RanieriSchermaier20010408 Nr. 10305 ZRG 119 (2002) 39

 

 

Schermaier, Martin Josef, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 29). Böhlau, Wien 2000. 789 S.

 

Bei der hier vorliegenden monumentalen Monographie handelt es sich um die erheblich erweiterte Fassung der Habilitationsschrift des Verfassers, welche von Theo Mayer-Maly angeregt und betreut wurde, und die 1995 der Salzburger Rechtsfakultät vorgelegen hat. Die Untersuchung wurde zu wesentlichen Teilen vom Verfasser am Institut für römisches Recht der Bonner Universität durchgeführt. Bereits in ihrer Entstehungsgeschichte qualifiziert sich diese Arbeit also als ein „europäisches“ Werk. Auch ihr Gegenstand betrifft ein zentrales Problem der europäischen Zivilrechtswissenschaft in Geschichte und Gegenwart: die Wesentlichkeit des Irrtums im Rahmen der Vertragslehre. Dieses Thema wird vom Verfasser in der europäischen rechtswissenschaftlichen Literatur von den Glossatoren bis zur Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs verfolgt. Einiges sei zunächst zum Inhalt des Werkes im einzelnen berichtet. Dieses gliedert sich in zwölf Kapitel von z. T. unterschiedlicher Länge. Ein erstes Kapitel (S. 23-40) ist thematischen und methodischen Vorbemerkungen zur Untersuchung gewidmet. Bereits hier wird der Verfasser grundsätzlich: Die Problematik der Beachtlichkeit des Irrtums gehöre zu den ältesten und umstrittensten Themen der europäischen Zivilrechtswissenschaft. Eine Befragung der historischen Quellen sei heute noch sinnvoll und erforderlich. „Nicht die historischen Lösungen“ – schreibt der Verf. (S. 24) – „erschwerten es, zu einer unter modernen Wertungsgesichtspunkten befriedigenden Irrtumslehre zu gelangen, sondern die Unfähigkeit vieler Juristengenerationen, diese Lösungen in ihrer Eigenart zu erkennen, zu überwinden oder mit den neuen Errungenschaften der Handlungs- und Vertragslehre zu vereinbaren“. „Das Weiterleben der römischen Kategorien“ – so der Verfasser weiter (S. 24.) – könnte dafür sprechen, daß sich dahinter Wertungen verbergen, die sich sogar in einer modernen Rechtsordnung sinnvoll entfalten können“. Die römischen Quellen (S. 25ff.) kennen nur in Ansätzen die Problematik des Irrtums im Vertragsrecht. In einigen Fallkonstellationen sei die Unwissenheit des Erwerbers einer Speziessache Tatbestandsvoraussetzung für die Ermittlung von Wegen zu seinem Schutz, aber nicht deren eigentlicher Grund (vgl. etwa den Fall [D.41.3.17], daß jemand unwissend vom Nichteigentümer eine Sache erwirbt oder irrtümlich eine Nichtschuld begleicht [D.12.6.1.1.] oder eine nicht existierende Sache oder eine res extra commercium erwerben will [D.18.1.6.pr.; D.18.1.70]). Auf Ulpian gehe schließlich (S. 27) auch die Notion eines error in substantia zurück. Erst die mittelalterlichen Juristen haben bei den römischen Quellen die unterschiedliche Benutzung der Begriffe qualitas i. S. einer „Eigenschaft“ und substantia i. S. „stofflicher Beschaffenheit“ erkannt. Um den vermeintlichen Widerspruch in den Quellen zu beheben, haben dann die mittelalterlichen Kommentatoren den Begriff des error in substantiali qualitate, des Irrtums also über „wesentliche Eigenschaften“ entwickelt. Von hier sei es „ein zeitlich weiter, aber sachlich nur kleiner Schritt“ zu den Formulierungen des Art.1110 französ. Code civil oder von § 119 Abs.2 BGB. „Die Kontinuität des Gedankens vom «Irrtum über wesentliche Eigenschaften» des Vertragsgegenstandes oder des Kontrahenden“ – schreibt der Verfasser weiter (S. 27) – „steht beispielhaft dafür, wie hartnäckig sich die römischen Irrtumskategorien in der europäischen Dogmengeschichte gehalten haben und nach wie vor halten.