Nehlsen-vonStrykBader20000831 Nr. 10035 ZRG 118 (2001)

 

 

Bader, Karl Siegfried/Dilcher, Gerhard, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa. Springer, Berlin – Heidelberg - New York 1999. XXVIII, 853 S.

Eine Deutsche Rechtsgeschichte, deren erster Teil bereits rund 850 Seiten umfaßt, stellt Jahrzehnte nach der letzten großformatigen und auf Vollständigkeit zielenden Deutschen  Rechtsgeschichte von Hermann Conrad (Bd. 1 , 2. Aufl.1962, Bd. 2, 1966), die indessen noch völlig der germanistischen Lehrbuchtradition des 19. Jahrhunderts verhaftet war, ein Novum dar, zudem ein Novum von einigem Symbolgehalt: Bedeutet dies doch, daß in den Jahrzehnten des fortschreitenden Zusammenbruchs germanistischer Lehrgebäude zugleich Forschung geleistet worden ist, die zwei Autoren als tragfähige Basis einer neuen rechtshistorischen Gesamtdarstellung erachtet haben. Freilich ist - wie der Untertitel besagt und im Vorwort ausführlich dargelegt wird - das große Vorhaben erst zum Teil verwirklicht worden. Gegenstand dieses Bandes sind der bäuerliche Rechtsbereich, insbesondere die ländliche Gemeinde, sowie die Stadt. Diese Auswahl rechtfertigt sich nicht nur von den wissenschaftlichen Schwerpunkten der beiden Autoren her, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, daß, modernen methodischen Anforderungen entsprechend, rechtlich-normative und lebensweltlich-soziale Strukturen (S. VII) in enger Beziehung zueinander dargestellt werden sollen. In beiden Abschnitten dieses ersten Bandes - Land wie Stadt - wurde der Akzent auf die genossenschaftlich-gemeindlichen, also inneren Strukturen gelegt und vermieden, die vormoderne Rechtswelt von obrigkeitlicher Rechtssetzung her darzustellen. Dem zweiten Band sollen die Herrschaftswelt von König, Fürsten, Adel, Kirche, ferner Gerichtsverfassung, Rechtsverfahren, Strafe vorbehalten bleiben (S. VII) - eine Trennung, die sich freilich, wie bereits der erste Teil zeigt, nicht konsequent durchführen läßt. Herrschaft und Gericht etwa können auch aus Land- und Stadtgemeinde nicht fortgedacht werden. Überschneidungen werden aber stets unvermeidbar sein, wenn man sich von starren juristisch-systematischen Gliederungsschemata lösen will. Wurde somit der Stoff einerseits begrenzt, so ist andererseits - ein besonderes Verdienst dieses Werks - der zeitliche Bogen vom Ende des weströmischen Reichs bis zum Ende des Ancien Régime gespannt worden.

Auch der - im Vorwort dargelegten - Entscheidung der Autoren für den Titel Deutsche Rechtsgeschichte kann nur zugestimmt werden. Er verdeutlicht im vorliegenden Fall, daß Bekenntnis zur Fachtradition und wissenschaftliche Modernität sowie die Einbeziehung des gesamteuropäischen Zusammenhangs sich keineswegs ausschließen.

Für die Darstellung der Rechtsgeschichte bäuerlich-agrarischer Gemeinden und Verbände gab es gewiß keinen geeigneteren Autor als K. S. Bader, verstorben im Jahre 1998 im Alter von 93 Jahren. Ist es doch K. S. Bader, der in grundlegenden Untersuchungen, unter anderem in seiner dreibändigen Monographie über das Dorf am Beispiel der fränkischen und schwäbischen Landschaften, diesem schwierigen Themenkreis überhaupt erst einen Platz in der Rechtsgeschichte und der rechtshistorischen Forschung den Anschluß an die auf diesem Gebiet wesentlich fortschrittlichere Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte verschafft hat. Wie K. S. Bader in der Einleitung zu seiner Monographie im Jahre 1957 noch zu Recht hervorheben konnte, hatte sich die rechtsgeschichtliche Forschung wohl mit der Grundherrschaft, dem Verhältnis von Herrschaft und Bauern und selbst mit den Markgenossenschaften beschäftigt, so gut wie nicht aber mit dem Dorf, Dorffrieden, Dorfrecht, Dorfgemeinde etc.

Wie von G. Dilcher im Vorwort angedeutet, basiert der von K. S. Bader stammende erste Teil dieses Bandes auf seiner Monographie, und es ist nur zu begrüßen, wenn dieser wichtige Forschungsgegenstand auf diese Weise einem ungleich breiteren Publikum zugänglich gemacht wird, zumal K. S. Baders klare und eingängige Darstellungsweise auch den Nichtspezialisten unmittelbar in das Thema hineinführt. Ein wertvoller Nebeneffekt ist zugleich die Einarbeitung des Forschungsstandes bis Anfang der achtziger Jahre, ferner die umfangreichen, jedem Kapitel vorangestellten Literaturübersichten, die auf den neuesten Stand gebracht wurden.

Die Darstellung K. S. Baders verläuft chronologisch, vermeidet jedoch die übliche strenge Periodisierung in germanische Frühzeit, Frühmittelalter etc., weil die ländlichen Rechtsverhältnisse sich nur sehr bedingt in diese Kategorisierung fügen, da sie dank der Traditionsgebundenheit des sozialen und rechtlichen Lebens zumeist weit über die epochalen Einschnitte hinweg unverändert fortdauern. So folgen die ersten drei Kapitel siedlungsgeschichtlichen Vorgängen: Landnahme und ländliche Siedlung, Zeitalter des frühen Siedlungsausbaus, womit wir uns im wesentlichen im Frühmittelalter befinden, sodann Die ländliche Siedlung im Zeitalter des hoch- und spätmittelalterlichen Landesausbaus.

