WeinachtTieck20000914 Nr. 1168 ZRG 118 (2001)

 

 

Tieck, Klaus-Peter, Staatsräson und Eigennutz. Drei Studien zur Geschichte des 18. Jahrhunderts (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 13). Duncker & Humblot, Berlin 1998. 218 S.

Unter zwei knappen Titelbegriffen hat der Verfasser drei Studien versammelt: zwei zur Sozialgeschichte Deutschlands bzw. Preußens und eine zu der des Vizekönigtums von Neapel. Die Leitmotive der Untersuchung kommen bald einzeln, bald zusammen zur Geltung: die politisch-ökonomischen Ideen der Physiokraten und Merkantilisten, die Vertreter des modernen Vernunftrechts in Deutschland und in Italien (Galiani) und die neue Autorität einer streng rationalen Theologie (Newton). Der Verfasser hat seine Forschungen im Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Hochschule Darmstadt (1996) als Promotionsarbeit vorgelegt. In Vorwort und Einleitung macht er geltend, daß „die hier veröffentlichten Studien ... in zeitlichen Abständen voneinander ...  entstanden“ seien, was vermutlich erklärt, warum die Betreuung der Arbeit und ihre Unterstützung im Promotionsverfahren teilweise verschiedenen Personen zukam. (Erwähnt wird an erster Stelle Pierangelo Schiera). Als Gewinn der italienischen Betreuung mag wohl gelten, daß der Verfasser tradierte Grenzlinien der politischen Historiographie auflöst, um den Strukturwandel des frühen 18. Jahrhunderts besser zu erklären, daß er insbesondere bereit war, wirtschaftsgeschichtliche mit sozial- und rechtsgeschichtlichen Perspektiven zu verknüpfen und diese mit ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen, medien- und mentalitätsgeschichtlichen Analysen anzureichern.

Sogar die begriffsgeschichtliche Methode fehlt nicht: Der Haupttitel der Arbeit: „Staatsräson“, wird im Vorwort erörtert und geschickt den Erkenntnisinteressen der Untersuchung zugänglich gemacht. Aus dem Literaturfundus, der den Studien unmittelbar zugrundeliegt (vgl. Gedruckte Quellen und Primärliteratur), ergibt sich jedoch nur der Begriff „Eigennutz“; der Sache nach aber mochte der Verfasser auf den Begriff der Staatsräson nicht verzichten, selbst wenn er sich nur oberflächlich mit dessen Erforschung vertraut gemacht zu haben scheint: im Literaturverzeichnis finden sich weder der Tagungsband Roman Schnurs über Staatsräson (1975, dafür findet man ihn vor dem hinteren Buchdeckel als Eigenwerbung des Verlags) noch Münklers Studie von 1987. Der Verfasser präsentiert indes sehr geschickt die These der Dissertation mittels der Geschichte seiner Leitbegriffe: Während „Staatsräson“ im 16. und 17. Jahrhundert die Architektur der Staatsbildung angeleitet habe („psychische Beherrschung der Menschen, unter Ausnutzung und teilweise Steuerung der disziplinierenden Wirkungen der Konfessionalisierung“ S. 11), sei im 18. Jahrhundert der Ersatzbegriff „Gemeinwohl“ leitend geworden, nämlich für die sozialökonomische und - so würde man heute wohl formulieren - „kommunitaristische“ Binnenausstattung des Staates: „die Lenkung der Ressourcenerwirtschaftung und Ressourcenverteilung“ sowie „Erarbeitung eines allgemeinen Wohlfahrtssystems, zu dem alle Stände, aber auch schon alle Untertanen für sich genommen, beitragen sollen“ (S. 10). Der Verfasser nennt dies kurz und gut die „ökonomische Staatsräson“, die um 1750 an die „Grenze zur öffentlichen Räson, zu aufgeklärten öffentlichen Meinung“ gelangt sei (S. 11). Der naturrechtlich begründete „Vorgriff“ auf eine Gesellschaft freier Produzenten unter Bedingungen des Merkantilismus macht überraschend das Institut „ökonomischer Freiheitsrechte“ sichtbar, das darum nicht in den Titel der Abhandlungen aufgenommen worden sei, weil soziale und ökonomische Transformationsprozesse im Vordergrund stehen sollten und auch der „Durchblick“ in das 19. Jahrhundert hinein“ nicht beabsichtigt gewesen sei. So findet man also den Begriff „ökonomische Freiheitsrechte“ nur im Titel der ersten Studie; im Titel der zweiten steht - mit Bezug zu W. Schulzes entsprechendem Aufsatz in der HZ (243 [1986]) - „Eigennutz“, nämlich: „Staatsbildung und ökonomische Freiheitsrechte in Deutschland im 18. Jahrhundert (S. 17-64) und „Merkantilismus und Eigennutz in Preußen 1740-1786“ (S. 65-116).

