MöhlerLudi20010112 Nr. 10061 ZRG 119 (2002) 58

 

 

Ludi, Regula, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750–1850 (= Frühneuzeitforschungen 5). bibliotheca academica, Tübingen 1999. 611 S. Abb.

 

Wir wollen doch nicht mehr Diebe fabrizieren, als erforderlich ist“ - dieses Zitat eines Berner Parlamentsabgeordneten aus dem Jahr 1835 steht programmatisch über der etwas voluminös geratenen, aber hervorragenden Dissertation von Regula Ludi. Im Zentrum ihrer rechtshistorischen Untersuchung (Diss. phil. Universität Bern 1997, Betreuer/in Beatrix Mesmer und Peter Blickle) stehen beide Aspekte, die in diesem zeitgenössischen Zitat angesprochen werden: zum einen die Frage der „Entstehung“ von Verbrechen, ihrer „Fabrikation“, zum anderen die Frage der „Notwendigkeit“ von Verbrechen, ihrer „Erforderlichkeit“. Der inhaltliche Aspekt des in den 1970er Jahren „modernen“, kriminologischen Erklärungsansatzes des „Labeling approach“ (Etikettierungstheorie) war bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts erkannt und diskutiert worden - eine der vielen interessanten Erkenntnisse aus dem hier vorzustellenden Werk zur „Geschichte der modernen Kriminalpolitik“.

Der zeitliche Schwerpunkt des Buches von Regula Ludi liegt in den hundert Jahren von 1750 bis 1850, der „Sattelzeit“ der europäischen Moderne mit ihren gewaltigen politischen (Französische Revolution), wirtschaftlichen und sozialen (Industrielle Revolution), aber auch kulturellen Veränderungen. Für den letztgenannten Bereich der Kulturgeschichte ist die Sprache einer der wichtigsten Indikatoren für den historischen Wandel. Die Autorin konnte bei ihrer Untersuchung zur Entstehung der „modernen Kriminalpolitik“ unter anderem auf die Erkenntnisse der sprachgeschichtlichen Forschung aufbauen, die in dem siebenbändigen Handbuch: „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart 1972-1997), in einer einzigartigen Fülle und Genauigkeit dargeboten werden. Für ihr Untersuchungsthema war dabei vor allem die Ablösung des Begriffs der „Verbrechen“ durch den neuen Kollektivsingular „Kriminalität“ bedeutend.

Das Buch gliedert sich in drei unterschiedlich große Teile: Im Teil I „Strafe“ (210 S.) geht Regula Ludi anhand des zeitgenössischen Schrifttums dem grundlegenden Wandel des öffentlichen Strafdiskurses von der frühneuzeitlichen Strafjustiz des Ancien Régime zum Entstehen der neuen, bürgerlichen Kriminalpolitik nach - von der Autorin als Paradigmenwechsel charakterisiert. Im Teil II „Kriminalpolitik“ (250 S.) untersucht sie diesen Wandel und die Umsetzung der theoretischen Debatten in die gesetzgeberische Praxis beispielhaft anhand des schweizer Kantons Bern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter Heranziehung archivalischer Quellen analysiert sie im dritten und letzten Teil „Justiz“ (63 S.) die alltägliche juristische Praxis des Strafgerichts Bern, um die Umsetzung des neuen Strafparadigmas „vor Ort“ nachzuprüfen. Dem angesichts des Umfangs der Arbeit relativ kurzen Schlussteil „Kriminalität und Moderne“ ist in lobenswerter Weise ein englisches Summary beigegeben. Mehrere Justizdaten-Tabellen zum Teil III, Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie ein Personen- und Ortsregister ergänzen den sehr lesefreundlich gestalteten Text.

