LacourNewmethods20001223 Nr. 10297 ZRG 119 (2002) 02

 

 

New Methods for Social History, hg. v. Griffin, Larry J./Van der Linden, Marcel (= International Review of Social History Supplement 6). Cambridge University Press, Cambridge 1999. 165 S.

 

Der Sammelband schließt eine schmerzlich klaffende Lücke. Er weist überzeugend nach, dass die Anwendung verschiedener, aus den Sozialwissenschaften stammender Methoden die historischen Wissenschaften voranbrächte. Die Herausgeber haben sich das Ziel gesetzt, „Historiker in eine Reihe für die historische Forschung wirklich nützlicher — und doch zu wenig oder gar unberücksichtigter — (...) sozialwissenschaftlicher Methoden einzuführen“ (S. 3). Doch als Einführung taugt der Band leider nur sehr eingeschränkt. Er setzt mehr als oberflächliche Kenntnis herkömmlicher statistischer Verfahren voraus.[1] Sowohl die Herausgeber als auch die Beiträger sind fast alle an nordamerikanischen sozialwissenschaftlichen Instituten tätig und scheinen sich nicht darüber im Klaren zu sein, wie groß das Defizit unter Historikern immer noch ist, obwohl zunehmend mit Zahlen hantiert wird.

Positiv fällt auf, dass die vorgestellten Verfahren anhand von Beispielen aus der sozialhistorischen Forschung erläutert werden. Die Autoren kennen die methodischen Probleme aus eigener Arbeit, die manche statistischen Verfahren bei ihrer Anwendung in der Geschichtswissenschaft mit sich bringen, scheuen sich nicht vor bissiger (und sehr berechtigter) Kritik an der eigenen Zunft und schlagen Lösungswege vor. Dies betrifft z. B. die Zeit­reihenanalyse, eine ungeeignete Methode, wenn es darum geht, sich im Zeitverlauf ändernde Beziehungen zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen zu erfassen. Larry Isaac, Larry Christiansen, Jamie Miller und Tim Nickel stellen das Verfahren der „Temporally Recursive Regression“ vor, das darauf beruht, anstelle eines Regressionskoeffizienten pro unabhängiger Variable mehrere Koeffizienten für jeweils verschiedene vorwärts oder rückwärts sowie diagonal verschobene Zeitrahmen zu berechnen. Das Verstehen des Beitrages setzt jedoch zumindest ungefähre Kenntnis der multiplen Regressionsanalyse voraus.

Holly McCammon ist der Balanceakt, nicht nur Banales, sondern Neues zu vermitteln, dies aber gleichzeitig auf möglichst verständliche Art und Weise, etwas besser gelungen. Der Aufsatz über die „Event History Analysis“ verlangt wenig Vorwissen, obwohl eine Vorstellung davon, was eine logistische Regression ist, das Verständnis erleichtert. Hier geht es darum, die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt eintritt, mit verschiedenen Einflussgrößen (als unabhängigen Variablen) in Beziehung zu setzen.

Eine dritte innovative Möglichkeit der Anwendung des regressionsanalytischen Verfahrens stellen Glenn Deane, E. M. Beck und Stewart Tolnay vor. Das Modell der räumlichen Effekte („Spatial-Effects Model“) ermöglicht die exakte Untersuchung der räumlichen Ausbrei­tung eines Phänomens, vor allem lässt sich der Einfluss von Ansteckung oder Abschreckung durch ein Ereignis in einer benachbarten oder entfernteren Region im Verhältnis unabhängig von anderen Variablen genau quantifizieren.

Die vier folgenden Beiträge liegen dem an interpretierende Verfahren gewohnten Historiker sicherlich näher. Roberto Franzosi stellt seine linguistische Inhaltsanalyse vor, die besonders geeignet ist, um Texte zu erschließen, die Handlungen von Akteuren schildern. Nach dem Modell „Subjekt, Handlung, Objekt“ werden die Texte kodiert, wobei die verschiedenen Personen und ihre Handlungen zu übersichtlichen Kategorien zusammengefasst werden. Dadurch lässt sich auch bei größeren Textmengen klar ermitteln, wer sich wem oder was gegenüber wie verhält. Das Ergebnis kann man leicht grafisch darstellen. Wünschenswert wäre nun die Weiterentwicklung des Verfahrens in quantitativer Hinsicht etwa mittels des Modells der bedingten Wahrscheinlichkeit.