Besonders verdienstvoll ist die Entscheidung, die germanische Frühzeit einzubeziehen, ein von der heutigen Germanistik eher gemiedenes Terrain, da es ebenso arm an tragfähigen Quellen wie befrachtet mit germanistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts ist, die zwar in den letzten Jahrzehnten nach und nach widerlegt, meist aber nicht durch neue Forschungsergebnisse ersetzt worden sind. K. S. Bader stellt sich den methodologischen Problemen dieser Epoche (S. 3ff. und passim), wie etwa den mit großen Vorbehalten auszuwertenden schriftlichen Zeugnissen, die, von Caesar und Tacitus abgesehen, überdies schon dem Frühmittelalter angehören, und stützt sich auf die Erkenntnisse der Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, der Bodenarchäologie etc., deren Unsicherheitsfaktoren indessen ebenfalls vor Augen geführt werden. Geläufige Begriffe wie Landnahme, Einquartierung, Völkerwandung werden als langfristige, langsame Vorgänge gedeutet, die in eine allmähliche bäuerliche Seßhaftwerdung münden (S. 19ff.). Bei allen verbleibenden Unsicherheiten schält sich doch ein vermutlich realistisches Bild heraus, das indessen dem rechtshistorischen Lehrgebäude, wie es noch in den 50er Jahren vertreten wurde, geradezu konträr ist. Am Anfang des Siedlungsvorgangs standen nicht Großverbände in Form einer altfreien Markgenossenschaft und Gemeinnutzung des Bodens, dessen Überreste in der spätmittelalterlichen Allmende zu erblicken sein sollten, auch keine familiäre Egalität, sondern familiäre Kleinverbände, von vornherein unterschiedlicher sozialer Stellung, die zur Lebensfristung zunächst naheliegendes, bebaubares Land bewirtschafteten und erst im Laufe der Zeit ihren Aktionsradius ausdehnten (S. 25ff.). Außer von der Hundertschaft distanziert sich der Verfasser auch von der Sippe als umfassendem Rechtsverband (S. 26ff.), im Anschluß an Kroeschells Untersuchungen, will die Sippe aber in eingeschränkter Funktion als Kult- und Friedensverband aufrechterhalten. Auch zu den äußeren Siedlungsformen wie zu den Wirtschaftsformen der Frühzeit - die Dreifelderwirtschaft kann ebenfalls nicht in die Anfänge zurückversetzt werden - nimmt der Verfasser umfangreich Stellung (S. 41ff.).

Kapitel C über das Zeitalter des frühen Siedlungsausbaus (S. 63ff.) ist vor allem der Grundherrschaft in fränkischer Zeit  - ihren vermuteten Wurzeln, ihrer Ausprägung als königliche, adlige und vor allem geistliche Grundherrschaft, ihrer Immunität, ihrem Anwachsen, ihrer Wirtschaftsform - gewidmet, wobei innere Organisation der Grundherrschaft und Status der zur Grundherrschaft gehörigen Leute überraschend beiläufig abgehandelt werden (S. 82). Dagegen versucht K. S. Bader, Aussagen zur inneren Entwicklung bäuerlicher Rechts- und Lebensformen, auch zum bäuerlichen Selbstverständnis zu treffen (S.109 ff.) und in der vicinitas frühe Verbandsbildungen auszumachen. Die Quellen, da grundherrlicher Provenienz, geben hier, wie der Verfasser selbst einräumt, wenig Auskunft: Noch ist der Bauer Objekt, nicht für sich selbst sprechendes Subjekt, und er ist das weit über unsere Epoche hinaus geblieben (S. 117).

Das folgende Kapitel D über die ländliche Siedlung im Zeitalter des hoch- und spätmittelalterlichen Landesausbaus (S. 123ff.) behandelt vor allem die Binnenkolonisation, während auf die Parallelbewegung, die spektakulärere, durch Quellen klarer bezeugte Ostsiedlung - der Terminus „Ostkolonisation“ wird konsequent vermieden - nur wenige Seiten entfallen (S. 143-146). K. S. Bader begründet diese Entscheidung mit der größeren Vielfalt des ländlichen Siedlungswesens im Westen und - aus der Sicht vom Anfang der achtziger Jahre - mit der größeren Bedeutsamkeit für die eigene Rechtsentwicklung. Rodungssiedlung und Rodungsfreiheit, deren Breitenwirkung in den Dreißiger Jahren überschätzt worden sei (S.137), werden nur knapp skizziert. Im Zentrum stehen die Dorfbildung (S. 138ff.) sowie dörfliche Gemeindebildung und Gemeindeverfassung aus dem Schoße der Grundherrschaft heraus (S. 146ff.) als das Phänomen, das erst durch K. S. Bader angemessene rechtshistorische Würdigung erfahren hat. Im Rahmen der Umgestaltung der Grundherrschaft, oft mißverständlich als „Zerfall“ bezeichnet (S. 150f.), gelingt es zahlreichen Dorfgemeinden, zumindest Teile der Dorfherrschaft wie Zwing und Bann, an sich zu bringen und ihren Aufgabenbereich entschieden über die Gegenstände der Flurnutzung hinaus zu erweitern. Nur sehr knapp wird das Dorfgericht erwähnt, zuweilen eigentliches Niedergericht, zuweilen Bagatellgericht neben der grundherrlichen Niedergerichtsbarkeit (S. 149), etwas ausführlicher die Vogteigerichtsbarkeit (S. 154f.). Besondere Aufmerksamkeit verdient die leider auch nur kurz genannte beschränkte Rechtssetzungsgewalt der Dorfgemeinde durch dörfliche Einung (S. 149, vgl. auch S. 204), die doch eine bemerkenswerte Parallele zur städtischen Einung darstellt.

