RanieriClavero20001113 Nr. 10235 ZRG 119 (2002) 55

 

 

Clavero, Bartholomé, Ama Llunku, Abya Yala: Constituencia indígena y Código Ladino por América (= Estudios Constitucionales). Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid 2000. 483 S.

 

Die ersten Wörter aus dem Titel des hier vorzustellenden Bandes stammen aus der andinischen Sprache „quichua“. Es handelt sich dabei um einen indianischen Dialekt der einheimischen andinischen Bevölkerung in Ecuador. Ein Satz aus derselben Sprache figuriert ebenfalls als Titel des Vorworts. Hier handelt es sich um einige Formulierungen aus der Übersetzung der neuen Verfassung von Ecuador aus dem Jahre 1998 in diese einheimische Sprache. Diese Hinweise sind nicht zufällig. Sie führen uns unmittelbar zu Inhalt und Zielsetzung der vier Studien, die der Verfasser im vorliegenden Band veröffentlicht. Es geht nämlich um das zentrale Problem, welche Rolle die einheimische indianische Bevölkerung bei der konstitutionellen und privatrechtlichen Gesetzgebung in Nordamerika und vor allem in Mittelamerika und Südamerika im 19. Jahrhundert gespielt hat. Mit der Emanzipations- und Unabhängigkeitsbewegung der ehemaligen europäischen Kolonien - dies gilt in gleicher Weise für die nordamerikanischen englischen Kolonien sowie für die spanischen Kolonialgebiete in Mittelamerika und Südamerika - beginnt zugleich eine Gesetzgebungsarbeit in den neu entstandenen Staaten. Verfassungen und Zivilgesetzbücher sind damals weitestgehend europäischen Modellen verpflichtet gewesen. Welche Rolle spielte in den Augen der damaligen amerikanischen Gesetzgeber die einheimische indianische Bevölkerung? Dieser Frage geht der Verfasser in vier ausführlichen Studien nach, die die Zeitspanne von zwei Jahrhunderten - von Anfang des 19. bis zum Ende unseres Jahrhunderts - umfassen. Diese Zielsetzung erläutert der Verfasser, Ordinarius für spanische Rechtsgeschichte, an der Universität Sevilla im Vorwort (S. 11-17). Von den vier Studien waren zwei bereits in einer verkürzten Fassung publiziert worden. Das erste Kapitel war bereits in Band 49 (1997) der Revista Española de Derecho Constitucional erschienen. Das dritte Kapitel war, allerdings in einer kürzeren Fassung, bereits als „Ley del Código: Transplantes y rechazos constitucionales por España y por América“, in: Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno, Band 23, 1994, S. 90-130, veröffentlicht worden.

