HensslerFortitudo20010906 Nr. 10258 ZRG 119 (2002) 87

 

 

Fortitudo temperantia. Die Rechtsanwälte am Reichsgericht und beim Bundesgerichtshof – Ein Rückblick – Festgabe zu 50 Jahren Bundesgerichtshof, hg. v. d. Verein der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte e. V. Beck, München 2000. XII, 361 S.

 

I. Welch ein Jubilar, der sich rühmen kann, bereits zu dem eher unüblichen frühen Zeitpunkt eines 50. Geburtstages mit nicht weniger als vier Festschriften bedacht zu werden! Die vier dem Bundesgerichtshof zu diesem Jubiläum zugedachten Festgaben variieren in Autorenkreis und thematischer Ausrichtung: Richter und Bundesanwälte am BGH erörtern in ihrer Schrift Schwerpunktprobleme der jüngeren BGH-Rechtsprechung (Geiß/Nehm/Brandner/Hagen (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, Heymanns-Verlag, Köln). Eine weitere - in ihrem Umfang bislang beispiellose - Festgabe ist aus dem Kreis der Wissenschaft beigesteuert worden. Das vierbändige Werk (Canaris u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof: Festgabe aus der Wissenschaft, C. H. Beck-Verlag, München) befaßt sich mit einer fast unüberschaubaren Fülle von Rechtsproblemen und legt einen Schwerpunkt auf die Nachzeichnung des Einflusses des BGH bei der Entwicklung einzelner Rechtsgebiete. Mit einem gewissen Augenzwinkern haben sich ferner die wissenschaftlichen Mitarbeiter des BGH mit einer eigenen Festschrift beteiligt (Herz/Freymann/Vatter (Hrsg.), HIWI 2000, Alma-Mater-Verlag, Saarbrücken), die nach eigenem Bekunden keinen wissenschaftlichen Anspruch hat, sondern einen Einblick in die Arbeit und den Alltag am höchsten deutschen Zivil- und Strafgericht vermitteln soll.

II. 1. Die hier zu besprechende Festgabe Fortitudo Temperantia ist der Beitrag der Anwaltschaft, die es sich zu Recht nicht nehmen lassen wollte, ein eigenes Werk aus Anlaß des Jubiläums des BGH beizusteuern. Herausgegeben vom Verein der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte, befaßt sich das Werk ausschließlich mit Fragen der gerne und durchaus zutreffend als „klein, aber fein“ bezeichneten Anwaltschaft beim BGH. Der Vereinsvorsitzende Gross weist im Geleitwort des Herausgebers darauf hin, daß die Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof nicht der Versuchung erlegen sind, mit eigener Feder den Platz zu bestimmen, den sie nach einem halben Jahrhundert heute einnehmen. Konsequent verzichtet die Festgabe auf eine aktuelle Standortbestimmung und begnügt sich bewußt mit einer ausschließlich historischen Ausrichtung. Der wissenschaftlich interessierte Leser findet daher in der Festschrift einen reichen Fundus an rechtshistorischen Beiträgen. Vergeblich sucht er dagegen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der durchaus nicht unumstrittenen gesetzlichen Regelungen zur Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof in den §§ 162ff. BRAO. Im Zuge der Aufhebung der Singularzulassung durch das Bundesverfassungsgericht ist die Zukunft der BGH-Anwaltschaft erneut Spekulationen ausgesetzt. Auch wenn der Berufsrechtler dies bedauern wird, so erscheint die Selbstbeschränkung doch weise; vor dem Hintergrund der Herausgeberschaft und insbesondere des Anlasses wäre eine aktuelle Auseinandersetzung etwa mit der nach wie vor umstrittenen Frage der Verfassungskonformität des Verfahrens der Wahl von BGH-Anwälten und insbesondere der Regelung des § 178 Abs. 2 BRAO problematisch gewesen. Eine Ausstrahlung auf diese Diskussion haben die historischen Beiträge durchaus, wenn auch in subtiler Form.