Unter der nicht ganz glücklichen Überschrift Formen ländlich-bäuerlicher Rechtssetzung (S. 160ff.) werden die spätmittelalterlichen Quellengruppen, die über ländliche Verhältnisse Auskunft geben, bündig abgehandelt, so Zinsbücher, Urbare, Weistümer, Rechtsbücher und Geschäftsurkunden. Ein Abschnitt über die spätmittelalterliche Wirtschafts- und Sozialverfassung, wobei auch die nunmehr zahllosen Markgenossenschaften gewürdigt werden, beschließt dieses zentrale Kapitel.

Mit dem anschließenden Kapitel über das Recht der ländlichen Siedlung in der Zeit zwischen Reichs- und Kirchenreform und dem Westfälischen Frieden (S. 175ff.) bahnt sich nicht nur die Neuzeit an, sondern auch ein Perspektivenwechsel. Zunächst wird der Bauernkrieg behandelt und nicht nur von nationalsozialistischer wie marxistischer Mythenbildung befreit, sondern geradezu schonungslos jeder historischen Dramatik entkleidet (S. 177ff.). Dann aber wendet sich der Verfasser der - wenn ich recht sehe, eigentlich dem zweiten Band der Rechtsgeschichte vorbehaltenen - Sphäre der Reichsgerichtsbarkeit, der Reichspolizeiordnungen, Reichskreisabschiede, territorialstaatlichen Landes- und Polizeiordnungen zu und deren Auswirkung auf das ländliche Recht. Von den unerwartet zahlreichen Untertanenprozessen vor dem Reichskammergericht abgesehen, beschreibt K. S. Bader die staatliche Einwirkung auf die ländlichen Rechtsverhältnisse als denkbar gering, kulminierend in einer weitgehenden Ineffektivität dieser Normsetzung, die im übrigen oft jeden Praxisbezug vermissen läßt (S. 200ff.). Ausführlicher wendet sich der Verfasser sodann der noch weitgehend unerschlossenen Quellengattung der Dorfordnungen zu (S. 204ff.), die sich in der Verbindung von herrschaftlichen und genossenschaftlichen Formen mit den Weistümern berühren. Der Verfasser gibt hier einen überaus informativen und anschaulichen Querschnitt durch die württembergischen Dorfordnungen.

Als sozialgeschichtliches Charakteristikum dieser Zeit wird abschließend die Verhärtung der sozialen Gegensätze in den Dörfern geschildert, das Auftreten eines Dorfpatriziats , das die leitenden Dorfbeamten stellt, an der Spitze einer Besitzklassenhierarchie, auf deren unterster Stufe die Tagelöhner stehen (S. 207f.).

Ein besonders aufschlußreiches Kapitel über ländliches Recht und ländliche Verbände im Zeitalter des Rationalismus und der Aufklärung - Agrartheorien und tatsächliche Verhältnisse - beschließt den ersten Teil der Rechtsgeschichte (S. 209ff.). Von hohem Interesse ist die Auseinandersetzung der Naturrechtler mit den ländlichen Statusverhältnissen, den verschiedenen Formen der Leibeigenschaft, wie auch der Praktikerjuristen mit dem gelebten ländlichen Recht, das sie mit der Begrifflichkeit des römischen Rechts zu erfassen versuchen - eine Thematik, die in allgemeinerer rechtshistorischer Literatur bisher nicht dargestellt wurde, desgleichen die populäre juristische Literatur der Agraristen, verfaßt für die mittlere Territorialverwaltung.

Was die tatsächliche Rechtslage bis zum Ende des Alten Reiches betrifft (S. 227ff.), so wird die Bauernbefreiung behandelt, die jedenfalls im Westen wenig Aufsehen erregte, zumal in größeren landesfürstlichen Territorien längst Manumissionsbriefe gegen Zahlung einer mäßigen Gebühr formularmäßig von Lokalbeamten ausgestellt wurden (S. 213) und die Leibeigenschaft zunehmend als eine Art Sondersteuer betrachtet wurde (S. 242). Deutlich wird auch passiver bäuerlicher Widerstand gegen fürstliche Reformbestrebungen. Gegen herrschaftliche Rationalität wird hartnäckig an Flur -und Allmendgemeinschaften festgehalten. Abschließend werden im Rahmen der bäuerlichen Familie (S. 236ff.) knapp das Fortleben erbrechtlicher und ehegüterrechtlicher Institute dargestellt sowie überblicksweise das Leihewesen.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß zwei Anliegen des Verfassers ständig gegenwärtig sind: Die Feststellung, daß weder Königs- noch Adelsherrschaft, nur eingeschränkt die Grundherrschaft noch über weite Zeiträume die territoriale Obrigkeit und ihre Rechtssetzung in den bäuerlichen Alltag, in Gehöft, Dorf und Verbände vordringen, sowie das Bestreben, eben diese Lebens- und Rechtswelt zu erschließen. In eindrucksvoller Weise wird siedlungs-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung ausgewertet und auf der Basis ungewöhnlich breiter Quellenkenntnis versucht, die realen bäuerlichen Lebens- und Wirtschaftsbedingungen von der germanischen Frühzeit bis zum Ende des Ancien Régime sichtbar zu machen. Die rechtliche Eingebundenheit des bäuerlichen Alltags bleibt dagegen zuweilen schemenhaft. Wie man sich etwa eine dörfliche Gerichtssitzung vorzustellen hat, die doch gewiß wichtiger Bestandteil des Dorflebens war, bleibt unerwähnt. Auch die fast völlige Ausklammerung des Privatrechts - der Verfasser pflegt hier auf die Grundzüge des Deutschen Privatrechts von R. Hübner (5.Aufl.1930) zu verweisen (S. 94, 99, 154) - überzeugt nicht recht, wenn es nicht lediglich um Verfassungsgeschichte, sondern um gelebtes Recht in einem konkreten sozialen Kontext gehen soll.

