HaferkampBrockmöller20000724 Nr. 1190 ZRG 118 (2001)

 

 

Brockmöller, Annette, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland (= Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 14). Nomos, Baden-Baden 1997. 297 S.

In ihrer Göttinger Dissertation begibt sich die Verfasserin auf die Suche nach den „wissenschaftstheoretischen Bedingungen“ (S. 15), den „theoriegeschichtlichen Motiven“ (S. 13), die zur Herausbildung der Rechtstheorie als eigenständiger Disziplin führten. Mit Blick auf die Rechtslehren von acht Juristen sowie auf die Entwicklung des „Allgemeinen Teils“ und der Enzyklopädienliteratur verfolgt die Verfasserin dabei eine Entwicklungslinie, die vor allem von Franz Wieacker[1] und dem Betreuer der Arbeit, Ralf Dreier[2], gezogen wurde.

Will man die Veränderung wissenschaftstheoretischer Rahmenbedingungen in Deutschland im 19. Jahrhundert anhand der Rechtslehre einzelner Juristen untersuchen, so kommt es für das Ergebnis erstens entscheidend darauf an, wen man auswählt. Die Verfasserin wählt Hugo, Falck, Savigny, Puchta, Jhering, Merkel, Bierling und Bergbohm. Am Rande erscheinen etwa Feuerbach (S. 41f.), Kierulff (S. 180ff., 187f.) oder B. W. Leist (S. 188). Andere Linien hätten sich vielleicht ergeben, wenn man etwa Hegelianer wie Gans oder Christiansen, aber auch den in seinem Systemaufbau vieldiskutierten Stahl, für die spätere Zeit etwa Stammler überprüft hätte. Die Verfasserin begründet ihre Auswahl ohne nähere Angaben damit, daß eben diese acht Juristen „für die Entwicklung der Disziplin als führend angesehen“ werden (S. 273). Mit dieser Einschätzung deutet sie früh Einigkeit an (vgl. S. l9 Anm. 22). Bewußt ausgespart wird von Anfang an die, freilich fast uferlose, „rechtsphilosophische Literatur“ mit dem Argument, daß die Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert eine eigene, von der Rechtstheorie getrennte Entwicklung durchlaufen habe (S. 16). Dies war freilich, besonders nach den eingangs (S. 13ff.) herausgestellten Abgrenzungsproblemen zwischen beiden Disziplinen, gerade nachzuweisen.

Damit wird zugleich deutlich, daß das Ergebnis zweitens davon abhängt, was man als Rechtstheorie definiert. Die Verfasserin gibt keine eigene Definition. Das Raster, unter welchem die Verfasserin die Rechtslehren der genannten Autoren untersucht (S. 19: Rechtsquellen, Rechtsbegriff, Recht und Moral, Gegenstandsbereich Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, Verständnis von Rechtswissenschaft, Methode und System) und die Ergebnisse machen Schwerpunktsetzungen deutlich. Rechtstheorie ist auf das positive Recht gerichtet, versteht sich als Wissenschaft und arbeitet systematisch mit dem Ziel der „’Theoretisierung der Dogmatik’“ (S. 245). Mit dem Blick auf das Verhältnis von Recht und Moral möchte die Verfasserin zudem die These überprüfen, die Rechtstheorie habe sich aus dem „juristischen Positivismus“ entwickelt. Das Arbeitsprogramm, welches sich die Verfasserin damit gestellt hat, ist immens, es geht unter anderem um nicht weniger als eine weitreichende Darstellung der vielleicht wichtigsten, jedenfalls meistdiskutierten Rechtslehren und daneben um eine Systemgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Schon durch den nicht hinreichend trennscharfen Fluchtpunkt und die damit noch gesteigerte Komplexität der zu behandelnden Fragen wird dem Leser der Zugang nicht unbeträchtlich erschwert. Hinzu kommt die Neigung der Autorin, in den Fußnoten, aber auch im Haupttext eine Fülle von bisweilen randständigen Einzeldebatten zu führen[3], so daß es gelegentlich schwer fällt, die Linie der Beweisführung im Blick zu behalten. Positiv fallt die sehr gute Kenntnis und Auswertung der Sekundärliteratur[4] in Gewicht, welche die Verfasserin neuere Forschungsergebnisse durchgängig beachten läßt.

