CordesGemeinde20010808 Nr. 1176 ZRG 119 (2002) 00

 

 

Gemeinde, Reform und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle zum 60. Geburtstag, hg. v. Schmidt, Heinrich R./Holenstein, André/Würgler, Andreas. bibliotheca academica, Tübingen 1998, XVI, 512 S.

 

Peter Blickle und der Kommunalismus - selten kann ein Wissenschaftler so klar mit einer geglückten Begriffsbildung assoziiert werden wie der Berner Historiker und sein Konzept einer Geschichte von unten, die dem Anteil des „gemeinen Mannes“ an der Erschaffung des modernen Europas Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Zu seinem 60. Geburtstag wurde Blickle eine Festschrift gewidmet, deren Titel die drei wichtigsten Teilgebiete von Blickles Forschungsfeld benennt. Den Herausgebern ist das Kunststück gelungen, drei etwa gleich große Gruppen von Beiträgen einzuwerben und die meisten Autoren auf Blickles Fragestellungen zu verpflichten – ein Beleg für die vielfältigen Anregungen, die von Blickles Ansatz ausgehen. So ist eine Festschrift entstanden, die trotz ihrer 33 Autoren aus neun Ländern ein erstaunlich homogenes Bild bietet. Regionale, quellennahe Fallstudien zu den drei Bereichen prägen den Charakter der meisten Beiträge; der letzte Aufsatz jedes Teils trägt jeweils Übersichtscharakter.

Das kurze Vorwort verdient Beachtung, weil es einer annotierten Auswahlbibliographie gleich einen hilfreichen Wegweiser für den Einsteiger in Blickles umfangreiches Schrifttum bietet.

Unter dem Titel „Gemeinde und Kommunalismus“ sind regional orientierte Studien versammelt. David Sabean stellt württembergische Dorfgerichtsprotokolle als Quellengruppe vor. Hartmut Zückert, Evamaria Engel und Peter Weber erproben Blickles These von einem positiven Beitrag des „gemeinen Mannes“ am Aufbau des frühneuzeitlichen Staates an ost- und westdeutschen Regionen. Beat Kümin, Steinar Imsen und Eva Österberg finden in England, Norwegen und Schweden wenig Spuren des von Blickle postulierten Antagonismus. In Skandinavien scheint Konsens überwogen zu haben, in den englischen Kirchengemeinden der Staat zu übermächtig gewesen zu sein. Vielleicht ist Blickles Kommunalismus ein spezifisch mitteleuropäisches Phänomen. André Holenstein geht von einem zentralen Anliegen Blickles aus, das dieser vor allem in seinen Studien über die „Revolution von 1525“ thematisiert hat: den oft schwer fassbaren, aber eben doch existenten inhaltlichen Konzepten des „gemeinen Mannes“. Dabei kann er zeigen, dass in den typischen Konfliktverläufen die Verteidigung wohlerworbener Rechte eine Rückzugsposition sein kann, weil Gemeinwohlargumente, welche die „Untertanen“ anfangs durchaus auch einsetzten, von der Herrschaft besetzt wurden. Lothar Gall schließlich argumentiert, dass die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht ohne wesentlichen Beitrag des städtischen Bürgertums zustande gekommen sein kann.

Der zweite Teil trägt den Titel „Reformation und Konfession“. Hans-Jürgen Goertz untersucht die Verwendung der Reizwörter „Bruder“ und „Brüderlichkeit“ und sieht den Zusammenhang zwischen Kommunalismus und Reformation, einem weiteren wichtigen Anliegen Blickles, bestätigt. Thomas Albert referiert – rechtshistorisch von besonderem Interesse – die Kritik des gemeinen Mannes an der geistlichen Gerichtsbarkeit, besonders an ihrer zu umfassenden Zuständigkeit und an der exzessiven Verhängung des Kirchenbanns für ganz weltliche Dinge wie etwa nicht bezahlte Schulden. Günter Vogler und Thomas Brady bemühen sich um Klärung von Fakten der Mühlhäuser und der Straßburger Geschichte um 1524/25. Werner Troßbach lenkt den Blick auf den sonst kaum beachteten Verlauf von Reformation und Bauernkrieg in Pommern und im Baltikum. Peter Rusterholz trägt eine Forschungsgeschichte des Zusammenhangs zwischen Fastnachtsspielen und Reformation bei. Immacolata Saulle-Hippenmeyer findet Bestätigung dafür, dass die Reformation durchaus nicht nur in den Städten vorangetrieben wurde und unterstützt damit ein weiteres wichtiges Anliegen Blickles, der seit langem eine Zusammenschau von Stadt- und Landgemeinden fordert. Dann aber bietet sie Gegenbeispiele aus Graubünden zu der These, dass Gemeinden, die sich früh kommunal verfasst hätten, eher zum Protestantismus geneigt hätten. Außerdem bezweifelt sie in ihrem besonders gelungenen Beitrag, dass die zunehmende Konfessionalisierung vor allem obrigkeitliche Politik gewesen wäre. In den sehr autonomen Gemeinden in Graubünden sorgten die Dörfer selbst für eine immer schärfere Abgrenzung. Beat Hodler sieht in der Möglichkeit von Konfessionswechseln im 17./18. Jahrhundert einen durchaus beträchtlichen Handlungsspielraum auf der Seite des „gemeinen Mannes“ und belegt die relative Häufigkeit solcher Konversionen. Peter Hersche erblickt in der süditalienischen Kirchenverfassung der „chiesa ricettiza“, die ihre Autonomie vor den tridentinischen Reformen bewahren konnte und in die man wie in einen exklusiven Verein aufgenommen werden musste, einen Idealtypus einer kommunal und laizistisch bestimmten Kirchengemeinde. Heinrich Richard Schmidt beschließt den zweiten Teil, indem er eine Entwicklungslinie von der Gemeinde als sakralem und politischem Körper über die Bundestheorie hin zum modernen Gesellschaftsdenken und zur Demokratie zieht. Neben dem Effekt der „Sozialdisziplinierung“ hatte danach die Reformation durchaus auch demokratische Implikationen.