Das zweite Anliegen K. S. Baders besteht darin, angesichts der fast unübersehbaren Vielgestaltigkeit der ländlichen Verhältnisse stets auf die methodische Unzulässigkeit hinzuweisen, den Versuch einer Synthese zu wagen. Hinzu tritt die grundsätzliche Ablehnung des quellennah arbeitenden Forschers gegenüber notgedrungen vergröberndem Modelldenken. Die im Allgemeinen verbleibenden häufigen Relativierungen wiederum allgemeiner Aussagen dürften den Leser, der über kein Detailwissen verfügt, gelegentlich ratlos lassen, zumal K. S. Bader den Weg, Beispiele aus verschiedenen Regionen zur Veranschaulichung unterschiedlicher Rechtsverhältnisse einander gegenüberzustellen, nur selten gegangen ist. Möglicherweise ist ihm auch dies als unzulässige Vereinfachung erschienen. Über diesen etwas nachdenklichen Bemerkungen soll aber nicht in den Hintergrund treten, daß K. S. Bader der großen Herausforderung, ein derart komplexes Forschungsfeld in einem übergreifenden zeitlichen Rahmen, wissenschaftlichen Maßstäben entsprechend, darzustellen, unbestreitbar gerecht geworden ist.

Auch der zweite - weit umfangreichere - Teil über die Stadt hat in Gerhard Dilcher einen hervorragenden Autoren gefunden, dessen wissenschaftliches Werk sich seit langem und in zunehmendem Maße auf die mittelalterliche Stadt als europäisches Phänomen zentriert hat - der im Jahre 1996 erschienene Sammelband Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter dokumentiert dies eindrucksvoll.

Die einführenden Seiten zur fundamentalen Bedeutung der Stadt für die deutsche wie europäische Rechts- und Gesellschaftsentwicklung (S. 251ff.) umreißen in beeindruckender Dichte und Präzision zugleich methodische Voraussetzungen und inhaltliche Leitlinien der Darstellung. Was den Rückblick auf die rechtshistorische Grundlagenliteratur betrifft, so überrascht allerdings, daß Karl Kroeschells Rechtsgeschichte unerwähnt bleibt, deren wissenschaftlicher Rang und innovative Leistung gerade auch in den Kapiteln zu Markt und Stadt hervortreten.

Das erste Kapitel (B: Stadtformen des frühen und hohen Mittelalters, S. 259ff.) behandelt die spezifischen Formen urbaner und kirchlicher Kontinuität - die civitas als Bischofssitz - und ihre Verbindung zu den Herrschaftsformen der neuen Völkerschaften von den Anfängen des merowingischen Frankenreichs an. Hinzu treten neue präurbane Zentren wie die königlichen und gräflichen Pfalzen etc., an die sich ebenfalls Handelsplätze anschließen. Eingehend dargestellt werden der privilegiale Rechtsstatus der Kaufleute sowie die Zeugnisse für die Existenz von Gilden, in denen der Verfasser einen wichtigen Beitrag der nordeuropäisch-germanischen Bauernkultur zu den genossenschaftlichen Sozialformen der Kaufleute erblickt (S. 280ff.), ferner die hoheitliche Marktverwaltung in bischöflicher bzw. königlicher Hand, wobei ein Bild gefestigter Herrschaftsverhältnisse gezeichnet wird (S. 285ff.).

In einem folgenden Abschnitt verdichtet G. Dilcher die Vielfalt der nichtagrarischen Siedlungskörper des 10.-12. Jhahrhunderts in typologischer Betrachtung (S. 291ff.), wobei die herrschaftlich geordnete Bischofsstadt - unterschieden in die Bischofsstädte des Westens und der Missionsgebiete - im Mittelpunkt der rechts- und sozialgeschichtlichen Analyse steht, die zugleich mit markanten Beispielen veranschaulicht wird. Auch das Hofrecht Burchards von Worms wird - wie mir scheint, erstmals - überzeugend im Zusammenhang städtischer Bischofsrechte interpretiert. Beleuchtet werden das Verhältnis von Stadt und Markt (S. 306ff.), ebenfalls in verschiedenen typischen Ausprägungen - etwa der topographische Dualismus - anhand zahlreicher Beispiele und nicht zuletzt die - ebenfalls reich dokumentierten - freien Markt- bzw. Stadtgründungen des 12. Jahrhunderts. Als wichtigster Effekt dieser Gründungen wird überzeugend das Entstehen einer eigenen freien Grundbesitzergemeinde dargetan.

Im letzten Abschnitt (S. 320ff.) geht es um Markt und Kaufmann, genauer: um die Verbindung des ortsbezogenen Marktrechts mit dem personenbezogenen Recht der Kaufleute (S. 320ff.) sowie um die umstrittene Frage eines kaufmännischen Rechts, worauf die Quellen vielfach verweisen, ohne indessen konkrete Rückschlüsse auf Inhalt und Ausgestaltung zuzulassen.