Ungefähr folgende Linie ergibt sich: Im Umfeld Kants werde Erfahrung zum Gegenstand der Wissenschaft und System zu ihrem Signum. Zugleich schaffe die Neuausrichtung des Naturrechts zur Legitimation eines gegen staatliche Bevormundung gerichteten bürgerlichen Handlungsfreiraums ein „Regelungsvakuum“ (S. 38), welches zum Gegenstand der Rechtswissenschaft werde. Angesichts einer weiterhin zersplitterten Rechtsquellenlage wird für die Verfasserin die Suche nach dem „’Geist des Rechts’ ... zum entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert“ (S. 38). Die historische Rechtsschule gebe dem bisher philosophisch oder statistisch abgeleiteten Rechtsbegriff ein neues Fundament, indem sie im Gefolge Hugos versucht habe, „empirisch festzustellen, was in der Gesellschaft als Recht gilt“, um „daran anknüpfend ... eine normative Theorie“ zu formulieren (S. 42). Hugos Philosophie des positiven Rechts diene dazu, das Naturrecht durch eine „allgemeine Theorie des geltenden Rechts“ (S. 67) zu ersetzen. Gleiches gelte für Falcks auch auf das deutsche Recht erweiterte formale „Strukturtheorie des Rechts“, die erstmals auch als eigene Disziplin die Wissenschaftlichkeit der Bearbeitung positiven Rechts vertreten habe (S. 77).

Bei Savigny verschmelzen für Brockmöller die ausgegliederten Disziplinen erneut, da erstmals die Jurisprudenz, von den Disziplinen Philosophie und Geschichte emanzipiert, Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben habe. Mit dem Anspruch, die systematischen Strukturen dem „nothwendigen“ Recht zu entnehmen, werde Savigny zum „erste[n] Rechtstheoretiker“ (S. 113). Bei Puchta gerate dieses Fundament wieder ins Wanken. In Puchtas Rechtsquellenlehre verblasse insbesondere der Volksgeist (S. 121: „Anzeichen eines Gesetzespositivismus“); auch Puchtas unausgewogenes Systemkonzept trage die Idee eines „mit Nothwendigkeit sich entwickelnden Rechtssystems“ kaum noch (S. 124).

Einen interessanten Blick in den Kontext dieser Entwicklungen wirft Brockmöller mit einer Analyse der „Systematisierungsbestrebungen“ im 19. Jahrhundert (S. 137‑182). Anhand der Enzyklopädienliteratur wird deutlich, daß sich in den zunächst ausschließlich zu Lehrzwecken erstellten Werken zunehmend die Vorstellung einer eigenständigen Disziplin herausbildet, einer „Wissenschaft der Rechtswissenschaft“ (S. 153). Ab den sechziger Jahren stellt die Verfasserin dann erneut eine Wandlung fest. Begriff und Geltung des Rechts würden zunehmend „abstrakt“, also weniger an empirischen Rechtssätzen orientiert, bestimmt (S. 165).

Vater dieser Entwicklung von „systematischer Jurisprudenz zu Allgemeiner Theorie des Rechts“ sei Jhering. Während Savigny in seiner Orientierung an der Rechtsquellenlehre noch „empirisch“ verfahren sei, habe Jherings „Naturlehre“ des Rechts erstmals „analytisch“ versucht, „unabhängig von der Rechtsquellenlage allgemeine Aussagen über das Recht zu gewinnen“ (S. 274). Jherings Schwerpunkte verdeutlichen für die Verfasserin die gewandelten Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 183ff.). Die zunehmende Kodifizierung des Rechtsstoffs führe zu einer Verlagerung der Debatte von der Rechtsquellenproblematik auf Methodenfragen. Die Vorstellung der Wissenschaft als Rechtsquelle weiche der Aufgabe, durch Aufarbeitung der rechtlichen Strukturen der rechtsfortbildenden Rechtsdogmatik und Rechtspraxis Hilfestellung zu bieten (S. 190). Die Betonung rechtlicher Grundbegriffe diene nun der Erstellung eines methodischen Instrumentariums zur Rechtsfortbildung. Neben der Forderung nach Wissenschaftlichkeit (System) wird für die Verfasserin damit das Justizverweigerungsverbot zum zweiten wichtigen Schrittmacher der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert (S. 274f.). Die üblicherweise als Begründer der Rechtstheorie gehandelten Merkel und Bergbohm werden mit einem interessanten Blick auf Bierling nur noch als Annex besprochen (S. 238ff.). Mit Jhering ist der Prozeß der Herausbildung der Rechtstheorie „im wesentlichen abgeschlossen“ (S. 190).

