SchmoeckelNeuewege20000908 Nr. 10041 ZRG 118 (2001)

 

 

Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, hg. v. Schlosser, Hans/Willoweit, Dietmar, (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2). Böhlau, Köln – Weimar – Wien 1999. VI, 390 S.

Anzuzeigen ist der Tagungsband der Vorträge, die 1996 im Rahmen des DFG-Projekts „Entstehung des öffentlichen Strafrechts“ in Augsburg gehalten wurden. Die Geschichte des Strafrechts stand in Deutschland lange im Schatten und unser Bild der Strafrechtspflege früherer Zeiten verschwimmt immer weiter; deutlich wurde auch der funktionelle Charakter der älteren Strafrechtshistoriographie des 19. Jahrhunderts, um gewisse Institutionen zu legitimieren oder als mittelalterlich o. ä. zu desavouieren. Damit fehlen heute sowohl präzise Erkenntnisse über die strafrechtliche Praxis als auch ein Verständnis der Gesamtentwicklung. Für die Historiographie, die ohne Deutung nicht auskommt, birgt dies ein echtes Dilemma. Eine neues Verständnis der Strafrechtsgeschichte wird nur nach einem intensiven Studium der Strafrechtspraxis des Mittelalters und der frühen Neuzeit gewonnen werden können. Aber auch die Detailanalyse benötigt eine übergreifenden Rahmen, um ihre Befunde deuten zu können. Die Beiträge des Tagungsbandes gehen überwiegend diesen Weg, um durch solche konkreten Befunde zur Strafpflege begrenzter Zeiten und Orte alte Vorurteile aufbrechen zu können. Für den Leser bedeutet dies freilich die Aufforderung, sich hinsichtlich der Sicht der strafrechtlichen Entwicklung und Einordnung selbst ein Urteil zu bilden.

Klaus Richter untersucht die Rechtswirklichkeit von Landfrieden und liefert damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dieses Phänomens; freilich zeigt gerade das Strafrecht, daß mit einer vollständigen Effektivität der Strafgesetze nie gerechnet werden kann. Antje Schacht schöpft aus hessischen Chroniken Hinweise zur Fehdepraxis des 14. und 15. Jahrhunderts und zur Einschränkung der geistlichen Strafgerichtsbarkeit. Matthias Lentz macht Schandbilder als Quellengattung wieder nutzbar. Dieser genau recherchierte Beitrag sucht auch begriffliche Klarheit; es bleibt in der Tat die Frage, wo Gewohnheit zu Gewohnheitsrecht und Strafrecht wird. Wichtig ist die Feststellung Heiner Lücks, daß in Kursachsen Sühneverträge bis zum Ende des 16. Jahrhunderts abgeschlossen wurden. Lück betont den Zusammenhang des entstehenden Strafrechts mit der Entwicklung der Staatsgewalt. Umgekehrt kann man wohl auch vertreten, daß erst die Sicherheit und Recht gewährleistende, strafende Obrigkeit auch die notwendige Autorität in Anspruch nehmen kann.

Frühere Forschungen, vor allem von Hermann Nehlsen und Jürgen Weitzel, haben gezeigt, daß die Vorstellung eines hoheitlichen Strafrechts nach dem Untergang des römischen Reiches nicht verloren ging. Nimmt man diese Forschungen ernst, dann stellt sich nicht mehr die Frage, wann ein öffentliches Strafrecht entstanden ist, sondern vielmehr, wann die strafende Obrigkeit in der heutigen Form aufkam beziehungsweise wann seine Elemente konstituiert haben. Verschiedene Beiträge zum Strafrecht verschiedener Städte des 16. Jahrhunderts im vorliegenden Band weisen auf eine zunehmende soziale Kontrolle durch die Obrigkeit hin. Ein klarer Beginn der frühen Neuzeit läßt sich hierdurch allerdings kaum nachvollziehen, weil sich zum einen sowohl vorher als auch nachher ähnliches konstatieren läßt und das Neue im alten Gewand erscheinen kann. Andreas Blauerts Skizze eines neuen Forschungsprojekts zeigt etwa, daß der Urfehdeschwur ab dem 15. Jahrhundert nicht mehr die Feindschaft zwischen Parteien beendete, sondern vielmehr in zunehmenden Maße ein inquisitorisches Verfahren gegen strafwürdiges Verhalten abschloß. Durch einen solchen Vertrag versicherte sich die Obrigkeit der Zustimmung zur hoheitlichen Strafverfolgung. Im Zusammenhang mit der angeordneten Gefängnishaft wird die in diesem Beitrag angekündigte Untersuchung der Urfehdeurkunden im mitteldeutschen Raum auch Aufschlüsse zu den Strafen im Rahmen der poena arbitraria geben. Die anschauliche und detaillierte Schilderung der Strafgerichtsbarkeit des Nürnberger Rats von Ulrich Henselmeyer zeigt allerdings, wie unzureichend die Disziplin der Büttel im 15. und 16. Jahrhundert war, um einen umfassenden hoheitlichen Strafanspruch durchzusetzen. Die niedere Gerichtsbarkeit charakterisiert der Autor daher als restitutiv anstatt als punitiv. Reinhold Schorers Beschreibung der Strafgerichtsbarkeit des Augsburger Rats zeigt aber, daß kurz nach 1500 Strafherren zur Entlastung des Rats eingesetzt wurden. Dies läßt sich als Zeichen für die wachsende Repression in niederen Gerichtsbarkeit werten, die auch Spitzel einsetzt und öffentlich unbekannt gebliebene Taten wie Ehebruch geheim aburteilt und bestraft. Die häufige Gewähr von Gnade zeigt, wie Carl Hoffmann bemerkt, auch die Selbstsicherheit der strafenden Obrigkeit, Recht und Moral ihrer Stadt zu gewährleisten. Seine gründliche Untersuchung von Theorie und Praxis der Strafe der Stadtverweisung am Beispiel Augsburgs zeigt quantitativ und mit Hinweis auf persönliche Schicksale, daß die Strafe weniger ineffektiv war, als man bislang annahm. Gleichzeitig weist die Darstellung der verschiedenen Straffolgen auf eine feste Tarifisierung der Strafen hin und legt ein großes Gleichmaß der Strafgerichtsbarkeit nahe. Bei Schorer und Hoffmann wird auch deutlich, daß Strafen spezialpräventiv eingesetzt wurden. Zur Strafgerichtsbarkeit Augsburgs und Nürnbergs liegen damit nun eine Reihe substanzieller Beiträge vor; angesichts unvollständiger Überlieferung dürfte es jedoch schwierig sein, von alten Belegen und ex silentio älterer Zeiten auf erste Anzeichen einer Praxis zu deuten.