Das folgende Kapitel über die Entstehung der kommunalen Stadt (S. 327ff.) bildet das Zentrum des Forschungsanliegens G. Dilchers, formt sich doch in rund 200 Jahren seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas ein Städtetypus heraus, wie er mehr oder weniger dem Idealtypus der okzidentalen Stadt Max Webers entspricht, gekennzeichnet durch eine Kommune im Besitz weitgehender Autokephalie (Selbstherrschaft) und Autonomie, verkörpert in Gericht, Verwaltung und Rechtssetzung. Den Erkenntniswert der Weberschen Typen- und Kategorienbildung auch für die moderne stadtgeschichtliche Forschung hat G. Dilcher in seinen Untersuchungen immer wieder herausgestellt und einen maßgeblichen Beitrag zur Max-Weber-Renaissance und -Rezeption geleistet. Nun hat das Thema der Stadtentstehung seit jeher zu kontroversen Theorien Anlaß gegeben, die längst ihrerseits ein würdiger Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Betrachtung sind. Monokausale Großtheorien sind differenzierter historischer Betrachtung gewichen und die landesgeschichtliche Forschung charakterisiert der Verfasser zutreffend dahin, daß sie die von Stadt zu Stadt unterschiedlichen Faktoren langsamer Verdichtung der städtischen Verfassungsform betone und der coniuratio eine allenfalls akzidentelle Randstellung einräume (S. 335). Der Verfasser legt sich hier Rechnung über den einzuschlagenden methodischen Weg und ein der Komplexität des Entwicklungsprozesses angemessenes Darstellungsschema. Den Weg individualisierender Beschreibung, die dann zu einer Synthese zusammenzuführen sei, lehnt er ab, verzichtet somit auf eine „historische“ Gesamtdarstellung, sondern wendet sich, legitimiert durch den Vorrang der rechtshistorischen Fragestellung, einer schärferen analytischen Erfassung der entwicklungsbestimmenden Faktoren und Rechtsformen zu, die in jeder Stadt in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Weise zur Wirkung gekommen seien. Ebenso ist der historische Prozeß der Entstehung der kommunalen Stadt im deutschen Raum als ein Zusammenwirken dieser Formen und Faktoren vorstellbar, ohne daß diese im einzelnen gewichtet oder kausal zugeordnet werden müßten oder könnten (S. 336). Als Faktoren werden die Entstehung bürgerlicher Freiheit, der Markt als rechtlich-sozialer Integrationsfaktor, die örtliche Gemeindebildung aus ländlichen genossenschaftlichen Strukturen heraus, die Einung und Eidgenossenschaft behandelt, wobei die Abschnitte über Freiheit - hier wird ein sehr differenziertes Bild gezeichnet (S. 338ff.) - und Einung/Eidgenossenschaft (S. 366ff.) den weitaus größten Raum einnehmen. Zur Darstellung der städtischen Eidgenossenschaft wird, wie stets, auf die eindrucksvoll dokumentierte kommunale Bewegung der niederfränkischen, insbesondere nordfranzösischen und flandrischen Städte zurückgegriffen. Hervorzuheben ist die begriffliche Klärung des Verhältnisses von Eidgenossenschaft (conjuratio), Kommune (communio jurata) und Gemeinde (S. 373ff.), wodurch zugleich der Entwicklungsverlauf deutlicher strukturiert wird. Was die Kontroverse zur Existenz von conjurationes in Deutschland über die rheinischen Bischofsstädte hinaus betrifft, so bekennt sich G. Dilcher trotz der Ungunst der Quellenlage zu der Überzeugung, daß auch für Deutschland die bürgerliche Eidgenossenschaft das wichtigste Formprinzip der Stadtgemeinde darstelle (S. 380). Inwieweit dieser Auffassung zu folgen ist, kann hier nicht entschieden werden. Der Argumentation des Verfassers von der Vorbildwirkung der kommunalen Bewegung, die sich auch in Deutschland im Ringen zwischen Bürgerschaft und Stadtherrn um Autonomie zeigt und zu verschiedenen Kompromißformen führt, und von der Bedeutung des Bürgereids für Friedenswahrung und Rechtssetzung wird man sich jedenfalls anschließen müssen. Eingehend wird, im Anschluß an die Untersuchungen W. Ebels, die Verwillkürung durch Eid als Basis neuen Rechts dargetan (S. 384ff.). Ein Abschnitt über die lange Zeit sehr umstrittene Frage der Entstehung des Stadtrats (S. 390ff.) und ein knapper Rückblick, der nochmals die methodischen Angelpunkte und den Bezug zu M. Webers idealtypischer Betrachtungsweise verdeutlicht, beschließen dieses Kapitel.

