StolleisStaatsfinanzen20000810 Nr. 10140 ZRG 118 (2001)

 

 

Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbanken in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, hg. v. Lingelbach, Gerhard. Böhlau, Köln – Weimar – Wien 2000. X, 384 S.

Der hier anzuzeigende Sammelband ist aus einer Tagung an der Universität Jena von 1998 hervorgegangen. Was damals geboten wurde, ist offenbar getreulich abgedruckt, wie es vorgetragen wurde, und zwar nach dem Alphabet der Referenten, also von Baranowski bis Zlinszky. So ergibt sich ein buntes Gemisch von Beiträgen, die weder durch Berichte über den Diskussionsverlauf noch durch einen übergreifenden – europäisch vergleichenden oder analytisch ansetzenden – Aufsatz zusammengehalten werden. Der Leser erfährt etwas über das altrussische Abgabenwesen (Baranowski) und über die Finanzierung der Kirche im Mittelalter (Bünz), kann sich dann eine Gruppe solider und materialreicher Untersuchungen zur frühen Neuzeit  vornehmen, etwa zum Abgabenbetrug im 16. und 17. Jahrhundert (Heydenreuter), zu den Schulden des Landesfürsten in Sachsen (Schirmer) und in Brandenburg (Wolff), zur Schuldenregulierung nach 1648 (Christian Hattenhauer), zum bayerischen Schuldenwerk aus dem 18. Jahrhundert (Pirson), zur Gemeindeverschuldung (Kern) und zur Verschuldung der Reichsstädte vor 1803 (Schroeder). Den Übergang in die Epoche des Konstitutionalismus, der eigentlich entscheidenden Epoche der Verfassungsbindung des Staatshaushalts, bilden Darstellungen der Einführung des Papiergelds in der Französischen Revolution (Brand), des österreichischen Staatsbankrotts von 1811 (Brandt), der ungarischen Staatsfinanzen im 19. Jahrhundert (Kajtár), der Steuergesetzgebung in Preußen 1871 – 1893 (Thier) und Ungarn 1914-1918 (Sík). Im 20. Jahrhundert widmen sich zwei sehr lesenswerte Beiträge der deutschen Inflation von 1923, der eine mit Blick auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts (Eckert), der andere mit Blick auf die Gesetzgebung des Reichs und die publizistische Debatte hierzu (Lingelbach). Zur Zeitgeschichte wird man noch den Abriß der Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland seit Fritz Schäffer rechnen können (Franzen), ebenso die vergleichende Reflexion „Bonn und Weimar“ (Hans Hattenhauer), in der auch die seltsame Frage gestellt wird, ob nicht „durch den Umweg über den Euro“ eine dauerhafte und unkalkulierbare Einführung von Reparationen zu Lasten Deutschlands erreicht werden solle.

Die restlichen Texte zu aktuellen volkswirtschaftlichen oder verfassungsrechtlichen Fragen sind dann gänzlich disparat. Sie beschäftigen sich mit der Ungarischen Nationalbank am Ende des 20. Jahrhunderts (Botos), mit Versuchen der Abgrenzung zwischen sinnvoller (investiver) Schuldenwirtschaft und unheilvoller (konsumtiver) Verschuldung (Giersch), mit der ungarischen Abgrenzung zwischen Staats- und Privatwirtschaft (Máthé), dem Spannungsverhältnis von Demokratie und Staatsverschuldung (Mußgnug) sowie den rechtlichen Möglichkeiten zum Schutz des Geldwertes (Waldhoff). So interessant und bedenkenswert viele Einzelheiten sind – manches gehörte freilich eher auf das Feld wohlmeinender Empfehlungen - , so wenig fügen sie sich zu einem geschlossenen Bild. Der Herausgeber hat es selbst in seinem Vorwort angedeutet („Fragen über Fragen, die eher Anlaß für weitere Tagungen geben, nicht aber die Lösung in diesem Symposion erwarten ließen“). Vor allem ist kein geschlossenes Bild entstanden, was die „europäische“ Staats- und Rechtsgeschichte angeht, wie der Titel verspricht. Weder Skandinavien noch England, weder die iberische Halbinsel noch Italien kommen vor. Europa scheint in diesem Band irgendwo im Dreieck zwischen Deutschland, Österreich und Ungarn zu liegen.

Frankfurt am Main                                                                                         Michael Stolleis