FeesKölzer20000915 Nr. 10008 ZRG 118 (2001)

 

 

Kölzer, Theo, Merowingerstudien I (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 21). Hahn, Hannover 1998. XXII, 161 S., Kölzer, Theo, Merowingerstudien II (= Monumenta Germaniae Historica Studien und Texte 26). Hahn, Hannover 1999. XXXIII, 174 S., 8 Taf.

Die im wahrsten Sinne des Wortes fundamentale Bedeutung diplomatischer Grundlagenforschung für die Geschichtswissenschaft führen die vorliegenden „Merowingerstudien“ von Theo Kölzer uns überzeugend und nachdrücklich vor Augen. Die beiden schmalen, aber inhaltsschweren Bände sind hervorgegangen aus den Arbeiten an der Neuedition der merowingischen Königsurkunden in der Diplomata-Reihe der Monumenta Germaniae Historica, die der Autor nach Vorarbeiten des 1997 verstorbenen Carlrichard Brühl (vgl. auch: C. Brühl, Studien zu den merowingischen Königsurkunden, hg. von Theo Kölzer, 1998) unternommen hat und die mittlerweile in Druck ist. Die langerwartete Neuausgabe wird endlich die ältere, schon bei ihrem Erscheinen im Jahre 1872 als unzureichend und mangelhaft erkannte Edition von Karl A. F. Pertz ersetzen. Die hier zu besprechenden „Studien“, die sowohl einzelne Urkunden wie auch größere Fonds bestimmter Empfänger vorwiegend mit dem Interesse des discrimen veri ac falsi untersuchen, also vor allem Fälschungsfragen klären und in komplexen Fragen notwendigerweise weiter ausgreifen müssen, sollen der Entlastung der Kommentare in der künftigen Edition dienen und sind daher, darauf wird mehrfach verwiesen (I, S. 90, 95), ergänzend und begleitend zu ihr zu benutzen. Das Augenmerk liegt nahezu ausschließlich auf der Merowingerzeit; auch wenn zuweilen deutlich wird, daß eine Untersuchung des Gesamtbestandes an mittelalterlichen Urkunden eines Klosters weitergehende Aufschlüsse bringen, ein erzieltes Ergebnis untermauern oder auch zur Klärung einer nicht restlos geklärten Sachlage beitragen könnte (I S. 2, 143; II S. VII; II S. 156). Solche weitergehenden diplomatischen Untersuchungen wie auch die Einbeziehung der historischen Hintergründe und die erschöpfende Behandlung der rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhänge der einzelnen Urkunden mußte der Autor sich jedoch - schweren Herzens, so scheint es -, versagen, wollte er nicht den Abschluß des Gesamtprojektes, der Edition nämlich, gefährden. Die vorgelegten Ergebnisse sind trotzdem fundamental für jede weitere Auseinandersetzung mit der gesamten Epoche, und sie werden, das darf man ohne Zögern prophezeien, eine Reihe weiterer Studien nach sich ziehen; von manch einer altvertrauten Vorstellung wird man Abschied nehmen müssen, und die Konsequenzen nicht nur für die merowingische, sondern auch für die frühe karolingische Geschichte werden erheblich sein.

Zu den Ergebnissen im einzelnen: Der erste der beiden Bände widmet sich zwei umfangreichen und bedeutenden Beständen, denen der Klöster Stablo-Malmedy und Saint-Bertin, sowie zwei wichtigen Einzelstücken, den Urkunden für die Klöster Corbie und Saint-Maur-des-Fossés (zitiert wird in beiden Bänden, und so auch hier, noch nach der älteren Edition).

Die zehn überlieferten Urkunden des Klosters Stablo-Malmedy - eingeschlossen ist die Gründungsurkunde des Vorgängerklosters Cugnon - bilden nach Saint-Denis und Le Mans einen der umfangreichsten Fonds merowingischer Königsurkunden und wurden bis auf eine Ausnahme (D †77) vom ersten Herausgeber Pertz alle für echt befunden; gerade gegen die Einreihung von D †77 unter die Fälschungen aber wurde von kompetenter Seite (Sickel, Stumpf, Longnon, Halkin/Roland) Einspruch erhoben. Nach den nun vorliegenden grundlegenden Untersuchungen Kölzers muß die Geschichte des Klosters nicht gerade neu geschrieben, aber doch ganz erheblich überarbeitet werden. Zunächst ergibt sich für alle Merowingerdiplome des Fonds, einschließlich der als echt befundenen Stücke, daß sie bereits in der ältesten Überlieferung, der Bamberger Handschrift aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, stark überarbeitet erscheinen; alle enthalten sie Phantasiemonogramme, von denen eines bereits um 830/840 bezeugt ist. Vor allem aufgrund der Einfügung der Monogramme, die den festen Brauch des Monogramms in karolingischer Zeit voraussetzen, aber auch aufgrund anderer Anhaltspunkte kann Kölzer diese erste einheitliche Überarbeitung der Urkunden des Stabloer Fonds der Zeit zwischen 768 und etwa 814 zuweisen. Der Chartularschreiber der Lütticher Handschrift nahm im frühen 13. Jh. zusätzliche, zum Teil sehr gravierende Eingriffe in die Urkundentexte vor. Als Folge dieser mehrfachen Manipulationen sind echte und unechte Elemente in den Texten so dicht miteinander verwoben, daß eine sichere Unterscheidung in vielen Fällen kaum vorzunehmen ist. Von den genannten zehn Urkunden müssen jedoch fünf eindeutig als Fälschungen betrachtet werden, nämlich DD 23, 27, 45, 97 (zu D 97 vgl. auch II, S. 105 Anm. 21) sowie auch D †77; für das Kloster Stablo-Malmedy entfallen also das Abtswahl- und Freiheitsprivileg, die aktiven wie passiven Zollrechte, die Immunität und der Besitz von Germigny. Insgesamt ergibt sich damit eine sehr viel bescheidenere Entwicklung des Klosters. Kölzer kann die älteren Fälschungen den beiden ersten Dritteln der Regierungszeit Ludwigs des Frommen zuweisen, als das Kloster, das unter Pippin und Karl dem Großen keine Urkunden erhalten hatte, dieses Manko offenbar auszugleichen versuchte.