2. So gibt sich die Festschrift damit zufrieden, die Sonderstellung, die bereits früher die Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht und heute die Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof eingenommen haben, historisch nachzuzeichnen. Charakteristisch für diese Sonderstellung ist, daß das Prinzip der freien Advokatur für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft bei dem obersten Zivilgericht (Bundesgerichtshof und Reichsgericht) durchbrochen ist. Nicht jeder bestimmte objektive oder subjektive Kriterien erfüllende Prätendent hat einen Anspruch auf Zulassung. Während zu Zeiten des Reichsgerichts die Entscheidung im freien Ermessen des Präsidiums des Reichsgerichts stand, erfolgt die Zulassung zum BGH heutzutage aufgrund einer Benennung durch einen Wahlausschuß, dem auch die Entscheidung über die angemessene Zahl der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof übertragen ist (§ 168 Abs. 2 BRAO). Die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte spiegelt diese Zulassungspraxis wider: Sowohl bei Gründung des Reichsgerichts als auch im Jahr seines 25jährigen Jubiläums 1904 waren lediglich 21 Anwälte zugelassen, bei der 50-Jahr-Feier 1929 22 Rechtanwälte. Beim Bundesgerichtshof sind gegenwärtig – nach einem „Zulassungsschub“ im Juni 2000 – 35 Anwälte tätig. Die Zahl der insgesamt zugelassenen Anwälte in den 50 Jahren der Existenz des Bundesgerichtshofs beträgt daher summa summarum nur 66.

III. Daß das rezensierte Werk keine Festschrift im üblichen Sinne ist, zeigt ein Blick auf die Auswahl der aufgenommenen Beiträge. Es handelt sich fast durchgängig um Nachdrucke von zwischen 1914 und 1996 in Zeitschriften und anderen Festschriften bereits veröffentlichten Beiträgen, die aufgrund ihrer thematischen Befassung mit der Anwaltschaft beim BGH in der Festgabe zusammengefaßt worden sind. Aufgrund dieses Auswahlprinzips enthält das Werk einen wahren Schatz an interessanten und zum Teil höchst unterhaltsamen Abhandlungen aus neun Jahrzehnten.

1. An die Spitze gestellt ist ein bereits in der Juristischen Wochenschrift des Jahres 1914 veröffentlichter Beitrag des damaligen Rechtsanwalts am Reichsgericht Julius Haber, in dem dieser vehement die Durchbrechung des Prinzips der freien Advokatur durch die Schaffung einer besonderen Anwaltschaft beim Reichsgericht verteidigt – Ausführungen, die im Lichte der nicht verstummen wollenden Auseinandersetzungen zu diesem Konzept eine nach wie vor gewinnbringende Lektüre sind. Zeitlich noch weiter zurück liegt die Erstveröffentlichung des sich anschließenden Beitrages eines Kollegen von Haber, Johannes Boyens, aus dem Jahr 1904. In sehr bildlich/anschaulicher Sprache werden hier vor allem die bis zu diesem Zeitpunkt am Reichsgericht tätig gewordenen Anwaltskollegen vorstellt. Eine ebenso vergnügliche und durch eine lebhafte Sprache gewürzte Skizze der Protagonisten der RG-Anwaltschaft zeichnet der aus Anlaß des 50-jährigen Jubiläums des Reichsgerichts 1929 verfaßte Beitrag von Axhausens, der den ersten Abschnitt der Festgabe mit Beiträgen zur Anwaltschaft am Reichsgericht beschließt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über die Reform der Zivilprozessordnung und insbesondere des Rechtsmittelrechts, bietet die Schilderung der diversen Änderungen des Revisionsrechts zu Beginn des Jahrhunderts und ihrer Auswirkungen auf die Tätigkeit der Anwaltschaft eine gewinnbringende Lektüre.