“ Der Rekonstruktion dieser dogmengeschichtlichen Entwicklung ist die gesamte Untersuchung gewidmet. Was heute als Irrtumsproblematik im Rahmen des allgemeinen Vertragsrechts oder gar als Problem der Rechtsgeschäftslehre behandelt wird, diskutiert das römische gemeine Recht am Beispiel des Kaufrechts. Erst durch seine Einbettung in die naturrechtliche Lehre von Willen und Handlung seien daraus die Grundsätze des modernen Irrtumsrechts gewonnen worden. Die Orientierung des Vertragsbegriffs und damit auch des Irrtumsbegriffs am autonomen Willen des Handelnden ist für den Verfasser also ein kulturspezifisches Phänomen der europäischen Rechtswissenschaft, das die römische Vertragslehre gerade nicht kannte. Die römischen Juristen haben den Irrtum bei Vertragsschluß als Konsensfehler verstanden, die moderne Zivilrechtsdogmatik setze dagegen auf den Gedanken der Zurechnung eines Rechtsgeschäfts. (Zu den unterschiedlichen Auffassungen des Irrtumsproblems und zu den entsprechenden verschiedenen willenstheoretischen Modellen siehe ferner auch M. J. Schermaier, Europäische Geistesgeschichte am Beispiel des Irrtumsrechts, in: ZEuP 1998, S. 60ff.). Auch der Gedanke des Vertrauensschutzes sei vom Naturrecht erst geboren worden. Bei Grotius taucht erstmals der sozialethische Gedanken auf, daß abgegebene Erklärungen zu verantworten sind. Thomasius veranlaßte dieser Gedanke zu einer energischen Korrektur der herkömmlichen Zurechnungslehre und damit auch der Irrtumslehre. Ziel der Untersuchung – kündigt der Verfasser an - sei gerade, ausgehend von der Kategorie des error in substantiali qualitate, eine eingehende Untersuchung der Geschichte des Irrtumsrechts vorzunehmen. Die Figur des error in substantia soll durch die Jahrhunderte verfolgt, ihre Funktion und ihre Anwendungsgebiete sollen geklärt werden, den rechtswissenschaftlichen Versuchen ihrer dogmatischen Begründung soll im einzelnen nachgegangen werden. Oft sei „die vermeintlich inhaltliche Kontinuität von Rechtsgedanken nur Ergebnis einer begrifflichen Verfremdung“ (S. 33-34). Die verschiedenen Interpretationen der römischen Quellen zu diesem Thema seien in der gemeinrechtlichen Tradition nicht um Historizität, sondern um Aktualität bemüht gewesen (S. 33-34.). Ihre spezifische historische Bedingtheit habe die gemeinrechtliche Wissenschaft nur selten reflektiert. Der Dogmengeschichte komme deswegen häufig die Aufgabe zu, diese Mißverständnisse zu rekonstruieren und die neuen Gedanken herauszustellen, die, um ihre Akzeptanz zu gewährleisten, häufig in die alte Begrifflichkeit gehüllt wurden. Die dabei „entstandenen Brüche in der scheinbaren Kontinuität der Rechtsentwicklung“ (S. 33-34.) gelte es aufzuspüren und zu beachten.

