auf die afroamerikanischen Einwohner als auch die irischen Einwanderer. Er schildert zunächst die Lage der schwarzen Bevölkerung, dann die Gründung der städtischen Polizei im Jahre 1861. Schließlich wertet er die Verwaltungsbücher statistisch aus und gelangt zu dem Ergebnis, dass die Afroamerikaner nicht überproportional mit der Polizei in Konflikt kam. Am häufigsten seien sie wegen Diebstahls und Sexualdelikten belangt worden. Im Gegensatz dazu waren die irischen Auswanderer in der Statistik um das dreifache überrepräsentiert; begangen wurden von ihnen vor allen Dingen Ordnungsdelikte, die Bestrafungen waren oft milde. Hinsichtlich der afroamerikanischen Einwohner wird deren geringere Straffälligkeit damit erklärt, dass die sogenannten black codes weiter bestanden, Verordnungen die beispielsweise die Bewegungsfreiheit beschränkten und durch weitere Maßnahmen, etwa Meldepflichten, eine weitgehende Disziplinierung erreichten.

Herbert Reinke gibt einen allgemeinen Überblick über die Großstadtpolizei in deutschen Städten im Kaiserreich, skizziert die Verstädterung in Deutschland während dieses Zeitraumes, die zu einer Projektion von Ängsten geführt habe, was durch die neu aufkommende Reichskriminalstatistik gefördert worden sei. Er weist auf das umfangreiche Aufgabenspektrum der Polizei hin, das nicht nur Gefahrenabwehr, sondern gerade auch viele Wohlfahrtsaufgaben umfasst habe. Eine Kriminalpolizei sei in den deutschen Städten verglichen mit dem Ausland erst relativ spät gegründet worden, ein weiteres Indiz dafür, dass die Kriminalität im Kaiserreich nicht der vornehmliche Grund für Unsicherheit war.

Peter Leßmann-Faust behandelt den Machtkampf um das Gewaltmonopol in der Weimarer Republik: Zum einen geht es um die Auseinandersetzung zwischen der Reichswehr und der preußischen Schutzpolizei und damit um die Schwierigkeit, den Bereich innere Sicherheit mit einer zivilen Polizei zu besetzen, sowie um die Versuche außerstaatlicher Einheiten, insbesondere der SA, das staatliche Gewaltmonopol zu durchbrechen. Letztlich habe sich im sogenannten Preußenschlag vom 20. 7. 1932 das Reich gegen die Schutzpolizei durchgesetzt, ein kurzfristiger Erfolg, wie die Ereignisse schon des nächsten Jahres gezeigt haben.

Der vorliegende Sammelband, der noch vier weitere Aufsätze zu aktuellen kriminologischen Problemen beinhaltet, liefert eine Vielzahl interessanter Informationen zur historischen Kriminologie, die auch für den Rechtshistoriker aufschlussreich sind. Obwohl die Ergebnisse kein einheitliches Bild zeichnen, was bei den nach Ort und Zeit verschiedenen Untersuchungsobjekten nicht verwundern darf, sind die Erkenntnisse wertvoll. Wer die Strafrechtsgeschichte nicht als reine Dogmengeschichte begreift, ist auf solche Untersuchungen angewiesen, um ein Urteil über die Praxis zu gewinnen. Die Lektüre des Buches macht neugierig auf die umfassenderen Untersuchungen, die viele der hier versammelten Autoren als Monographien zu ähnlichen Themen bereits vorgelegt haben und die in verstärktem Maße als bisher in die Rechtsgeschichte einbezogen werden sollten.

 

Mainz                                                                                                                        Andreas Roth