Charles Ragin stellt eine auf Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik beruhende qualitativ-komparatistische Methode („Qualitative Comparative Analysis“) vor, die der Unter­suchung dient, ob die Kombination bestimmter Faktoren (Variablen) bestimmte Wirkungen (Effekte) erbringt. Der gut nachvollziehbare Ansatz wäre noch einfacher verständlich, hätte der Autor den exakten Test zur Berechnung des Signifikanzniveaus, der bei kleinen Stichproben angewandt werden muss (S. 116), beim Namen genannt: Gemeint ist hier der Binomialtest.

Charles Wetherell präsentiert ein Verfahren zur Analyse sozialer Netzwerke („Historical Social Network Analysis“), das eine äußerst ergiebige Erweiterung historisch-demographischer Forschung werden könnte. Seine Untersuchungen im Baltikum des 19. Jahrhunderts fördern spannende Ergebnisse zutage: etwa dass die Chance, lebende Geschwister zu haben nie höher als war 70% und bereits ab dem 43. Lebensjahr stark abzufallen begann, während die Wahrscheinlichkeit, einen Ehegatten zu besitzen noch bis zum 50. Lebensjahr bei 80% lag und erst danach abnahm. 40% der Menschen besaßen entferntere Verwandte, rund 20% der Haushaltsvorstände und unter 5% der Knechte und Mägde lebten mit solchen Personen zusammen. 80% der jungen Frauen bis zum Alter von 30 Jahren wohnten aber mit gleichaltrigen Frauen im selben Haushalt, so dass die Gelegenheit gut war, Freundschaften zu schließen; dies galt jedoch nur für knapp 60% der jungen Männer. Jenseits des 55. Lebensjahres fiel die Wahrscheinlichkeit, mit Menschen gleichen Alters und Geschlechts zusammenzuleben schnell ab, für Frauen stärker als für Männer. Insgesamt kommt der Verfasser zu dem Schluss, die Historische Netzwerkanalyse widerlege die verbreitete Auffassung von der überragenden Bedeutung eines großen Netzes von Verwandtschafts­beziehungen in traditionellen ländlichen Gesellschaften.

Larry Griffin und Robert Korstad beschließen den Band mit einem Beitrag über die „Event-Structure Analysis“. Auch dieses Verfahren konzentriert sich auf Akteure und Handlungen und zwingt den Forscher, bei der Interpretation „die präzise Entwicklung eines Ereignisses“ (S. 146) zu rekonstruieren und genau über verursachende Faktoren nachzudenken. Ziel ist die Erstellung eines Diagramms, das die einzelnen Handlungen und Ereignisse verbindet und kausale Aussagen macht. Problematisch ist allerdings, dass die vom Computerprogramm ETHNO gestützte Erstellung des Diagramms eine Objektivität vortäuscht, die gar nicht vorhanden ist. Denn das Ergebnis wird allein vom Wissen und der Erfahrung, aber auch den subjektiven Ansichten des Forschers bestimmt. Die Einschätzung, ob eine bestimmte Handlung kausal für ein historisches Ereignis oder eine andere Aktion verantwortlich war oder nicht, muss zwar ausführlich begründet werden; doch wäre es nicht das erste Mal, dass eine Schule eine solche Kette von Kausalbeziehungen ganz anders konstruiert als eine andere.

 

Anschau                                                                                                        Eva Lacour



[1] Aus Sicht der Rezensentin als Einstieg geeignet ist das hinsichtlich mathematischer Vorkenntnisse auf Abiturniveau ansetzende Buch: Josef Bleymüller, Günther Gehlert, Herbert Gülicher, Statistik für Wirtschaftswissenschaftler, München 1998. Tiefere und weiter gehende Einsichten vermittelt: Peter Bohley, Statistik. Einführendes Lehrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, München 1996.