Zwei Ergebnisse der Untersuchung springen in der Zusammenfassung (S. 273ff.) ins Auge. Vor allem wohl mit Blick auf Savigny und Jhering ist die Verfasserin der Ansicht, die Rechtstheorie habe sich „als Theorie der Rechtsgeschichte herausgebildet“. Eine Absage erteilt sie auch den inzwischen ja weithin angezweifelten Thesen, die Rechtstheorie habe sich als „positivistische Theorie“ herausgebildet (gute Begriffsklärung S. 32ff.).

Die anregende Arbeit bietet eine Fülle beachtlicher Ergebnisse. Besonders die Einzelstudien zu den genannten Juristen wären konkret zu diskutieren. Die gezogenen Linien sind dabei lang. Die um 1800 herausgearbeitete Klammer Wissenschaft (System) vereinigt ganz unterschiedliche Systembegriffe, erkenntnistheoretische Positionen, Rechtsstoffe und politische Rahmenlagen. Die Reihe der untersuchten Juristen suggeriert dabei Einflüsse und Kausalitäten, die konkret nicht untersucht werden. Diskurse der Beteiligten gehen dabei verloren. Puchta entwickelte sein System in Auseinandersetzung mit Heise, vor allem aber mit Stahl[5] und Gans[6], bis 1838. Das später erscheinende System Savignys war ihm zuvor nur in Grundzügen, etwa vermittelt durch Pernice, bekannt. Die Zusammenhänge verschwimmen, wenn man in ihm einen bloßen Nachfolger Savignys sieht. Dies wird etwa deutlich, wenn die Verfasserin Puchta unter Verweis auf sein Gewohnheitsrecht (1828, 1837) vorhält (S. 124), er habe es nicht vermocht, Savignys Rechtsinstitutverständnis aufzugreifen und weiterzuführen, welches sie selbst zuvor erst in Band 1 des Systems von 1840 verortete (S. 105f.).

Die Frage, ob es möglich ist, aus dem positiven Recht allgemeine Sätze abzuleiten, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben können, hängt von wissenschaftstheoretischen, insbesondere erkenntnistheoretischen Grundpositionen ab. Hinter der den Debatten um 1800 entnommenen, übergreifenden „Systemperspektive“ rückt in Brockmöllers Linienführung die Tatsache in den Hintergrund, daß die wissenschaftstheoretische Ausgangsposition um 1800 schon bald neuen Grundlagen wich. Der Hinweis der Verfasserin darauf, daß es aus Savignys und Jherings Perspektive einer gesonderten Enzyklopädie nicht bedurfte (S. 154), zeigt, daß ihr die Zusammenhänge mit diesen Wechsellagen im Grundsatz klar sind. Der hegelianischen „Hochflut“ der zwanziger und dreißiger Jahre folgte bekanntlich bald, aber nicht flächendeckend, das „Zurück zu Kant“, welches, den Debatten der Historiker folgend[7], ein ausdifferenziertes wissenschaftstheoretisches Spektrum nach sich zog[8], in welchem Merkel, Bergbohm, Bierling, Binding oder auch Stammler ihre „Allgemeinen Lehren“ einzuordnen hatten. Merkel entwickelte seine wissenschaftstheoretischen Vorstellungen in Auseinandersetzung mit Spencer und Darwin[9], auch Jhering, aber wohl kaum noch mit Puchta oder Hugo. Puchta und Savigny betrieben für Bergbohm wie auch für Zitelmann oder Stammler bekanntlich nur noch „anonymes Naturrecht“, sie taugten spätestens in den achtziger Jahren nicht mehr zum Vorbild. Diese Rechtstheorie bedurfte also anderer, eigener wissenschaftstheoretischer Absicherungen.

Mit diesen wissenschaftstheoretischen Umbrüchen hängt es vielleicht zusammen, daß das Raster empirisch/analytisch, traditionell als Einteilung der Rechtstheorie gebräuchlich[10], auf die „Vorläufer“ Savigny und Jhering, entgegen Brockmöller (S. 274), nicht recht paßt. Savignys Rechtsquellenlehre führte jedenfalls nicht zu einem schlicht induktiven Umgang mit den (römischen) Rechtsquellen, er suchte „das Recht im römischen Recht“ (Wilhelm), arbeitete also „hinter“ der Empirie[11]; auch die von Brockmöller hervorgehobenen Rechtsinstitute waren, wie die Verfasserin sieht (S. 106f.), rechtliche, nicht empirische Kategorien[12]. Jhering suchte auch nach Ansicht der Verfasserin die Strukturen „im und nicht jenseits des positiven Rechts“ (S. 237). Wieso dies dann als „Wende ... zur analytischen Rechtslehre ... unabhängig von der Rechtsquellenlage“ erfolgt sein soll, wird nicht klar[13].