Der dritte Teil ist weniger geschlossen als die ersten beiden. Er bietet unter dem Titel „Widerstand und Ständegesellschaft“ eine Reihe von einschlägigen Fallstudien, die aber den schillernden und vieldeutigen Begriff des Widerstands nicht mehr problematisieren. Er scheint in der Geschichtsforschung inzwischen fest mit der Gesamtheit von Auseinandersetzungen zwischen Herrschaft und Bevölkerung verbunden zu sein – unabhängig von den Formen und Ergebnissen dieser Auseinandersetzungen. In diese Gruppe gehören Tom Scott und Kaspar von Greyerz mit elsässischen Themen. Winfried Schulze belegt an einem Beispiel aus der Landgrafschaft Klettgau am Hochrhein den Zusammenhang zwischen solchen Unruhen und der Entstehung einer Landes- und Polizeiordnung. Claudia Ulbrich kann die vielzitierte Heggbacher Chronik, in der die Gefährdung eines oberschwäbischen Nonnenklosters aus der Sicht einer Ordensschwester geschildert wird, mit Hilfe der Überlieferungsgeschichte in ein neues Licht stellen. Hugues Neveux zeigt in einem reizvollen Beitrag, wie Tschudis Darstellung der Gründungsgeschichte der Schweiz aus den Jahren 1569/70 Motive aus den jüngsten Aufständen einfließen lässt und so historische Darstellung und eigene politische Erfahrung des Autors eine einflussreiche Verbindung eingehen. Wim Blockmanns schildert die (vor allem durch den kollektiven Kampf um Trockenlegung des Landes) starke Position der niederländischen Viehbauern gegenüber der entstehenden staatlichen Verwaltung. Catherine De Kegel-Schorer berichtet von Überlegungen vom Ende des 15. Jahrhunderts zu einer Vertretung der Bauern auf dem Reichstag, für die es – etwa im Falle der Reichsdörfer – durchaus Ansatzpunkte gegeben hätte. Schließlich wurden im dritten Teil noch vier wirtschaftsgeschichtliche Aufsätze (Christian Pfister über Witterungstagebücher, Wolfgang von Hippel über die Wirtschaft des oberschwäbischen Klosters Schussenried, Rudolf Endres über frühe Ansätze zu einer bäuerlichen Altersvorsorge, Jan Mathieu mit einer Reflexion über den Begriff „Agrarverfassung“) und ein Erfahrungsbericht über die Rolle von Blickles Thesen im schulischen Geschichtsunterricht von Franziska Conrad untergebracht.

Den Abschluss des Bandes bildet Hans Maiers Zusammenfassung der Thesen einer frühen, inzwischen in einer Neuedition vorliegenden Verfassungsschrift von Hegel, ein Beitrag, den leider niemand in der Blickleschen Festschrift vermuten wird. „Diese dritte universale Gestalt des Weltgeistes“ aus dem Titel des Aufsatzes ist übrigens das deutsche Volk, das nach Hegel mit seinem repräsentativen System in die Mitte zwischen „dem orientalischen Despotismus und der Herrschaft einer Republik über die Welt“ geführt worden ist. Blickle und seine einflussreiche Schule haben dafür gesorgt, dass der Anteil des vom absolutistischen Staat (und einer auf ihn fokussierten Geschichtsschreibung) zum Untertanen herabgestuften „gemeinen Mannes“ an dieser Repräsentation und damit am Aufbau der Moderne – in weltlichen und geistlichen Dingen, in Stadt und Land – künftig nicht mehr ignoriert werden kann.

 

Frankfurt am Main                                                                                          Albrecht Cordes