Beide Begriffe werden einander so zugeordnet: „Die Wertschätzung des Eigennutzes, die sich vereinzelt bereits im 17. Jahrhundert ankündigt, ist in der Ära des aufgeklärten Absolutismus unangefochten, und ab 1750 ist in der Tat immer häufiger von der ökonomischen Freiheit des einzelnen die Rede“ (S. 12). Strukturell verbreite sich die ökonomische Freiheit unter dem Druck, aber auch durch die Chancen von Marktbeziehung: Um 1800 befinde sich „der Bauer“ in Mittel-, West und Ostdeutschland dann bereits „auf dem Weg zum landwirtschaftlichen Kleinunternehmer“ (S. 13). Die Staatsräson erfahre in dieser Lage eine gesellschaftsfunktionale Umdeutung, „weil es nun in wachsendem Maße die Eigendynamik der societas ist, die Ressourcen für die Konservierung und Erweiterung der Herrschaftsgrundlagen freisetzt“ (S. 14).

Mit seiner dritten Studie: „Die ökonomische Aufklärung in Neapel 1700-1734“ (S. 117-163) behandelt der Verfasser eine juristische Debatte, die innerständische und weltlich-klerikale Konflikte im Vizekönigtum thematisiert (giurisdizionalismo). Auch hier schaltet der Verfasser eine knappe Strukturskizze vor, in der er die ökonomischen Bedingungen charakterisiert, unter denen Neapel im Untersuchungszeitraum stand. Die Diskurse, die das Streben nach Reichtum und nach individuellem Wohlstand innerkirchlich rechtfertigen sollen, werden der Strukturskizze zugeordnet, und zwar als das Anliegen einer jansenistischen, antijesuitischen Fraktion von Klerikern, die entweder selbst experimentell arbeiten oder mit solchen Naturwissenschaftlern verkehren (Galiani, Bottari, Neri Corsini). Sie verstehen es, Schriften von Gassendi, Galilei und Newton in ein latitudinarisches Weltbild einzuordnen, das - ohne deistisch zu sein - diesseits des damaligen römischen Wahrheitsanspruchs lag und dessen Konsequenzen einem besitzbürgerlichen Verhalten zugutekamen. Es wäre wünschenswert gewesen, der Verfasser hätte die Linie seiner dritten Studie bis zu Ende des Jahrhunderts ausgezogen und Motivstränge verdeutlicht, die die Ausrufung einer jakobinischen Republik Neapel (1799) auch als Ergebnis des von ihm analysierten Zusammenhangs von „Physikotheologie und ökonomischer Aufklärung“ (S. 156) verständlich gemacht hätte - etwa als Option für die politische Selbstregulierung des Gemeinwohls durch die Bürgerschaft der Stadt, wie es am Ende des letzten Abschnittes dieser Rezension zitiert ist. Ohne diesen Durchblick bleibt der Forschungsertrag der dritten Studie unter ihren Möglichkeiten, nämlich auf die wissenschaftgeschichtliche Fährte begrenzt, die Ajello und Ferrone bereits gelegt hatten.

Angesichts der vom Verfasser personalintensiv abgehörten europäischen Gelehrtenrepublik des frühen 18. Jahrhunderts wäre der Gebrauchswert für den Leser gesteigert, wenn ein Personenregister beigegeben wäre.

Würzburg                                                                                           Paul-Ludwig Weinacht