OgrisVancaenegem20010116 Nr. 619 ZRG 119 (2002) 05

 

 

Van Caenegem, Raoul C., An Historical Introduction to Western Constitutional Law. Cambridge University Press, Cambridge 1995. X, 338 S.

 

Lehrbücher werden in dieser Zeitschrift üblicherweise nicht besprochen. Eine Ausnahme gebührt jedoch dieser historischen Einführung in das „westliche“ Verfassungsrecht, weil sie von Umfang und Zielsetzung her weit über die gängigen Leitfäden hinaus reicht. Obgleich naturgemäß die wichtigsten (west-)europäischen Staaten sowie die USA behandelt werden (müssen), vermeidet der Verfasser, Professor emeritus für mittelalterliche Geschichte und Rechtsgeschichte an der Universität Gent, ganz bewußt eine bloße Aneinanderreihung nationaler Verfassungsgeschichte(n). Vielmehr geht es ihm darum, den Konstitutionalismus westlicher Prägung als Gesamtphänomen in seinen wesentlichen Spielarten und wichtigsten Grundelementen darzustellen. Dabei erscheint die konstitutionelle Staatsform nicht als ein von Juristen geschaffenes Konstrukt, sondern als Produkt eines Jahrhunderte währenden Entwicklungsganges etwa nach dem Motto „Versuch und Irrtum“ (trial and error). Dementsprechend reicht der zeitliche Rahmen von der fränkisch-karolingischen Zeit über die Bildung des „modernen“ Staates im Mittelalter, dann über den klassischen Absolutismus zum bürgerlichen Nationalstaat und zum liberalen demokratischen Rechtsstaat des 19./20. Jahrhunderts. Dessen Um- und Ausformungen, aber auch Verwerfung, ja Pervertierung durch autoritäre Regimes (S. 247ff.) zeigen die Fragilität und Verwundbarkeit mancher konstitutioneller Errungenschaften, auf welche die westliche Welt so stolz ist. Der Rechtsstaat ist eben in jedem Augenblick und stets aufs neue zu verteidigen und auszubauen. Ein Epilog leitet von den historischen Perspektiven über zu den drängenden Fragen der Gegenwart, auch zu jener nach der verfassungsrechtlichen Gestalt eines vereinten Europas. Insofern ist dieser Streifzug durch eine Vielzahl von Verfassungsformen von höchster Aktualität. Er kann daher nicht nur Studenten der (europäischen) Rechtsgeschichte, sondern auch Politikern und Journalisten als Wegweiser bei der Suche nach einer europäischen Verfassungstradition dienen. Freilich: Die Frage, die Aristoteles einst stellte, nämlich jene nach der jeweils besten Verfassung für ein politisches Gemeinwesen, ist und bleibt weiterhin offen.

 

Wien                                                                                                                        Werner Ogris