Das Kapitel D über die kommunale Stadt des Mittelalters (S. 405ff.) ist mit fast 280 Seiten das bei weitem umfangreichste der vier Kapitel, dessen großer Detailreichtum sich stets ausgewogen in übersichtliche Gliederung und stringente Linienführung einfügt. Ein gleichermaßen transparentes wie differenziertes Bild wird von den Formen der Stadtherrschaft entworfen, die zugleich die Städte kategorisieren, von den Reichsstädten bis zu den kleinen grundherrlichen Städten hinunter (S. 408ff.). Die Entwicklung der Bürgerschaft zur körperschaftlichen Gemeinde (S. 426ff.) wird anhand der urkundlichen Terminologie sowie auf dem Hintergrund der in Bologna sich ausbildenden juristischen Begrifflichkeit, insbesondere der kanonistischen Körperschaftslehre, verfolgt und auch die überwiegend ablehnende Haltung der Kirche gegenüber kommunalen Umtrieben und bürgerlichem Status dargestellt. Privilegiale Ausstattung von Stadt und Bürgern, Gewohnheitsrecht und Willkür als weitere Bestandteile städtischen Rechts leiten über zu dem umfangreichen Abschnitt über Bürger, Einwohner, Fremde, wobei die vorzüglichen Ausführungen über die Juden (S. 464f.) hervorzuheben sind. Dasselbe gilt für die Problematisierung des meist unreflektiert verwendeten Begriffs der städtischen Gesellschaft (S. 481ff.), der gegen ländliche und präurbane hierarchische Sozialstrukturen abgegrenzt wird. Unter dem Titel Rechtsstrukturen von Wirtschaft und Gesellschaft wird unter anderem die verfassungsrechtliche Relevanz von Erwerbsleben und Sozialgefüge herausgearbeitet (S. 489ff.), wie etwa die Frage nach den sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Vorrechts der Ratsbesetzung. Das Problem der Gesellschaftsschichtung wird anhand verschiedener Modelle vorgestellt, dem der empirischen Soziologie entnommenen Dreischichtenmodell nach dem Kriterium des Vermögens und dem an Standes- und Gruppenzugehörigkeit ausgerichteten Modell. Der Verfasser verbindet beide Modelle, um einerseits der Dynamik der mittelalterlichen städtischen Gesellschaft, andererseits aber auch ihrer sozialen und rechtlichen Gliederung und Gebundenheit, die sie von der liberalen, egalitären Gesellschaft des 19. Jahrhunderts grundlegend unterscheidet, gerecht zu werden. Als rechtlich-soziale und zugleich wirtschaftsrelevante Strukturen beschreibt er Haus und Familie (das ganze Haus), genossenschaftliche Gruppen (Bruderschaften, Gilde, Zunft, Gesellschaft), die in zünftische und nichtzünftische Gewerbetätigkeit gegliederte Gewerbeordnung und schließlich die Ordnung des Handels, verbunden mit Markt- und Messeregelungen (S. 496ff.). Ausführlich wird sodann die Ratsverfassung als politische Ordnung behandelt (S. 537ff.), die Gebots-, Gerichts- und Zwangsgewalt des Rats in ihren unterschiedlichen Wurzeln - teils der Bürgereid, teils die erworbenen obrigkeitlichen Rechte der traditionalen Herrschaftsordnung - analysiert. Innerhalb des breiten Literaturspektrums zur politischen Bewertung der Ratsherrschaft qualifiziert G. Dilcher in Übereinstimmung mit M. Weber die Ratsherrschaft als überwiegend dem Typus der rationalen Herrschaft zugehörig, mithin in Gegensatz zur Feudalherrschaft stehend, und die Stadt als republikanisch regiertes Gemeinwesen (S. 555).

Geschildert werden - in der Zusammenführung meist getrennt oder gar nicht behandelter Aspekte eindrucksvoll - die Schutz- und Fürsorgefunktionen der Stadt, die wiederum die Individualisierung der Bürger (gegenüber traditionellem Denken in Verwandtschaftsverbänden) befördern (S. 568ff.). In einem weiteren Abschnitt über Gericht und Verwaltung (S. 580ff.) werden Grundstrukturen der im einzelnen oft unübersichtlichen und unklaren Gerichtsverhältnisse deutlich gemacht, insbesondere die seit den Untersuchungen W. Ebels ins Bewußtsein getretene Ratsgerichtsbarkeit, gekennzeichnet durch die Formlosigkeit des Verfahrens, in Konkurrenz und Verflechtung mit stadtherrlichen Gerichten und traditionellen Verfahren. Die städtische Verwaltung des 14./15. Jahrhunderts wird als Verwaltung i.S. M. Webers qualifiziert, gegründet auf Amtsbegriff, Objektivierung, Ausdifferenzierung und Abgrenzung von Kompetenzen, insofern als Ausdruck legaler und rational begründeter Herrschaft (S. 592ff.).

Der zweite Teil dieses Kapitels ist nicht mehr der Verfassungsordnung, sondern dem Stadtrecht im engeren Sinn gewidmet (S. 600 ff.), d. h. Privat-, Straf- und Verfahrensrecht. Der Beobachtung des Verfassers, daß die traditionelle Trennung der Lehrbuchgattungen in Deutsche Rechtsgeschichte und Deutsches Privatrecht der Erfassung des Stadtrechts in seiner Besonderheit und Eigenständigkeit hinderlich gewesen sei, kann nur zugestimmt werden (S. 601ff.). Erst W. Ebel sind hier grundlegende Einsichten zur spezifischen Rationalität, Ökonomisierung und Mobilisierung des städtischen Rechts zu verdanken, die K. Kroeschell 1972 in den ersten Band seiner Rechtsgeschichte aufnahm, G.Dilcher in seinem Beitrag „Hell, verständig, für die Gegenwart sorgend, die Zukunft bedenkend“ (in: ZRG Germ. Abt. 106 (1989), 12-45) weiterentwickelte und in den Rahmen des okzidentalen Rationalitätsmodells Max Webers stellte. Dargestellt werden nochmals die Quellentypen des Stadtrechts - Privileg, Gewohnheit, Willkür, woraus allmählich das Gebots- und Verordnungsrecht des Rats erwächst, dessen Grenzen kaum kontrolliert in der Interpretationsmacht des Rates lagen (S. 617). Die Quellen der Rechtspraxis, wie etwa Urteilssprüche, werden nur knapp skizziert, wiewohl der Verfasser ihnen zu Recht weit höheren Aussagewert zuschreibt als den normativen Quellen, da auch in der mittelalterlichen Stadt das Verhältnis von normativen Quellen zur Rechtspraxis anders gestaltet war, als wir es uns unter der Prägung durch moderne rechtsstaatliche Rechtsanwendungsmodelle vorzustellen pflegen (S. 618). Von den spätmittelalterlichen Entwicklungen der Stadtrechtsbewidmungen und Stadtrechtsfamilien - ausführlich dargestellt werden der lübische und der Magdeburger Rechtskreis (S. 632ff.) - führt der Abschnitt über Friede und Strafe (S. 640ff.) wieder in das hohe Mittelalter zurück. Herausgearbeitet wird die im Vergleich zur feudalen Umwelt stärkere Grundlage und Qualität des städtischen Friedens, basierend auf der Gleichheit im Bürgereid und das durch Bürgereid begründete Freundesverhältnis, in ein Gewaltmonopol der städtischen Obrigkeit mündend. Die geschworene Friedensordnung bedeutet aber auch Verwillkürung von Gut und Leben und damit Strafgewalt für den Rat. Skizziert wird die Entwicklung von polizeilicher Ordnung und peinlichem Strafrecht und - sehr kurz - von Rüge- und Inquisitionsverfahren (S. 648ff.). Zutreffend und - unter Hinweis auf den in der Tat besonders unbefriedigenden Forschungsstand - behutsam wird das Zurücktreten des formalen Beweisverfahrens zugunsten der Wahrheitsermittlung dienender Prozeduren dargelegt (S. 650ff.).