Nach dieser ausführlichen Beschreibung der Forschungslage und des eigenen Forschungsanliegens folgt nun der Hauptteil der Arbeit mit einer breiten und in die Einzelheiten gehenden Problemgeschichte in der gemeinrechtlichen Literatur. Das zweite Kapitel „Die mittelalterliche Rechtswissenschaft“ (S. 41-82) ist den Ansichten der Glossatoren und der Postglossatoren gewidmet. In welchem Umfang hier der Verfasser der eigentümlichen Kommentierungspraxis der Schule der Glossatoren nachgegangen ist, ist allerdings im einzelnen nicht immer nachzuvollziehen. Die Ausführungen stützen sich meistens auf Sekundärliteratur. An prominenter Stelle steht hier die wichtige Untersuchung von J. Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine, Oxford 1991. Robert Feenstra und Reinhard Zimmermann haben seinerzeit die Meinung vertreten, daß die gemeinrechtliche Wissenschaft und hier insbesondere die Kommentierung durch Glossatoren und Kommentatoren die römische Irrtumslehre kaum weiterentwickelt haben. Der Verfasser vertritt die gegenteilige Ansicht. Zitiert werden hierzu zahlreiche Glossen, vor allem die glossa: „substantia“ zu D.18,1,9,2. Der Verfasser erwähnt hier, auf der Suche nach der Autorschaft dieser Glosse, eine Handschrift in der Apostolischen Vatikanischen Bibliothek (HS Borghese 225, f. 154v.), aus welcher sich die Autorschaft von Martinus ergeben würde. Die Sigle M. läßt in der Tat den Zusammenhang mit der Schule von Martinus vermuten (S. 42). Eine solche Zuordnung hätte allerdings die umfänglichen und kaum erschlossenen präaccursianischen Glossenapparate miteinbeziehen müssen. Entsprechende Hinweise zum derzeitigen Forschungsstand, etwa zu den Publikationen von Severino Caprioli und Gero Dolezalek und zum Repertorium der präaccursianischen Glossenapparate des letzteren, fehlen in diesem Zusammenhang völlig. Eine entsprechende Vertiefung hätte allerdings den Umfang und die Richtung der geplanten Untersuchung vollkommen verändert. Es reicht nach Ansicht des Rezensenten für die Rekonstruktion der gemeinrechtlichen Wissenschaft zu unserem Thema, die Existenz der glossa „substantia“ in der ersten Fassung der „Glossa accursiana“ zur Kenntnis zu nehmen.

Anschließend verfolgt der Verfasser die Ausführungen der gemeinrechtlichen Juristen zu den jeweiligen Irrtumsproblemen aus den römischen Quellen. Ein drittes Kapitel „Humanismus, Spätscholastik und Vernunftrecht“ (S. 83-150) ist den Autoren des 16. Jahrhunderts gewidmet. Die jeweiligen Äußerungen zu den Problemen des error in substantia und des error in qualitate werden bei den einzelnen Werken nachgewiesen. In z. T. ermüdender Weise werden hier die Stellungnahmen von Zasius und Alciatus sowie von Molinaeus, Connanus und den übrigen Vertretern der französischen humanistischen Schule aufgelistet und analysiert. Dasselbe gilt für die unzähligen Vertreter des niederländischen und deutschen Humanismus (S. 113-123) sowie für diejenigen der spanischen Spätscholastik (S. 124-143). Die Problempräsentation erfolgt regelmäßig in immer gleicher Weise: Der einzelne Abschnitt ist jeweils den Äußerungen eines Autors gewidmet; die Autoren werden sukzessiv erwähnt und erörtert. Eine übergreifende, am Sachproblem orientierte Präsentation der unterschiedlichen Ansichten hätte wohl einer gewissen Ermüdung des Lesers besser entgegengewirkt, welche die monotone Auflistung der unzähligen gemeinrechtlichen Autoren naturgemäß mit sich bringt. In ähnlicher Weise erfolgt in einem vierten Kapitel „Usus modernus und frühes Naturrecht“ (S. 151-232) die Darstellung der Lehren der Autoren des deutschen Usus modernus. In diesem Zusammenhang nimmt die Analyse des Werkes von Samuel Stryk einen besonderen Platz ein (S. 162-167). Dasselbe gilt für die Vertreter des frühen Naturrechts, etwa Hugo Grotius und Samuel Pufendorf (S. 173-195), sowie für die späteren Pandektisten und Humanisten unter naturrechtlichem Einfluß wie etwa Jean Domat, Wolfgang Adam Lauterbach und andere zeitgenössische Autoren. Das fünfte Kapitel ist dem „mittleren Naturrecht und seinen Zeitgenossen“ (S. 233-308) gewidmet. Hier