Das erste Kapitel (S. 19-139) ist dem Thema gewidmet, inwieweit die konstitutionelle Verfassungsbewegung in Amerika Anfang des 19. Jahrhunderts einen eigenen und ursprünglichen Charakter hat. Ausgangspunkt sind die Thesen von Bruce Ackerman, We the People, vol. I, Foundations, vol. II, Transformations, Cambridge (Mass.) 1991-1998, 1, S. 3-33. Welche Rolle spielt die indianische Bevölkerung in den Augen der damaligen Verfassungsgesetzgeber? Clavero geht hier zunächst auf die damalige Diskussion in Nordamerika ein. Ein größerer Teil der Studie ist aber der konstitutionellen Bewegung in Mittelamerika und Südamerika gewidmet. So geht der Verfasser etwa (S. 27 ff.) auf die erste lateinamerikanische Verfassung, diejenige von Venezuela aus dem Jahre 1811, oder auf die Declaración de Derechos von Guatemala im Jahre 1839 ein. Die einheimische indianische Bevölkerung wird in allen lateinamerikanischen Verfassungen jener Jahrzehnte, aber auch in den konstitutionellen Texten der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, nicht als gleichberechtigter Teil der Bevölkerung angesehen. Die Geschäftsfähigkeit wird den Indianern regelmäßig versagt. Die einheimische Bevölkerung wird bestenfalls als Objekt der Fürsorge, der Kontrolle und der zivilisatorischen Erziehung angesehen. So heißt es in der venezolanischen Verfassung von 1963, heute noch theoretisch in Geltung, in Art. 67 beispielsweise: „Das Gesetz sieht Sonderregelungen vor, welche notwendig werden sollen zum Schutz der einheimischen Indianer und für deren sukzessive Einführung in das Leben der Nation“. Es ist offenbar erst nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten, daß die neuen lateinamerikanischen Verfassungen die Gleichberechtigung und die Eingliederung der indianischen Bevölkerung in das Rechtsleben ausdrücklich vorsehen. Der Verfasser stellt besonders hervor, daß dadurch die neuen lateinamerikanischen Verfassungen - etwa diejenige von 1992 in Mexico oder diejenige von 1993 in Peru - ausdrücklich die Pluralität der Zusammensetzung der Bevölkerung anerkennen und eine eindeutige Rechtsgleichheit der indianischen Bevölkerung verankern (vgl. etwa S. 38-43). Das zweite Kapitel (S. 73-139) ist derselben, bereits beschriebenen Problematik gewidmet. Hier geht es insbesondere um die Entwicklung der mexikanischen Verfassungsgeschichte seit den ersten Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch hier geht es vor allem um die Frage, welche Rolle und welche Stellung die indianische Bevölkerung der ehemaligen spanischen Kolonie nach den Vorstellungen der damaligen mexikanischen Gesetzgeber übernehmen sollte. Im Zentrum der Untersuchung steht hier das für die damalige Zeit zentrale Werk des mexikanischen Juristen Justo Sierra O’Reilly, Los Indios del Yucatán, (ed. Carlos R. Menéndez, Mérida 1955-1957), vol. II, Consideraciones históricas sobre la influencia del elemento indígena en la organización social del país (veröffentlicht in den Jahren 1848-1851). Die mexikanische Entwicklung wird von Clavero mit der gleichzeitigen rechtspolitischen Überlegung zur indianischen Bevölkerung in den damaligen Vereinigten Staaten von Amerika verglichen (vgl. S. 121ff.). Das dritte Kapitel (S. 141-233) ist der Einführung des Modells der französischen Zivilrechtskodifikation von 1804 in den lateinamerikanischen Republiken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Interessant sind hier etwa (S. 142ff.) die Hinweise auf die ersten Übersetzungen in die kastilianische Sprache des Code Napoléon (vgl. hier insbesondere die bibliographischen Hinweise auf S.147ff.). Art. 3 des französischen Code civil setzt bekanntlich die französische Staatsangehörigkeit fest. Den Verfasser interessiert hier, in welcher Weise dieser Grundsatz der „nationalité“ bei der Zivilrechtskodifikation in Lateinamerika übernommen wurde und insbesondere, in welchem Umfang darin die indianische Urbevölkerung dabei mitbedacht wurde. Die Gesetzgebungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zeigt hier wiederum eine lange Fortsetzung von ethnischen Diskriminierungen, die auch in den jeweiligen Zivilrechtskodifikationen die indianische Bevölkerung einer beschränkten oder weitestgehend inexistenten Rechts- und Geschäftsfähigkeit unterwarf. Der Beitrag geht allerdings auch auf die neuesten Entwicklungen, vor allem in Mexiko, ein. Besonders erwähnenswert ist hier der Abdruck einiger Teile einer regionalen Verfassung, derjenigen der Provinz Oaxaca (S. 212-218). In dieser mexikanischen Regionalverfassung wird nämlich erstmals eine Schutzgesetzgebung der Heimatrechte der indianischen Bevölkerung verfassungsrechtlich abgesichert. Dieses Kapitel enthält ferner außerordentlich zahlreiche Hinweise über die privatrechtliche Kodifikationsbewegung in den mittelamerikanischen und lateinamerikanischen Staaten des 19. Jahrhunderts. Das vierte Kapitel schließlich (S. 235-442) ist der Stellung der Kolonialbevölkerung bei den ersten konstitutionellen Verhandlungen in der spanischen Verfassungsgeschichte anläßlich der Cortes von Cadíz in den Jahren 1810-1813 gewidmet. Welche Rolle spielten bei den damaligen parlamentarischen Verhandlungen die Deputierten aus den Außenprovinzen? Bezeichnenderweise beginnt dieses Kapitel mit der Analyse einer Auseinandersetzung zwischen einem Parlamentarier aus der baskischen Region und den Cortes hinsichtlich der Legitimität von dessen Wahl. Im Zentrum der Darstellung stehen auch hier aber wiederum die lateinamerikanischen Provinzen des damaligen spanischen Kaiserreichs. Auch in den Vorstellungen der Verfassungscharta von Cadíz spielen die indianischen Volksstämme aus Lateinamerika keine Rolle. Bei der Definition der spanischen Staatsangehörigkeit und Nationalität werden bezeichnenderweise nur die Spanier beider Erdteile als Mitglieder der „nación española“ genannt (vgl. hier Art. 1 und 5 der Konstitution von Cadíz, nachgedruckt auf S. 320). Die Autonomien der einheimischen indianischen Bevölkerung wurden dabei bewußt aufgehoben und eingeschränkt (vgl. den Abdruck der Texte auf S. 356-358). In einem „epilogo“ (S. 443-474) werden die Ergebnisse der vier Studien zusammengefaßt. Der Band wird durch einen ausführlichen alphabetischen Index abgeschlossen (S. 475-483).

Will man den Ertrag der vier Studien, die hier versammelt worden sind, zusammenfassen, so kann man festhalten, daß Bartolomé Clavero hier eine eindrucksvolle Rekonstruktion der konstitutionellen Gesetzgebung in den mittelamerikanischen und lateinamerikanischen Staaten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert hat. Das Werk ist insoweit auch von großem Interesse für den nichtspanischen Leser, weil in den Beiträgen umfangreiche und wohl vollständige bibliographische Hinweise auf die neueste Literatur über die Privatrechts- und Verfassungsgeschichte der lateinamerikanischen Staaten nachgewiesen werden. Auch was die Kodifikationsbewegung in den lateinamerikanischen Republiken des 19. Jahrhunderts angeht, stellen die vier Beiträge, insbesondere das dritte Kapitel, eine Fundgrube von Informationen und bibliographischen Hinweisen dar. Für die jüngere lateinamerikanische Rechts- und Verfassungsgeschichte bedeutet die vorliegende Publikation insoweit ein wichtiges Referenzwerk, das nicht übersehen werden sollte.

 

Saarbrücken                                                                                                   Filippo Ranieri