Ein besonderes Verdienst liegt in der Einbeziehung des städtischen Privat- und Handelsrechts, insbesondere des Gesellschafts- und Wechselrechts der mediterranen Welt wie der Hanse (654ff.), dessen präzise wie plastische Darstellung sich vorzüglich in den gezeichneten wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Rahmen einfügt und geradezu beispielhaft die rechtsgeschichtliche Analyse mit den historischen Disziplinen verbindet.

Das letzte Kapitel behandelt die Stadt zwischen Mittelalter und Moderne (S. 683ff.). Wenngleich der Verfasser ankündigt, die Strukturen von Recht und Verfassung der neuzeitlichen Städte nur in groben Zügen zeichnen zu wollen (S. 688), entsteht ein gleichermaßen dichtes wie differenziertes Bild der städtischen Verfassungs-, Rechts- und Sozialgeschichte. So unbestreitbar im Gefolge der neuen Handelswege und des Dreißigjährigen Krieges die wirtschaftliche und politische Stagnation der Städte und die Verlagerung des Modernisierungsimpulses auf den Fürstenstaat festzustellen sind, so kommt den Städten doch weiterhin als Siedlungs-, Bildungs-, Verwaltungszentren und als Wirtschaftsfaktor erhebliche Bedeutung zu. Nicht zu Unrecht bemerkt G. Dilcher, daß die Urbanisierung politischer Herrschaft in Gestalt der Residenzstädte vielleicht sogar den nachdrücklichsten Sieg der Stadt im mitteleuropäischen Raum darstelle (S. 690). Eindringlich wird ferner im Anschluß an die neuere Reformationsforschung die Reformation auch als städtisches Ereignis gewürdigt (S. 698ff.), wobei der religiöse Gemeindegedanke der neuen Lehren gerade von der städtischen Bevölkerung, nicht vom Patriziat, aufgenommen wurde und - wenngleich nur vorübergehend - zur erfolgreichen politischen Aktivierung der städtischen Gemeinde gegen oligarchische Tendenzen des Rats führte.

Das Verhältnis zwischen Rat und Bürgerschaft wird auch innerhalb des Abschnitts über die Reichsstädte (S. 712ff., 721ff.) behandelt, wobei gegenüber der bekannten Verhärtung der Ratsverfassung auch Gegengewichte akzentuiert werden, nämlich Unruhen und Konflikte mit der Bürgerschaft, die ihren Widerstand zunehmend in Rechtsgutachten und Prozessen zum Ausdruck bringt. In eindrucksvollen Beispielen wird die juristische wie die staatstheoretische Diskussion dargelegt, deren Bedeutung für das Verständnis der Stadtverfassung erst in jüngster Zeit herausgestellt worden ist.

Auch die Landes- oder Territorialstädte werden in ihrer äußeren verfassungsrechtlichen Stellung wie in ihrer inneren Ordnung dargestellt, wobei ein sehr informativer Abschnitt über die regionale Typik dieser Städte vorangeht (S. 743ff.), der zugleich den erklärenden Hintergrund für die graduell unterschiedliche Einschmelzung der Städte in den Fürstenstaat bildet (S. 749ff.).

Unter dem zusammenfassenden Titel Das Stadtrecht (S. 764ff.) werden die wichtige Quellengattung der Stadtrechtsreformationen behandelt, Funktion und dienstrechtliche Stellung der städtischen Juristen, die gelehrte Literatur, insbesondere die Reichspublizistik zu Stadtverfassung und Stadtrecht - hier bringt der Verfasser eine noch weitgehend unausgewertete Quellenebene in die städtische Rechtsgeschichte ein - und die europaweite Emanzipation des Handelsrechts zur Handelsrechtswissenschaft. Was die Bewertung der Stadtrechtsreformationen angeht, so ist dem Verfasser in seiner Kritik an einer allzu verengten, auf das Privatrecht zentrierten Wahrnehmung (S. 767) nachdrücklich zuzustimmen.

