LacourSailer20000412 Nr. 10004 ZRG 118 (2001)

 

 

Sailer, Rita, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich Band 33). Böhlau, Köln – Weimar - Wien 1999. XL, 479 S.

Die Studie basiert auf fünf ausgewählten Prozessen, die aus dem deutschen Südwesten an das Reichskammergericht gelangten und sich drei Gruppen zuordnen lassen: Bauernprozesse um Weide- und Waldnutzungsrechte sowie Frondienste, ein reichsstädtischer Verfassungskonflikt und Policeysachen, in denen es um die Frage ging, ob die Obrigkeit ihre Policeygewalt über­schritten hatte. „Untertanenprozesse“ wurden auch in der zeitgenössischen juristischen Literatur als eigenständige Prozesskategorie behandelt. Für sie galten Sonderregeln, die nach Auffassung von Rita Sailer das Mandatsverfahren als schnell wirkendes Rechtsmittel „zu einer stumpfen Waffe“ werden ließen (S. 468): Schon vom Visitationsmemorial von 1568 und dem Reichs­abschied von 1594 gefordert, setzten die Reichsstände beim Visitationsabschied von 1769 in diesen Verfahren eine Berichterfordernis zwingend durch. Dies verschaffte der beklagten Obrig­keit einen zeitlichen Spielraum, den sie zur Verschleppung des Verfahrens nutzen konnte.

Beim Vorgehen des Reichskammergerichts fällt auf, dass regelmäßig von der Vermutung ausgegangen wurde, die beklagte Herrschaft habe rechtmäßig gehandelt, und Ordinationen gegen sie - besonders wenn Untertanenverbände als Kläger auftraten - nur zögerlich verhängt wurden. Gleichzeitig schreckte das Reichskammergericht nicht vor energischen und schnellen Schritten zurück, wenn es die eigene Entscheidungskompetenz und Kontrollbefugnis bedroht sah, z. B. wenn die Herrschaft durch eine militärische Exekution vollendete Tatsachen zu schaffen suchte. Das Reichskammergericht glich das Ungleichgewicht zwischen Obrigkeit und Untertanen nicht aus, zumal man gegen Ende des Alten Reiches nicht riskieren wollte, den Widerstand der Untertanen anzuheizen. Den Kern dieser Freiburger Dissertation bildet die „Analyse der juristischen Begründungsmuster“ vor allem des Gerichts, „da sie Einblick in die Grundprobleme und Grundprinzipien eröffnen, die in der Rechtsordnung des Alten Reiches für das Verhältnis zwischen Untertanen und Obrigkeit bestanden“ (S. 14).

Bei den Bauernprozessen zeigt sich, dass die zunehmende „Höherbewertung und Aus­dehnung“ des Eigentumsbegriffs „das an Nutzung orientierte Rechtsdenken verdrängte“ - zu Ungunsten der Bauern, die oft nur Nutzungs-, nicht aber Eigentumsrechte nachweisen konnten (S. 158). Das alte Nahrungsprinzip schrumpfte auf einen Minimalbestand zusammen. Bezüglich der Frondienste orientierte sich das Reichskammergericht an Estors praesumtio contra rusticos, der Vermutung also, leibeigene Bauern seien grundsätzlich zu ungemessenen Fronen verpflichtet. Zum Beweis der Leibeigenschaft genügten minimale Kriterien wie Todfall oder die Begrenzung der Freizügigkeit. Das Reichskammergericht verwischte so die enorm unterschiedlichen Verhältnisse im Reich und erhob die ostelbischen Verhältnisse zur Regel.

Die Judikatur in reichsstädtischen Bürgerprozessen lässt erkennen, dass die Ermöglichung einer breiten Repräsentationsbasis und die Verhinderung oligarchischer Verflechtungen zu den vorrangigen Zielen des Reichskammergerichts zählte. Weiter bemühte es sich um die Verbesserung der Verwal­tung und der bestehenden Verfassung, ohne die Veränderung der hergebrachten Ordnung oder bürgerliche Forderungen nach Gewaltenkontrolle und Partizipation zuzulassen. Gleichzeitig wies es den Souveränitätsanspruch des Magistrats zurück und beharrte darauf, dass die Gewalt in Reichstädten beim ganzen Gemeinwesen liege und der Magistrat die Bürger repräsentiere.

