PaulyVorländer20000124 Nr. 10017 ZRG 118 (2001)

 

 

Vorländer, Hans, Die Verfassung. Idee und Geschichte (= Wissen in der Beck’schen Reihe 2116). Beck, München 1999. 127 S.

In seiner kleinen Weltgeschichte der Verfassung greift Vorländer weit hinter den modernen Konstitutionalismus zurück. Am Anfang stehen Platon und Aristoteles; allein letzterer hatte 158 antike Verfassungen gesammelt und analysiert. Schon bei den Reformern Solon und später Kleisthenes habe sich die Vorstellung einer menschlichen Gestaltbarkeit der Polis Bahn gebrochen. In Mischverfassungsmodellen, wie sie die griechischen Philosophen und zur Zeit der römischen Republik Cicero favorisierten, sah Polybios eine Chance, den durch Aufstieg und Verfall gekennzeichneten Verfassungskreislauf zu durchbrechen; Vorländer sieht darin sogar einen Vorgriff auf die neuzeitliche Gewaltenteilungslehre. Für den mittelalterlichen Konstitutionalismus finden sich neben den auf Privilegienabsicherung bedachten feudalen Herrschaftsverträgen vor allem auch Kirchenedikte und Ordensstatute hervorgehoben. Insbesondere in der auf die Beschränkung der päpstlichen Monarchie gerichteten Konziliarismustheorie und in den Verfassungsdiskussionen der italienischen Stadtstadten erlebten die antiken Mischverfassungstheorien eine Renaissance. Im Fortgang schildert Vorländer zunächst die englische Entwicklung einer ungeschriebenen, allenfalls punktuell kodifizierten Verfassung. Weil die „Ancient constitution“ als aus unvordenklicher Zeit herrührend vorgestellt wurde, blieb die englische Tradition gegenüber Souveränitätstheorien (Bodin, Hobbes) weitgehend immun. Demgegenüber entstand im nordamerikanischen Verfassungslabor 1787 eine moderne geschriebene Konstitution, nimmt man die 1791 durch die Federal Bill of Rights angefügten Grundrechtsverbürgungen hinzu. Trotz der amerikanischen Verfassungseuphorie sollte aber noch lange Zeit die Rassendiskriminierung den juristischen Alltag bestimmen. Vorländer referiert im Amerika‑Kapitel schließlich die Entstehung des „judicial review“ 1803 durch die Entscheidung des Supreme Courts „Marbury versus Madison“, verschweigt allerdings, dass just jener Chief Justice John Marshall als Vorgänger Madisons im Amt des Secretary of State die streitbefangene Ernennungsurkunde ausgefertigt hatte. In der deutschen Diskussion waren es dann später allerdings nicht nur die Kräfte des Fortschritts, für die die Entscheidung in den USA steht, die ein richterliches Prüfungsrecht forderten. Judicial review erscheint hier eher in der Form antiparlamentarischen Misstrauens; nicht zufällig verfügt der französische Parlamentarismus bis heute trotz des Conseil Constitutionnel immer noch nicht über eine voll ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit.

Durch seine länderübergreifenden ideen‑ und verfassungsgeschichtlichen Abrisse gibt Vorländer eine knappe, aber insgesamt doch solide Basis für vergleichende Betrachtungen. Auch die Entwicklung unter dem Grundgesetz, in der das Bundesverfassungsgericht klar dominiert, wird auf kurzem Raum souverän geschildert. Den Abschluss des historischen Teils bildet ein Überblick über die Verfassungsdiskussion im Zuge der Wiedervereini­gung. Wenig ertragreich ist allerdings das abschließende Kapitel „Die Zukunft der Verfassung“, das insbesondere die große Zukunftsaufgabe einer europäischen Verfas­sung nur streift. Zwar hatte das Einleitungskapitel „Die Idee der Verfassung“ schon auf einzelne Verfassungsfunktionen hingewiesen, aber weder dort noch im Schlusska­pitel wird die historisch aufbereitete Verfassungstheorie für den europäischen Eini­gungsprozess fruchtbar gemacht.

 

Jena                                                                                                                             Walter Pauly

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