RösenerNobilitas20000914 Nr. 992 ZRG 118 (2001)

 

 

Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa, hg. v. Oexle, Otto Gerhard/Paravicini, Werner (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133). Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1997. 463 S.

Vorliegender Sammelband ist das Ergebnis eines Kolloquiums, das vom 20. bis 22. Februar 1994 auf Schloß Ringberg am Tegernsee zum Thema „Nobilitas“ abgehalten wurde. Diese Tagung wurde zu Ehren von Karl Ferdinand Werner, dem ehemaligen Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, anläßlich seines 70. Geburtstages veranstaltet. In seinem einleitenden Beitrag „Interesse am Adel“ geht Werner Paravicini allgemein auf die neuere Adelsforschung ein und erläutert die vier Themenkreise des Kolloquiums. Der Schwerpunkt der Beiträge sollte auf das Hoch‑ und Spätmittelalter, umrahmt von Spätantike und Früher Neuzeit, liegen. In räumlicher Hinsicht steht das Frankenreich mit seinen Nachfolgestaaten im Mittelpunkt, also vor allem Frankreich und Deutschland. Thematisch geht es um die vier Bereiche adliges Verhalten, Adel in Bild und Repräsentation, Adelskontinuität in Abstammung, Funktion und Bewußtsein sowie Adelslegitimation. Bewußt wurde demnach ein anthropologisch‑sozialwissenschaftlicher Ansatz gewählt.

Im ersten Themenkreis (Adliges Verhalten) befaßt sich Gerd Althoff, „Das Privileg der ,Deditio’. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“, mit der Problematik der Konfliktregelung innerhalb des Adels. Er untersucht das aus selbsterniedrigender Unterwerfung mit anschließender Verzeihung bestehende Ritual der ,deditio’, das er als Adelsprivileg interpretiert. Jean Richard, „La culture juridique de la noblesse aux XIe, XIIe et XIIIe siècles“, analysiert die Rechtsprechung durch den Adel in Frankreich sowie die Veränderungen, die das geschriebene Recht im 13. Jahrhundert in diesem Zusammenhang erfährt. Der Beitrag von Roger Sablonier, „Schriftlichkeit, Adelsbesitz und adliges Handeln im 13. Jahrhundert“, befaßt sich mit den schriftlichen Überlieferungsformen des Adels und den aus ihnen erkennbaren Besitzumschichtungen bei einzelnen Adelsgeschlechtern. Obwohl sich seine Untersuchungen auf Adelsverhältnisse im ostschweizerischen Raum beziehen, können seine interessanten Ergebnisse die allgemeine Diskussion um den Adel und seine Handlungsweisen im ausgehenden Hochmittelalter beleben. Der wichtige Themenkreis „Adel in Bild und Repräsentation“ ist leider nur durch zwei Beiträge vertreten: Volkhard Huth, „Bildliche Darstellungen von Adligen in liturgischen und historiographischen Handschriften des hohen Mittelalters“, und Arlette Jouanna, „La noblesse gardienne des lois du royaume: un modèle politique proposé pendant les Guerres de Religion en France.“ Huth untersucht in Fortführung eines von seinem Lehrer Karl Schmid angeregten Frageansatzes am Beispiel der Darstellung von Adeligen in drei Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts das Problem der bildlichen Darstellung von Adeligen in unterschiedlichen Handschriften. Jouanna beschäftigt sich mit der Stilisierung des französischen Geblütsadels als Hüters der Verfassung und Beschützers des Königtums in den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts. In diesem Themenkomplex wäre es angebracht gewesen, weitere Beiträge zum Wappenwesen, zur Bestattungskultur und zur vielfältigen Standessymbolik des Adels zu bringen.

Der Themenkomplex „Adelskontinuität in Abstammung, Funktion und Bewußtsein“, zu dem vier Aufsätze gehören, beginnt mit einer Studie zum frühfränkischen Adel von Jean Durliat, „Les fonctions publiques de la noblesse gallo‑franque (481‑561)“. Martin Heinzelmann, „’Adel’ und ,Societas sanctorum“: Soziale Ordnungen und christliches Weltbild von Augustinus bis zu Gregor von Tours“, befaßt sich mit den Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit, wie sie in Werken christlicher Autoren zum Ausdruck kommen. Hagen Keller, „Adel in den italienischen Kommunen“, lenkt den Blick auf die Adelsverhältnisse in der hochmittelalterlichen Lombardei und beleuchtet die andersartige Lage des Adels im Umfeld der norditalienischen Kommunen. Adeline Rucquoi, „Etre noble en Espagne aux XIVe‑XVIe siècles“, gewährt einige Ausblicke auf die Lage des spanischen Adels vom 14. bis 16. Jahrhundert. Der vierte Themenkreis „Adelslegitimation“ ist ebenfalls mit vier Beiträgen vertreten. Philippe Contamine, „Noblesse et service: l’'idée et la réalité dans la France de la fin du Moyen Age“, beleuchtet aus seiner reichen Kenntnis des französischen Adels das Verhältnis von Adel und Dienst in der Epoche des Spätmittelalters. Joseph Morsel, „Die Erfindung des Adels. Zur Soziogenese des Adels am Ende des Mittelalters ‑ das Beispiel Franken“, erläutert in einer ausführlichen Studie seine These, daß erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mit der aufkommenden Bezeichnung ,Adel’ die Gesamtheit des Adels in Franken erfaßt wird. Diese neue Bezeichnung ist in dem Zusammenhang einer Homogenisierung des fränkischen Niederadels zu sehen, die sich in der Auseinandersetzung zwischen landsässiger Ritterschaft und städtischem Bürgertum vollzieht. Klaus Schreiner, „Religiöse, historische und rechtliche Legitimation spätmittelalterlicher Adelsherrschaft“, untersucht in einem überzeugenden Beitrag die Legitimationsbasis des spätmittelalterlichen Adels und führt zugleich die auf die Vorstellung vom Tugendadel sich gründende Adelskritik auf. Georg Schmidt, „Voraussetzungen oder Legitimation? Kriegsdienst und Adel im Dreißigjährigen Krieg“, diskutiert die Phänomene der Dominanz des Adels bei den militärischen Führungsstellen im Dreißigjährigen Krieg. Ein kurzes Schlußwort von Karl Ferdinand Werner beschließt diesen Sammelband, der zweifellos einige wichtige Studien zur Geschichte des Adels enthält, aber auch Defizite erkennen läßt. Die Epoche des europäischen Adels in seiner hochmittelalterlichen Blütezeit vom 11. bis 13. Jahrhundert kommt sichtbar zu kurz. In dieser Hinsicht werden die bahnbrechenden Arbeiten der Tellenbachschule zur Adelsforschung (Karl Schmid, Josef Fleckenstein etc.) zu gering bewertet; die Epoche des Frühmittelalters und die Zeit des spätmittelalterlichen Adels sind deutlich überrepräsentiert, so daß die Proportionen verschoben sind. Der Titel „Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa“ weckt Erwartungen, die im Band nur partiell eingelöst werden. Das Schlußwort des Jubilars ist zwar geistreich formuliert, ersetzt aber keine abschließende Zusammenfassung. Das wichtige Gebiet der Geschichte des alteuropäischen Adels bedarf auch nach diesem Sammelband dringend der weiteren Erforschung.

Gießen                                                                                                                    Werner Rösener