Das Reichskammergericht nahm Klagen der Untertanen in Policeysachen mit Ausnahme offensichtlich unbegründeter Fälle, die nach summarischer Prüfung abgewiesen wurden, an, denn es bean­spruchte für sich die Kontrollbefugnis über die Bestandskraft wohlerworbener Rechte, die Ein­haltung der Reichsgesetze und die Rechtsanwendung. „Das Selbstbewußtsein aller Assessoren beruhte darauf, gegen rechtswidrige Übergriffe der Mächtigen einzuschreiten“ (S. 479). Privile­gien wurden in ihrem Bestand garantiert und schränkten damit die landesherrliche Policeygewalt ein. Doch für den Fall, dass subjektive Rechte dem Gemeinwohl schädlich waren oder natürliche Freiheiten einschränkten, legitimierte das Reichskammergericht ihre Aufhebung. Dadurch wurde der Grundsatz pacta sunt servanda am Ende des 18. Jahrhunderts. durch den Gemeinwohlgedanken ausgehöhlt. Der statische Charakter des Rechts wurde „mit der Mobilität der Gesetzgebung verbunden“ (S. 444). Die Anerkennung der salus publica als Rechtsprinzip opferte alte Gerechtigkeiten und ermöglichte „den Wandel von der altständischen, durch eine Vielzahl von Sonderrechten geprägten Rechts­ordnung zur Gesellschaft freier und gleicher Bürger“ (S. 477). Allerdings zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zur Rechtsprechung in Bauernpozessen. Waren Bürger betroffen, ermöglichte die Berücksichtigung des Gemeinwohles eine Liberalisierung, während man es hinsichtlich der Fronpflicht beim Herkommen beließ.

Insgesamt gelangt man mit der Studie zu dem Fazit, dass die „noch weitgehend“ von Smend geprägte Bewertung, „wonach das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches mehr denn je versagt“ habe, als überholt zu betrachten ist (S. 467).

Nicht viel mehr als ein in den historischen Wissenschaften häufig anzutreffender Schön­heitsfehler ist der vollständige Verzicht auf jede statistische Analyse der quantitativen Befunde. Vor einer weit reichenden Interpretation schreckt Vf. dennoch nicht zurück, obwohl es ohne Hilfe der Stochastik vollkommen unmöglich ist, wahre Effekte von zufälligen Schwankungen zu unterscheiden. Glücklicherweise relativiert die Statistik nur wenige der getroffenen Aussagen. Richtig ist, dass Untertanenprozesse überwiegend aus Kleinterritorien an das Reichskammergericht gelangten. Die in der badischen Landesordnung von 1495 und dem Landrecht von 1622 erlassenen Appellationsverbote zeigten also (auch ohne Appellationsprivileg) Wirkung. Nach dem 16. Jahrhundert verlor das Reichskammergericht nicht an Bedeutung: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich - zumindest für den Südwesten Deutschlands - ein neuer Höhepunkt der Anzahl an Klagen erkennen, besonders für geistliche Fürstentümer (sowohl absolut als auch anteilig). Einzelpersonen genossen vor dem Reichskammergericht keinen schlechteren Rechtsschutz als Untertanenverbände. Nicht haltbar ist die Aussage, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stünden die Prozesse um individuelle Rechte gegenüber den Klagen von Gemeinden „deutlich im Vordergrund“, im 17. Jahrhundert kippe das Verhältnis allmählich um und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergebe sich „ein Übergewicht der kommunalen Prozesse“ (S. 19). Mathematisch lässt sich für keinen der Zeiträume eine signifikante Abweichung von der Gleichverteilung nachweisen. Die Schlussfolgerung hinsichtlich der „Zunahme des innergesellschaftlichen Konfliktpotentials“ findet also in den Zahlen keine Stütze. Die Aussagen zum Streitgegenstand sind teilweise richtig. Bis 1700 stellten die Klagen wegen unbefugter Gefangennahme mit einem Anteil von rund einem Fünftel aller Klagen die größte Kategorie dar. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist demgegenüber ein signifikanter Rückgang dieses Typs auf 2,6% zu bemerken. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angeblich „auffällig hohe ( ) Anteil der Prozesse (...) von Beamten gegen ihre Dienstherrn“ beträgt 9,1%, was gegenüber den 8,8% in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keine signifikante Veränderung darstellt (S. 20).

Anschau                                                                                                         Eva Lacour