Der letzte Abschnitt der Gesamtdarstellung ist den sozialen Ordnungsprinzipien der deutschen Stadtbürgerschaft zwischen Mittelalter und Moderne gewidmet (S. 802ff.), die zugleich dazu dienen, das oft benannte Phänomen der Vergreisung der Städte und insbesondere der Reichsstädte am Ende des Alten Reiches zu analysieren. Thematisiert wird vor allem der erstarrende, ständische gestufte Ehrbegriff innerhalb der städtischen Gesellschaft, der die mittelalterlichen Ordnungswerte - das Gemeindeprinzip und den städtischen Frieden - verblassen läßt. Ferner das Prinzip der auskömmlichen Nahrung mit Abschottung der Zünfte nach außen, so daß wirtschaftliche Modernisierungsbewegungen an den Städten vorbeigehen. Behandelt wird auch das Konzept der Sozialdisziplinierung im Rahmen der ständischen Ordnung (S. 810ff.). Gleichwohl läßt es der Verfasser nicht bei dem negativen Prozeß der Versteinerung bewenden. So legt er dar, daß im Wege freier Vereinigung kritische bürgerliche Minderheiten, organisiert in den sog. Sprachgesellschaften des 17., in den Deutschen oder Patriotischen Gesellschaften des 18. und in den Lesegesellschaften seit Ende des 18. Jahrhunderts, Träger neuen Denkens werden (S. 818ff.). Ein Ausblick auf das 19. Jahrhundert beschließt die Darstellung, gefolgt von einem Personen-, Orts- und Sachregister (S. 829-853).

Wenn es nun darum geht, einen Gesamteindruck zu formulieren, so muß zunächst bei der Darstellungsweise verweilt werden. G. Dilcher ist eine ausgewogene Balance gelungen zwischen abstrakt-typisierender Betrachtung und Wiedergabe konkreter Beispiele, die die Typik illustrieren, darüber hinaus aber stets eine Vorstellung des individuellen Formenreichtums vermitteln. Die selbstverständliche Präsenz der europäischen Dimension, die interdisziplinäre Ausrichtung, die Einbeziehung aktueller Forschungsrichtungen, die Transparenz der Darstellung auch komplexer Problemkreise, gelegentliche Formulierungen von großer Einprägsamkeit und Dichte, die durchgestaltete und dennoch mühelose Sprache informieren nicht nur, sondern gewähren darüber hinaus eine außerordentlich anregende Lektüre von hohem intellektuellen und ästhetischen Reiz.

Wie G. Dilcher selbst klarstellt, hat er den Weg einer strukturgeschichtlichen, typisierenden Darstellung gewählt. Nun sind Strukturen nichts schlechthin Vorgegebenes. Die außerordentliche Fülle der spätmittelalterlichen stadtgeschichtlichen Quellen, die Kargheit der Quellen aus der Epoche der Stadtentstehung: beide Quellenlagen lassen erhebliche Deutungsspielräume zu, wie die dargestellten unterschiedlichen, zuweilen kontrastierenden Interpretationen in der stadtrechtsgeschichtlichen Literatur zur Genüge belegen. Es ist nicht zuletzt die Perspektive des Forschers, die bestimmte historische Gegebenheiten als strukturbildend qualifiziert, andere als Strukturvarianten, wieder andere als Akzidentien einstuft. G. Dilcher hat - trotz allen Facettenreichtums und Einbeziehung eines breiten Literaturspektrums - ein Bild der mittelalterlichen Stadt in Entstehung und Weiterentwicklung von beeindruckender Geschlossenheit und innerer Stimmigkeit entworfen, ausgerichtet - wie er selbst wiederholt bekundet - am Idealtypus der okzidentalen Stadt. Initialzündung und Motor der kommunalen Stadt ist strukturell die durch Eid begründete Genossenschaft der Bürger. Die Stadt ist als Gemeinwesen konzipiert, das in grundlegenden Gegensatz zur feudalen Umwelt tritt: die grundsätzliche Gleichheit der geschworenen Bürger, die besondere Qualität des städtischen Friedens, die Entwicklung eines eigenen städtischen Rechts und dessen Schriftlichkeit, die städtische Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft, die Ratsherrschaft als vorwiegend rational begründete, nicht autogene Herrschaft, die städtische Verwaltung mit Amtscharakter und Kompetenzausfächerung. Wenngleich es nicht möglich erscheint, dieser Konzeption ein gleichermaßen überzeugendes Gegenmodell entgegenzusetzen - die Stadt etwa als eine Ausprägung feudaler Ordnung -, so bleiben doch deutlich relativierende Perspektiven denkbar. Die arbiträre Strafgewalt des mittelalterlichen Rats etwa, die Einflußnahme angesehener Familien - könnten dies nicht auch strukturelle Elemente städtischer Rechtspflege sein, um nur ein Beispiel zu nennen ?

Diese marginalen Überlegungen bedeuten indessen keine Kritik an der Entscheidung des Verfassers für die vorgelegte klare und stringente Grundkonzeption. Es ist vielmehr das große Verdienst G. Dilchers, die Masse auseinanderstrebender Detailforschung unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt, in eine umfassende Konzeption eingebunden und somit eine Plattform und Bezugsgröße für die zukünftige Einzelforschung geschaffen zu haben.

Die persönliche Handschrift, die beide Autoren ihrem Text verliehen haben, gibt dem Band eher den Charakter einer Monographie als eines Handbuchs. Dank der umfangreichen Literaturhinweise, sowohl vor den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten als auch in den Fußnoten, kann das Werk aber auch im Sinne eines Handbuchs benutzt werden.

Freiburg im Breisgau                                                                           Karin Nehlsen- von Stryk