2. In dem sich anschließenden Abschnitt über die Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof finden sich neben vor allem rechtshistorisch angelegten Beiträgen zur Entwicklung der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof von Schneider und von Stackelberg Beiträge, die in erster Linie den Prozessualisten ansprechen werden. Sowohl der (weitere) Aufsatz von Schneider „Einfluß und Aufgaben der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof“ als auch die Abhandlung von Philipp Möhring und Rudolf Nirk zur mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz sind lesenswerte Nachdrucke aus der Festschrift „25 Jahre Bundesgerichtshof“ aus dem Jahr 1975. Während Schneider anschaulich die Arbeitsweise und Überlegungen des Revisionsanwalts im Zuge der Bearbeitung einer Revisionssache nachzeichnet, befassen sich Möhring/Nirk mit der Grundlagenfrage der besonderen Bedeutung des Mündlichkeits­prinzips in der Revisionsinstanz, in der es fast ausnahmslos um die Beurteilung von Rechtsfragen und nicht mehr um die Tatsachenfindung geht. Sie begründen die besondere Bedeutung der Mündlichkeit gerade vor der obersten zivilgerichtlichen Instanz mit deren Aufgabe einer schöpferischen Rechtsfindung. Das thematisch „heiße Eisen“ der Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof wird nicht völlig ausgespart. Das Thema wird in der Festgabe durch den Abdruck eines Beitrags von Schimansky aus der Festschrift für Walter Odersky aus dem Jahre 1996 aufgegriffen. Zu einem heftigen Schlagabtausch über diese Thematik war es kurz vor der Abfassung des Beitrags im Jahr 1994 gekommen, als sich mehrere Anwälte aus dem Kreis der BGH-Anwaltschaft publizistische Scharmützel mit prominenten Berufsrechtlern und Kritikern des gegenwärtigen Systems der Durchbrechung der freien Advokatur beim BGH lieferten. Schimansky, nicht zum Kreis der BGH-Anwaltschaft gehörend, spricht sich, wie viele Richter beim BGH, für die Beibehaltung der BGH-Anwaltschaft heutiger Prägung aus. Die sich anschließenden Beiträge des zweiten Hauptabschnitts der Festgabe zählen eher zur Kategorie der kurzweiligen „leichten Lektüre“, so etwa Porträts des Rechtsanwalts am Reichsgericht und Richters am Bundesgerichtshof Georg Benkard durch Hans Bock und Philipp Möhrings durch Käthe Nicolini. Aus der Feder des gegenwärtigen Vorsitzenden des Vereins der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof, Norbert Gross, stammt ein unterhaltsamer Beitrag zu den Hintergründen der roten Robe der BGH-Anwälte. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit einem journalistischen Aufsatz aus der Süddeutschen Zeitung des Jahres 1989 von Helmut Kerscher, der vergnügliche Anekdoten aus dem Alltag der BGH-Anwälte enthält.

3. Der dritte Hauptabschnitt, betitelt „Die europäischen Vettern“, befaßt sich mit den Anwaltschaften bei den obersten Gerichtshöfen einiger europäischer Nachbarstaaten. Die Beiträge sind von prominenten Anwälten aus Frankreich, Belgien, Großbritannien, den Niederlangen und Italien verfaßt (Jean Barthélemy, Thomas Delahaye, Jonathan Hirst, Sicco v. Langeveld, Hanns Egger). Sie zeichnen, mit Ausnahme jenes aus England, der mehr einen generellen Überblick über den Berufsstand des barristers gibt, ein Bild ganz unterschiedlicher Konzepte der Anwaltschaft beim obersten Gerichtshof des jeweiligen Landes. Frankreich und Belgien kennen eine durch Gesetz geschaffene, exklusive Anwaltschaft beim Cour de Cassation und beim Conseil d’Etat, während sich in den Niederlanden eine kleine spezialisierte Anwaltschaft als „Kassationsbalie“ beim Hoge Raad herausgebildet hat. Egger beschreibt das italienische Gegenkonzept, aufgrund dessen beim italienischen Kassationshof annähernd 30.000 avvocati postulationsfähig sind – nicht ohne die hiermit verbunden Probleme deutlich werden zu lassen.

4. Dem internationalen Teil der Festgabe schließt sich ein mehr als 150seitiger Anhang an, in dem sich viele interessante und für wissenschaftliche Recherchen hilfreiche Informationen finden. So sind die Materialien zur Rechtsanwaltsordnung von 1878 in den für die Thematik relevanten Passagen abgedruckt. Enthalten sind ferner Wiedergaben der Korrespondenz zur Einführung der Amtstracht der Rechtsanwälte am Reichsgericht aus dem Jahr 1879 nebst farbigen Zeichnungen dieser Amtstrachten. Den Schluß des Werkes bildet eine Liste sämtlicher Rechtsanwälte am Reichsgericht und am Bundesgerichtshof in der Zeit von 1879 bis zum Jahr 2000.

IV. Die Festgabe Fortitudo Temperantia – das dem Hauptportal des Erbgroßherzoglichen Palais in Karlsruhe entlehnte Motto der BGH-Anwaltschaft - ist aufgrund ihrer Konzeption vor allem ein interessanter Lesestoff, der keinen Anspruch auf eine erschöpfende oder gar thematisch allumfassende Abhandlung erhebt. Sie bietet aufgrund der reichhaltigen historischen Informationen, die in ihr aufgespürt werden können, zugleich sehr wertvolles Material für die aktuelle Diskussion über die Anwaltschaft beim BGH. Ohne Verständnis der Herkunft keine Zukunft! Möge die Festgabe dazu beitragen, dass die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Singularzulassung aufgeflammte Diskussion um die Zukunft der BGH-Anwaltschaft mit Sachverstand und Weitblick geführt wird.

 

Köln                                                                                                              Martin Henssler