wird insbesondere die Stellungnahme zur Irrtumsproblematik von Christian Thomasius ausführlich präsentiert (S. 235-243). Das sechste Kapitel „Römisch-Gemeines Recht im 18. Jahrhundert“ (S. 309-349) ist der eleganten Jurisprudenz und den humanistischen Epigonen in der niederländischen Rechtsliteratur des 18. Jahrhunderts gewidmet. Dasselbe gilt für die deutschsprachigen Autoren des Usus modernus aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und für die letzten gemeinrechtlichen Epigonen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. In einem siebten Kapitel „Die naturrechtlichen Kodifikationen“ (S. 351-418) werden die naturrechtlichen Kodifikationen vom Ende des 18. Jahrhunderts erörtert. Für den Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (S. 351-363), für das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (S. 364-386) sowie für den französischen Code civil (S. 387-405) wird im einzelnen die Entstehungsgeschichte der entsprechenden gesetzlichen Regelung zum Irrtum präsentiert. Ein achtes Kapitel „Spätes Naturrecht, Kantianismus und die Entstehung des ABGB“ (S. 419-466) ist der Entstehungsgeschichte des österreichischen ABGB gewidmet. Die Vorschriften zum Irrtum in den vershiedenen Entwürfen und in der Endredaktion des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs werden im einzelnen analysiert und in ihrem Werdegang beschrieben. In diesem Zusammenhang wird auch die Erörterung der Irrtumsproblematik in der naturrechtlichen Literatur, die unter dem Einfluß der kant’schen Philosophie steht, angesprochen (S. 430-437). Der „deutschen Pandektistik“ ist ein neuntes, ausführliches Kapitel (S. 467-536) gewidmet. Die Behandlung der Irrtumslehre in den Schriften der einzelnen Pandektisten wird hier besprochen. Einen besonderen Platz nimmt verständlicherweise das Werk Friedrich Carl von Savignys ein, dessen Irrtumstheorie im einzelnen erörtert wird (S. 483-498). Neben den einzelnen Pandektisten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nimmt insbesondere das Werk von Ernst Zitelmanns (S. 519-527) einen besonderen Platz ein, das bekanntlich einen wesentlichen Einfluß auf die Entstehungsgeschichte von § 119 BGB nahm (zu Zitelmanns Vorschlägen bei den Beratungen zum BGB siehe S. 660ff.; man vermißt hier allerdings die Berücksichtigung der wichtigen Untersuchung T. Repgens, Die Kritik Zitelmanns an der Rechtsgeschäftslehre des ersten Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs, in dieser Zeitschrift Germ. Abt. 114 (1997), S.73ff.). Ein zehntes Kapitel „Die irrtumsrechtliche Diskussion zwischen Erklärungs-, Vertrauens- und Willenstheorie“ (S. 537-606) ist dem Meinungsstreit in der deutschsprachigen Pandektistik gewidmet. Die Vertreter der Erklärungstheorie, deren Kritiker und die demgegenüber entwickelte Vertrauenstheorie, kommen hier einzeln zu Wort. Die einzelnen Lehren werden jeweils bei einer Auflistung der Werke der damaligen Pandektisten besprochen. Die Ermüdung für den Leser ist nicht zu vermeiden. Auch hier hätte eine sachbezogene, übergreifende Problembeschreibung der Darstellung sicherlich gut getan. Ein elftes Kapitel (S.607-698) ist dann „dem Weg zur Irrtumsregelung im BGB“ gewidmet. Es handelt sich hier nach Ansicht des Verfassers um die „Geschichte eines Kompromisses“. Die einzelnen Entwürfe und die Beratungen dazu in der ersten und in der zweiten Kommission sowie die unzähligen wissenschaftlichen Stellungnahmen werden hier im einzelnen vorgestellt und analysiert. Dieses Kapitel allein stellt eine kaum zu überbietende präzise Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von § 119 BGB dar. Ein letztes, zwölftes Kapitel (S. 699-724) ist den Ergebnissen gewidmet. Der Verfasser geht hier nicht nur auf die historischen Befunde aus der durchgeführten Untersuchung der gemeinrechtlichen Quellen ein, sondern zieht auch Konsequenzen für eine dogmatische Neubewertung von § 119 BGB. Ausführlich geht er ferner noch einmal auf die Bedeutung einer dogmenhistorischen Untersuchung für die heutige zivilrechtliche Dogmatik des Irrtumsrechts ein.