Die acht im Text überlieferten Urkunden des Klosters Saint-Bertin, des zweiten bedeutenden Bestandes, der in Band 1 untersucht wird, waren sowohl von Pertz, dem Herausgeber der Merowinger-Diplome, wie auch von Gysseling/Koch allesamt für echt befunden worden. Auch für diesen Fonds sind die neuen Ergebnisse erschütternd: Als Fälschungen erweisen kann Kölzer DD 39, 56, 92 und 96, als zumindest formale Fälschung D 54. Von den acht Urkunden können sich also nur drei behaupten, DD 58, 90 und 91, die alle die Immunität bestätigen; auch unter diesen als echt erkannten Stücken weisen zwei jedoch Interpolationen auf, D 58 inhaltlicher Art, D 91 in der Adresse. Die Fälschungsaktionen ordnet Kölzer der Zeit nach den Normannenüberfällen zu, etwa der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts.

Die Gründungsurkunde des Klosters Corbie (D 40) müssen wir künftig als eine im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts entstandene Fälschung betrachten; sie stellt eine Verbindung einer umfassenden Besitzbestätigung („Pancarta“) mit der „neuen“ Immunität dar. Offenbar wurden unterschiedliche Schenkungsakte, nicht nur von königlicher Seite, hier zu einer einzigen Urkunde, welche die Grundlage der klösterlichen Existenz Corbies sein konnte, zusammengefaßt. - Schließlich erweist sich D 88 für das Kloster Saint-Maur-des-Fossés als Fälschung, angefertigt vor dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts mit dem Ziel, eine königliche Bestätigung für das bischöfliche Abtswahlprivileg zu schaffen.

Band 2 der „Merowingerstudien“ untersucht 22 Urkunden für eine Vielzahl von Empfängern. Einerseits stehen hier, bei mehreren schon seit langem als zweifelsfreie Fälschungen erkannten Stücken, die Klärung der Entstehungszeit der Fälschung, ihre historischen Hintergründe, Fälschungsmotive, mögliche Vorlagen und Textzusammenhänge im Zentrum der Darstellung (bei D †72 für Ebersmünster, D †91 für Honau, D †90 für Maursmünster, D †42 für Saint-Amand, D †65 für Senones, D †70 für Straßburg, D †32 für Trier, D †31 und D 44 für Weißenburg, D †53 für Klingenmünster und D †30 für Haslach). Andererseits werden aber auch im zweiten Band eine Reihe von bisher für echt erachteten Urkunden als Fälschungen erwiesen, so DD 42, 43 und 46 für Bèze, D 26 für Münster im Gregoriental (während D 30 für denselben Empfänger weiterhin als echt gelten kann), D 95 für Murbach, D 25 für Saint-Amand, D 41 für Saint-Bénigne zu Dijon und D 24 für Speyer; behaupten kann sich dagegen D 28, ebenfalls für Speyer. Bei D 18A für Ferrières besteht sowohl in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht Fälschungsverdacht; Klarheit ließ sich jedoch in diesem Fall nicht erzielen.

Insgesamt, so teilt der Autor als Resümee der langjährigen Arbeiten an der Edition mit, müssen heute rund die Hälfte der durch Pertz als echt bewerteten, kopial überlieferten Urkunden als falsch angesehen werden (S. 93 Anm. 548), und allgemein haben wir bei den Merowingerurkunden von einer Fälschungsrate von über 50 % auszugehen (I S. 2 und öfter).

Nach diesem Überblick über die wichtigsten in beiden Bänden mitgeteilten Ergebnisse kann es nicht mehr verwundern, daß sich aus der Edition ganz erhebliche Konsequenzen für die frühfränkische Geschichte allgemein ergeben werden, denen der Autor selbst demnächst eine Darstellung widmen will, wie er im Vorwort zum 2. Band mitteilt. Man darf darauf mit Recht gespannt sein.

Marburg                                                                                                                    Irmgard Fees