Als immer wichtiger erweist sich der Einfluß der Kanonistik auf die Motivation der Strafrichter und Strafgesetzgeber und bei der Ausgestaltung des Strafrechts und Strafprozeßrechts. Die verborgene Strafe etwa ist, wie der Beitrag von Lotte Kéry zeigt, eine Lehre des mittelalterlichen Kirchenrechts. In diesem Beitrag wird die Entwicklung des Strafrechts von Bernard von Pavias „Breviarium extravagantium“ (1188-1191) bis zum Liber Extra (1234) in seinem 5. Buch beschrieben. Sicherlich sind die hier gesammelten Lehren meist wesentlich älter, doch entsteht in dieser Zeit eine dogmatische Verfestigung, etwa mit der Definition des crimen als schwere Sünde (mortale), die in einer Handlung (opus) erkennbar und öffentlich (scandalum) wird. Einige Delikte werden näher untersucht, wie die ungewollte Kindestötung, an deren Beispiel eigentlich die dogmatische Entwicklung eines Begriffs der Fahrlässigkeit entwickelt wird, oder der Zweikampf als Beweismittel, welcher freilich als Element des Verfahrensrechts eher im zweiten Buch des Liber Extra abgehandelt ist. Freilich wäre gerade in diesem Zusammenhang das Ius Commune insgesamt zu berücksichtigen, um ein Verständnis des gelehrten Rechtes zu gewinnen.

Daniela Müller unternimmt eine Darstellung der Ursprünge des summarischen Prozesses: Eingangs wird eine Trennung zwischen Strafverfahren und Zivilverfahren angesprochen und der Verfasserin ist sicherlich auch beizupflichten, daß es irgendeinen Zusammenhang zum Beweisrecht gibt. Hier wie auch im folgenden Beitrag von Frank Grunert ist es schön, nunmehr auch in deutscher Sprache eine Darstellung des Themas zu haben. Über die Arbeiten von André Laingui zum Strafrecht bei Thomas Aquinas hinaus gehen aber die Ausführungen zu Francisco de Vitoria, bei dem er eine größere Obrigkeitszentrierung glaubhaft macht.

Dietmar Willoweit versucht zu definieren, was als „Öffentlichkeit im Mittelalter“ zu verstehen ist, und greift hiermit eine große Debatte der Geschichtswissenschaft auf. Die „libelli de lite“ zeigen bereits, daß es eine Schicht gelehrter Leser und damit eine kleine Öffentlichkeit gab: wichtig ist Willoweits Hinweis, daß es wohl verschiedene Öffentlichkeiten, also Informationssysteme gab wie Hof, Städte, aber auch Kirche! Die clerici peregrini sind sicherlich auch ein Mittel gewesen, solche und räumliche Grenzen zu durchbrechen. Diese Erwägungen führen aber auch zum Problem, ob überhaupt nach einem öffentlichen Strafrecht zu fragen ist. Die erwähnten heimlichen Strafen zeigen, daß es vielleicht eher auf die hoheitliche Qualität des Strafrechts und die autoritative Durchsetzung von Recht und Moral ankam als auf ein öffentliches Theater der Schrecken.

Einige Beiträge schließlich widmen sich der Quellenkunde. Barbara Frenz betont, daß das geschriebene Strafrecht der Städte nicht unbedingt der Praxis entsprechen muß; Rolf Sprandel weist auf verschiedene Intentionen der Chronisten hin. Einen wirklich neuen Weg zum Verständnis des langobardischen Strafrechts des 11. Jahrhundert weist Christoph Meyer. Überzeugend zeigt er die Möglichkeit auf, für Lombarda und Liber Papiensis eine neue Textgrundlage zu schaffen, welche dann Aufschluß über die strafrechtlichen Vorstellungen geben wird.

Bonn                                                                                                  Mathias Schmoeckel