 

Die monumentalen Dimensionen der Monographie Martin Josef Schermaiers machen eine Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten derselben im Rahmen einer Rezension schwerlich möglich. Die Arbeit zeichnet sich durch eine ungemein präzise und vertiefte Detailanalyse der einzelnen literarischen Stellungnahmen im gemeinrechtlichen Schrifttum aus. Wie der Verfasser selbst in seiner Einführung einräumt (S. 38), hat die Untersuchung einen deutlichen Schwerpunkt im mitteleuropäischen Raum. Genauer gesagt, nehmen die deutschsprachige gemeinrechtliche Literatur und die Entstehungsgeschichte der Irrtumsregelung im deutschen BGB einen zentralen, wesentlichen Teil ein. Selbst das österreichische ABGB hat keine dem deutschen Recht vergleichbare Erörterung erfahren. Privilegiert wird in der Analyse vor allem die deutsche gemeinrechtliche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die deutschsprachige und vor allem pandektistisch orientierte Literatur des 19. Jahrhunderts Es ist etwa bezeichnend, daß frühe Kommentatoren des österreichischen ABGB wie Pratobevera und Winiwarter gerade einmal in einer Fußnote (S. 465) auftauchen. Wenn schon gelegentlich von „europäischer Rechtsgeschichte“ die Rede ist und manchmal, allerdings eher „colorandi causa“, die „Principles of European Contract Law“ zitiert werden (etwa S. 721, Fn. 79), bleibt die Arbeit im Kern eine Dogmengeschichte des § 119 BGB. Das französische Recht nimmt darin einen recht kleinen Platz ein: Besonders knapp wird auf Inhalt und vor allem historische Interpretation von Art. 1110 Code civil eingegangen (S. 405-407). Das niederländische, italienische und spanische Zivilrecht des 19. Jahrhunderts werden übrigens praktisch nicht erwähnt. Hinweise auf die moderne dogmatische Diskussion (S. 719-721) gehen über das deutsche Recht nicht hinaus: herangezogen werden können hätte wenigstens die grundlegende Untersuchung E. A. Kramers, Der Irrtum beim Vertragsschluß. Eine weltweit rechtsvergleichende Bestandsaufnahme, Zürich 1998. Diese „Deutschlastigkeit“ der Untersuchung wird auch bei der Analyse der gemeinrechtlichen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts mehr als sichtbar: Hinweise auf die französische Literatur zum Ancien droit, vor allem auf die italienische und spanische gemeinrechtliche Praxis, fehlen weitestgehend. Das römische gemeine Recht wird vornehmlich im Zusammenhang mit den deutschen Werken zum Usus modernus erörtert. Der Rezensent hegt in diesem Zusammenhang allerdings gewisse Bedenken: Das europäische gemeine Recht war auch und vor allem eine Erscheinungsform der Gerichts- und forensischen Praxis. Weder die Praxis der Consilien noch die gemeinrechtliche Judikatur der höchsten europäischen Gerichtshöfe kommt bei der Problemanalyse angemessen zur Sprache. Gerade die italienische gemeinrechtliche Literatur des 17. Jshthunderts, etwa das monumentale Werk des Kardinals Gianbattista De Luca, hätte wertvolles Material für die Untersuchung geboten. Die gemeinrechtliche Justizpraxis kommt in der Arbeit kaum vor. Siehe auf S. 334-338 den Abschnitt 6.4. „Der Irrtum beim Vertragsschluß in der Praxis“: „Die Darstellung des Irrtumsrechts im Usus modernus“ – schreibt der Verfasser (S. 334) – „wäre unvollständig, würde sie nicht ein Blick in die Praxis seiner Anwendung begleiten. Ein solcher Blick belehrt aber schnell“ – fügt der Verfasser hinzu – „daß in Urteilen und Gutachten mit «Irrtum» alles Mögliche gemeint ist, kaum aber das, was die gemeinrechtliche Doktrin als «Irrtum beim Vertragsschluß» behandelte“. Der Rezensent hat hier allerdings Zweifel, ob die Schlußfolgerung des Verfassers zutreffend ist. Dieser schreibt nämlich (S. 335): „Offenbar wurde die Frage nach einem Irrtum bei Vertragsabschluß vor allem im Unterricht und in der Studierstube, nicht aber «in foro», gestellt“. Die Wahrheit ist, daß die gemeinrechtliche Justizpraxis bis heute kaum im einzelnen untersucht wurde. Voraussetzung hierfür wäre eine langwierige Auswertung von kaum erschlossenen gedruckten Sammlungen von Consilien und Urteilsrelationen. Dasselbe gilt für das massenhaft vorhandene, jedoch kaum erschlossene Archivmaterial in den einzelnen Gerichtsarchiven. Es ist dies in der Tat eine Hypothek, die noch auf die Forschungstradition der deutschen historischen Rechtsschule zurückgeht: die gemeinrechtliche kontinentale Rechtskultur wird heute noch weitestgehend als „Professorenrecht“ angesehen. Insoweit kann diese Bemerkung auch nicht als eine spezifische Kritik der vorliegenden Untersuchung verstanden werden. In der Privilegierung des rechtswissenschaftlichen Schrifttums und in der Vernachlässigung der Justizpraxis entspricht auch diese Monographie einer Forschungstradition, die bis heute – leider weitgehend ungebrochen - fortwirkt.

