MittenzweiGrunert20000914 Nr. 10125 ZRG 118 (2001)

 

 

Grunert, Frank, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphi­losophie der deutschen Frühaufklärung. Max Niemeyer, Tübingen 2000, IX, 310 S.

Legitimität ist ein Bewußtseinsphänomen. Kollektiv bindende Entscheidungen, die tatsächlich für bestimmte Zeit gelten, beruhen entweder auf purer Gewalt oder einer poli­tischen Struktur, die als legitim akzeptiert wird. Legitimität muß daher begründet werden, wobei freilich - wie die Geschichte lehrt - die Kriterien der Akzeptanz selbst wandelbar und begründungsbedürftig sind.

Die politische Theorie des 17. Jahrhunderts war, wie nachträglich aus historischer Perspektive verständlich ist, infolge der Religionskriege in besonderem Maße mit der Begründung und Plausibilisierung legitimer Herrschaft befaßt. Die religiösen Gegensätze erschütterten die überkommene politische Ordnung und forderten zu geistiger Anstrengung heraus, um die sozialen Verhältnisse faktisch zu befrieden und die sich wandelnden Herrschaftsstruk­turen theoretisch neu zu legitimieren. Rückblickend läßt sich mit guten Grund das 17. Jahrhundert als das klassische Zeitalter der modernen Rechts- und Staatsphilosophie bezeichnen. Während in der internationalen Diskussion dabei die politische Theorien von Thomas Hobbes und John Locke im Vordergrund stehen, widmet sich die vorliegende Arbeit fünf politischen  Denkern, die vor allem im deutschen Sprachraum von mehr oder weniger großen Einfluß gewesen sind.

Bei der Auswahl der fünf Autoren war das Interesse des Verfassers und seines Mentors Werner Schneiders an dem Rechtsphilosophen Christian Thomasius einerseits und an der politischen Philosophie der deutschen Frühaufklärung andererseits entscheidend gewesen. Mit gutem Grund fiel die Wahl deshalb auf Veit Ludwig von Seckendorff, Valentin Alberti, Hugo Grotius und Samuel Pufendorf; sie waren zweifellos Exponenten einer leidenschaftliche Diskussion, an der sich auch Christian Thomasius beteiligte und die dieser später im konfliktreichen Spannungsfeld zwischen Absolutismus und politi­scher Aufklärung zugunsten der letzteren Position weiterführte.

Die genannten Theoretiker verfolgten alle, wenn auch auf verschiedenen Wegen und mit unterschiedlichen Methoden, das gleicher Ziel der Entwicklung einer tragfähigen Theorie der Legitimation, mit deren Hilfe man die vorliegenden politischen Strukturen normativ einholen und das Beziehungsgeflecht zwischen Fürst und Untertan normativ hätte stabili­sieren können. Für die Darstellung der dabei auftauchenden, vielschichtigen Begrün­dungsprobleme wählt der Verfasser einen einleuchtenden dreistufigen Aufbau, in dem er zunächst die theologisch fundierten Legitimationstheorien beschreibt (Seckendorff, Alberti), sodann ihre Überwindung durch eine säkularisierte Rechtstheorie schildert (Grotius, Pufendorf), um schließlich deren Erweiterung durch die Aufklärung herauszuarbeiten (Thomasius).

Die interessante und lehreiche Studie dokumentiert noch einmal die Vehemenz, mit der sich die Vertreter der Theologie gegen den immer klarer hervortretenden Bedeutungs­verlust ihrer Disziplin wehrten, andererseits aber auch, daß trotz der Abkehr von der Offenbarungstheologie als Grundlage einer politischen Ordnung die Religion ein wich­tiger Bestandteil der nachfolgenden, säkularisierenden Naturrechtstheorien blieb. Abge­sehen davon, daß weder Grotius noch Pufendorf oder Thomasius die Offenbarung als Grundlage subjektiver Frömmigkeit in irgendeiner Weise in Frage stellten, bleibt für alle drei genannten Denker der philosophisch begründete Gott der natürlichen Religion weiterhin Fundament ihrer Naturrechtsauffassung. Darüber hinaus richten sich für Thomasius moralische Anforderungen der christlichen Religion nicht nur gegen den Untertan, sondern in gleicher Weise gegen den Fürsten, der dadurch höheren Ansprü­chen des Regierens ausgesetzt ist als ein Vertreter der Obrigkeit, der lediglich auf dem unverzichtbaren Fundament der natürlichen Religion steht.

Die Emanzipation der politischen Legitimität des Staates von einer offenbarungstheologi­schen Begründung führt zu einer vernunftorientierten, an Rechtsnormen ausgerichteten, neuen Rationalität. Als zentrale Argumentationsfigur im Prozeß der Verrechtlichung des Politischen taucht die Vertragslehre auf, die seit Grotius als juristischer „Kontraktua­lismus“ die Diskussion wesentlich mitbestimmt. Sie ermöglicht sowohl die Legitimation historisch zufällig entstandener Machtzentren als auch deren rechtliche Ordnung. Herr­schaft wird auf durchschaubare Weise handhabbar, ist prinzipiell begrenzt und auf bestimmte Zwecke festgelegt. Der statt auf Offenbarung auf Rationalität gegründete Staat bringt nicht mehr alles hervor, kann aber auch nicht mehr über alles verfügen. Dennoch bleibt er selbst bei Thomasius absolutistisch verfaßt und schließt den Bürger von der Teilhabe an der Macht aus.

Der Weg zur politischen Freiheit des Einzelnen ist auch vom Standpunkt der deutschen Frühaufklärung noch weit.

Köln                                                                                                              Ingo Mittenzwei