Am Anfang stand die grundlegende Legitimationskrise der alten Strafjustiz. Das neue Strafkonzept von Montesquieu mit den Forderungen nach Gerechtigkeit und Effizienz richtete sich gegen die alltägliche Justizpraxis des Ancien Régime, gegen Barbarei, Despotismus und Ineffizienz. In der Öffentlichkeit wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts anlässlich von Justizskandalen die Grundlagen der überlieferten frühneuzeitlichen Strafjustiz angeprangert; Regula Ludi geht dabei intensiver auf die zeitgenössischen Kindsmorddebatten und zwei „populäre“ Justizskandale ein (der Fall „Calas“ und der zürcherische Fall „Waser“). Der neue, spätaufklärerische Strafdiskurs baute auf die großen Maximen von Freiheit und Vernunft auf; die zu gestaltende Zukunft rückte in den Mittelpunkt der Betrachtungsweise von Verbrechen. Rationalität und Gerechtigkeit sollten sowohl die Suche nach den Ursachen der Verbrechen, als auch die Verurteilung der Verbrecher und ihre Behandlung im Strafvollzug bestimmen. Für die liberalen Politiker war die „sozial-blinde Justitia“ durch formale Rechtsgarantien und die unveräußerlichen Menschenrechte gewährleistet und somit eine „Klassen-Justiz“ ausgeschlossen. Das Strafrecht des bürgerlichen Staates nahm den Charakter einer industriell-seriellen Güterproduktion an, die die massenhaften, einzelnen Verbrechen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung standardisierte und zu der vergleichbaren und messbaren sozialen Größe der „Kriminalität“ werden ließ. Den modernen, fortschrittlichen Staat sollte ein technizistisches Verständnis von Justiz auszeichnen, durch den die Kriminalität allmählich zurückgedrängt und schließlich durch die Auswirkungen der modernen Kriminalpolitik gänzlich zum Verschwinden gebracht werden würde.

Die neue, im Laufe des 19. Jahrhunderts institutionalisierte Justiz- und Kriminalstatistik sollte eigentlich als naturwissenschaftlich-objektiver Leistungsnachweis dienen. Sie wurde aber stattdessen zum Ausweis des Versagens der modernen Kriminalpolitik und zu einem der Anstöße einer Biologisierung der Verbrechensbekämpfung mit ihrem verbrecherischen Höhepunkt während des „Dritten Reiches“. Der festgestellte Kriminalitätsanstieg zerstörte die Fortschrittseuphorie, die Verbrechensfurcht wurde zur Obsession der bürgerlichen Gesellschaft. Für Regula Ludi war der Kriminalitätsanstieg allerdings ein hausgemachtes Problem, eine Folge der extensiven (Ausweitung der Sphäre strafbarer Handlungen, gesetzliche Produktion von neuen Tatbeständen) und intensiven (Verstärkung der staatlichen Kontrolle. Steigerung der Effizienz der Strafverfolgung, Erhöhung der Sensibilität der Bevölkerung gegenüber Nonkonformität) Kriminalisierung und somit ein Produkt der modernen Kriminalpolitik. Angesichts dieser Kontraproduktivität stellt sich für sie die Frage nach dem eigentlichen Antrieb: Die moderne Kriminalpolitik habe - so ihre These - einen über das eigentliche Strafrecht weit hinausgehenden herrschaftslegitimierenden und -stabilisierenden Effekt, sie ist gleichsam das Modell und Symbol der bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts.

Regula Ludi hat mit ihrer innovativen Untersuchung neue Sichtweisen auf die Geschichte der Entstehung der modernen Kriminalpolitik eröffnet und wichtige Hinweise zur „Ambivalenz der Moderne“ gegeben. Ob man allerdings den Wandel hin zur Biologisierung der Strafjustiz bereits um 1850 festmachen kann, ist mehr als fraglich. Gegen diese These steht nicht zuletzt die Existenz der modernen, soziologischen Strafrechtsschule von Franz von Liszt und der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, die erst ein halbes Jahrhundert später den entscheidenden Beitrag zur eigentlichen, umfassenden Ausprägung der „modernen Kriminalpolitik“ leistete. Diese kritische Anmerkung soll aber den hervorragenden Eindruck dieses Buches nicht schmälern. Die rechtsgeschichtliche Dissertation von Regula Ludi ist als Band 5 der historischen Schriftenreihe „Frühneuzeit-Forschungen“ erschienen; ihr sind - gerade wegen des begriffsgeschichtlichen Zugriffs - auch viele rechtswissenschaftliche Leser und Leserinnen zu wünschen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Rainer Möhler