Was die einzelnen dogmatischen Probleme angeht, so beschränkt sich der Rezensent hier nur auf die Frage des Verhältnisses zwischen Irrtumsregelung einerseits und Haftung des Verkäufers wegen Gewährleistung andererseits. Die Analyse des Verfassers macht besonders deutlich, daß seit der Interpretation der römischen Quellen in der Schule der Glossatoren beide Gesichtspunkte in der gemeinrechtlichen Tradition eng verwoben erscheinen. Die gemeinrechtliche Literatur neigt offenkundig dazu, Fälle von Irrtum über die Sachsubstanz und über die Sachqualität als Gewährleistungsfälle zu behandeln. Man vergleiche hier etwa die Ausführungen zu den Autoren der spanischen Spätscholastik auf S. 134ff. Ist die erwartete Leistung mangelhaft oder kann sie aus bestimmten Umständen nicht erbracht werden, so hat die Vertragslehre zwei Ansatzpunkte, die enttäuschte Partei vor materiellen Verlusten zu schützen: „Sie kann an den Sachverhalt selbst, aber auch an den Irrtum über den Sachverhalt Rechtsfolgen knüpfen“ (so der Verfasser auf S. 158). Beide Gesichtspunkte sind bereits in den römischen Quellen auszumachen. Diese kennen neben Regeln über die anfängliche Unmöglichkeit der Leistung auch die Rechts- und Sachmängelhaftung und das Dogma der Vertragsnichtigkeit bei bestimmten Irrtümern der Parteien (zu diesem Thema siehe auch zuletzt M. J. Schermaier, in dieser Zeitschrift, Rom. Abt., 115 (1998), S. 235ff.). Die gemeinrechtliche Literatur argumentiert hier zweigleisig: Der Gesichtspunkt des Vertragsirrtums und der Gesichtspunkt der Gewährleistungshaftung werden bei den meisten Autoren des 17. und 18. Jh. vermengt (vgl. etwa die Ausführungen auf S. 192-196). Diese Behandlung des Problems setzt sich bis ins 19. Jahrhundert fort. Erst die willenstheoretische Irrtumslehre Friedrich Carl von Savignys hat die systematische Basis für die Unterscheidung des Irrtums in der Willenserklärung (der „ächte Irrthum“ bei Savigny) vom Irrtum in der Erklärung („unächter Irrthum“). Wie der Verfasser hier im einzelnen nachweist (S. 497ff.), führt diese Unterscheidung dazu, eine dogmatisch saubere Trennung von Irrtums- und Gewährleistungsrecht zu ermöglichen. Die gemeinrechtliche Justizpraxis im 19. Jahrhundert – auf die der Verfasser jedoch nicht eingeht – blieb allerdings recht uneinheitlich. Dies gilt bis nach Inkrafttreten des BGB (dazu zuletzt F. Ranieri, Kaufrechtliche Gewährleistung und Irrtumsproblematik: Kontinuität und Diskontinuität in der Judikatur des Reichsgerichts nach 1900, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, hrsg. von U. Falk und H. Mohnhaupt, 2000, S. 207-229).