Letztlich bleibt dem Rezensenten zweifelhaft, ob man die Weiterentwicklung einer angenommenen wissenschaftstheoretischen Ausgangssituation durch die Untersuchung einzelner Rechtslehren erkennen kann, ohne die den Kontext dieser Positionen bildenden Debatten konkret zu untersuchen. Brockmöllers Hinweis, daß gerade Savignys Systemvorstellungen und die mit Puchta erarbeitete Rechtsquellenlehre sich in den Enzyklopädien kaum durchsetzte (S. 154), deutet etwa darauf hin, daß die „Bedingungen“ eben nicht mit den beiden Autoren hinreichend erklärt werden können. Die stärksten Passagen der Arbeit liegen nach Ansicht des Rezensenten, nach der gut fundierten Ausgangsposition um 1800, in den kontextorientierten Abschnitten, insbesondere zur Entwicklung von Enzyklopädie und Allgemeinem Teil (S. 137ff.) und zum Umschwung ab 1840 (S. 183ff.).

Jede der Einzelstudien stellt gleichwohl, auch dank der breiten Quellenbasis, eine zu diskutierende und vielfach überzeugende Interpretation dar. Ganz neue Ergebnisse zeichnen sich insbesondere zu Falck, Bergbohm und Bierling ab.

Die Einwände ändern nichts daran, daß der Autorin eine anregende, wissenschaftlich weiterführende und besonders in ihrer Arbeitsdichte beeindruckende Leistung gelungen ist.

Berlin                                                                                                             Hans-Peter Haferkamp



[1] Wieacker, Die Ausbildung einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: FS Michaelis, 1971, S. 354ff.; Wieacker., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 367ff.

[2] Knappe Zusammenfassung in Dreier, Zum Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: FS Klenner (65), 1992, S. 15ff., 17ff.

[3] Vgl. nur S. 42f. mit Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte.

[4] Eine nennenswerte Lücke stellt einzig das für die Systementwicklung im 19. Jahrhundert unverzichtbare Werk von Paolo Cappellini, Systema Iuris, Bd. I, Milano 1984, Bd. II, Milano 1985 dar.

[5] So in der von Brockmöller herangezogenen Vorrede zur 1. Auflage der Pandekten, vgl. hierzu den Brief Stahls an Puchta, in: Koglin, Die Briefe Friedrich Julius Stahls, 1975, S. 129f. sowie Puchta an Savigny, in: Bohnert, Vierzehn Briefe Puchtas an Savigny, 1979, S. 28f; im Vergleich zu Stahl spielten die Rechtsverhältnisse für Puchta bei Savigny in seiner konkreten Systemausführung eine untergeordnete Rolle, vgl. Puchta, Cursus der Institutionen, Band 1 1841, S. 52 Anm. a).

[6] Der Gang der Debatte erschließt sich mit Braun, Gans und Puchta ‑ Dokumente einer Feindschaft, JZ 1998, S. 763ff.

[7] Zu den Zusammenhängen Wittkau, Historismus, 2. Aufl. 1994, insb. S. 80ff., 177ff.

[8] Vgl. Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900, 1998, S. 239ff., 287ff., 301ff. und passim.

[9] Wittkau‑Horgby, Darwin ‑ Spencer ‑ Merkel, in: RJ 1999, S. 270ff.

[10] Etwa Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, in: Dreier, Recht ‑ Moral ‑ Ideologie, 1981, S. 18f.

[11] Zu Savignys Umgang mit den Quellen vgl. die interessante Studie von Hölzl, Savignys Lehre von der unmittelbaren rechtsgeschäftlichen Stellvertretung, in: Thier/Pfeifer/Grzimek, Kontinuitäten und Zäsuren in der europäischen Rechtsgeschichte, 1999, S. 211ff.

[12] Kiefner, Lex Frater a fratre, in: Rechtstheorie 2, 1979, S. 129ff.

[13] Zur häufig unterschätzten Bedeutung des Gesetzes der „Deckung des positiven Stoffs“ in Jherings „höherer“ Jurisprudenz, Geist II 2 § 41, sei auf die Umsetzung seiner Vorstellungen in der Abhandlung zur Übertragung der Reivindicatio auf Nichteigentümer, Jherings Jb. 1 (1857), S. 101ff.; bes. 177ff. verwiesen.