In den Schlußfolgerungen seiner Arbeit nimmt der Verfasser zugleich noch einmal grundsätzlich Stellung zu den dogmatischen Erträgen dieser dogmengeschichtlichen Untersuchung. „Die dabei erzielten Ergebnisse“ – schreibt er (S. 699) – „lassen sich für die moderne Dogmatik mehrfach verwerten. Weil dieselben Sachverhalte in Vergangenheit und Gegenwart dieselben Interessenkonflikte erzeugen, können die zur Bewältigung dieser Konflikte eingesetzten Wertungen verglichen werden. Dabei wird man – für den Historiker selbstverständlich, für den Dogmatiker möglicherweise überraschend – häufig feststellen, daß die von der modernen Lehre aufwendig konstruierten Lösungen historische Vorgänger haben.“ Der Verf. knüpft damit an die Thesen seines Lehrers Theo Mayer-Maly an, über die „Wiederkehr von Rechtsfiguren“ mit einem „sehr begrenzten Vorrat“ an Lösungsmodellen für denselben Interessenkonflikt (so Th. Mayer-Maly, in: JZ 1971, S. 1, insb. S. 3). Auch später in seinem Epilog (S. 721) nimmt der Verf. entschieden zugunsten dieser Perspektive Stellung. „Nur wer das Ausmaß des Schatzes“ – schreibt er – „an möglichen Konfliktlösungen kennt, kann die Relativität der kodifizierten Lösungen einschätzen und anderen Wertungen gegenüber aufgeschlossen sein. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Dogmatik in der Behandlung des rechtgeschäftlichen Irrtums im Rahmen der europäischen Rechtsangleichung andere Wege gehen würde, als sie das BGB gegangen ist. Sicher aber würde sie mit Regelungen arbeiten, die in der europäischen Rechtsgeschichte ermittelt und erprobt wurden.“ Die Kritiker dieser Perspektive, etwa Wolfgang Wiegand und Thomas Giaro (Rechtshistorisches Journal 12, 1993, S. 277ff., insb. S. 280-284, sowie ebda., S. 344) werden mit dem Hinweis abgefertigt, daß deren Kritik „vom Unverständnis für die Aufgaben privatrechtlicher Dogmengeschichte [zeugt]“. Die Probleme liegen hier allerdings möglicherweise erheblich tiefer, und sie lassen sich nicht ohne weiteres mit einem schlichten Verweis auf die Kontinuität des heutigen europäischen Zivilrechts zu der gemeinrechtlichen Tradition bewältigen. Der Verfasser selbst schreibt (S. 700-701): „Trotz aller vermuteten Kontinuität der Probleme wie der zu ihrer Lösung entwickelten Modelle muß die gesetzliche Regelung des rechtsgeschäftlichen Irrtums Ausgangspunkt jeder Überlegung zum geltenden Irrtumsrecht sein. Das historische Argument kann diese Überlegungen nur dann unterstützen, wenn es sich im Normwortlaut widerspiegelt. Diese Vorgaben für eine anwendungsorientierte Dogmengeschichte“ – fügt der Verfasser hinzu – „unterstreichen aber zugleich die Rolle der historischen Interpretation für die moderne Dogmatik: Jede Gesetzesauslegung, auch eine, die vorgibt, nur teleologische Ziele zu verfolgen, muß beachten, wie der Gesetzgeber die betreffenden Normen verstanden hat und welche Freiräume er Lehre und Rechtsprechung zugestanden hat.“ Liegt hier nicht vielleicht eine allzu naive Sicht der Anwendung kodifizierter Normen zugrunde? Das historisch kodifizierte Privatrecht war und ist bis heute auch ein autonomes Argumentationssystem, wo Begrifflichkeit, Denkweise und juristisch spezifische Problementdeckung und -begründung eine zentrale Rolle spielen. Hier liegen vor allem die wesentlichen Kontinuitäten zu der Tradition des europäischen gemeinen Rechts. Zwei Jahrhunderte nach den ersten europäischen Kodifikationen ist für den heutigen Zivilrechtler mehr als deutlich geworden, daß das geltende kodifizierte Privatrecht in Kontinentaleuropa sich heute keinesfalls auf das geschriebene Normenmaterial beschränkt. Bei einer realistischen Sicht wird nämlich sichtbar, daß die geltenden Gesetzesbestimmungen heute in allen kontinentaleuropäischen Rechtssystemen nur ein Argument besonderer Dignität bei der Rechtsfindung darstellen, das Flußbett – m. a. W. - , innerhalb dessen die zivilistische Argumentation und Problementdeckung verläuft – mehr aber auch nicht. Vorverständnis, begriffliche Kategorien, Werturteile und die immense Masse der Präzedenten einer 100jährigen Justizpraxis kommen hinzu. In diesen historischen Zusammenhängen von Begrifflichkeit und Argumentationsweise liegen die wahren, tieferen Verbindungen des heutigen europäischen Zivilrechts zu der gemeinrechtlichen Tradition.

Das Buch, das übrigens durch zahlreiche Register (S. 725-789) hervorragend erschlossen und ausgestattet ist, stellt jedenfalls eine grundlegende Monographie zum Irrtumsrecht dar. Es fordert zum Nachdenken heraus, stellt eine Fundgrube von rechtshistorischen und dogmatischen Informationen dar und dürfte als künftiges Standardwerk zum Thema angesehen werden.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri